das hättest du auch ohne mich geschafft“, grinste er nun doch. Er hörte ein Rascheln und sah vor seinem inneren Auge, wie John sich gerade mit einem Kleenex trocken rieb.
„Kannst du jetzt wieder klar denken?“, fragte Keno nervös.
Er hörte, wie John an einer Flasche trank. „Ja“, keuchte er befreit, „was willst du eigentlich? Ich denk‘, du verführst meine Schwester. Und was soll sie wissen?“
„Sie weiß von uns“, erklärte Keno und verzog sein Gesicht in Erwartung des nun folgenden Ausrasters.
„Waaas?“ John war fassungslos. „Woher?“
Jetzt kam der Moment der Wahrheit. „Ich fürchte … von mir“.
„NeinNeinNeinNeinNein“, John beruhigte sich überhaupt nicht mehr. „Cat, wie hast du das denn angestellt? Bist du noch zu retten?!“
Keno raufte sich verzweifelt die Haare. „Ich weiß auch nicht. Es hat sich irgendwie ergeben!“
„Es hat sich ergeben?“ Jetzt äffte John ein Mädchen nach.
„Ooh, Keno! Ich bin so verknallt in dich! Küss mich!“ Und jetzt mit tiefer Stimme. „Nein, nein, Darleen. Das geht nicht! Ich küsse nur deinen Bruder!“
„Hör auf!!“, ranzte Keno ihn an. „Ich bin selbst nicht glücklich darüber!“
„Nicht glücklich … VERDAMMTE SCHEISSE!“, brüllte John.
„Jetzt reiß dich zusammen, verdammt nochmal“, befahl Keno fluchend. „Sie ist auf dem Weg nach Hause. Ich folge ihr, damit sie sicher ankommt. Vielleicht fängst du sie ab und redest mit ihr. Glaub mir, sie ist sauer auf mich. Aber sie war cool, als sie in Erwägung zog, dass du schwul sein könntest.“
John heulte auf wie ein Wolf. Dann brüllte er weiter.
„Sie zieht in Erwägung …? Ich kann meiner Schwester nie wieder in die Augen sehen, Mann! Kapierst du das?“
Keno zog die Luft ein, als hätte er sich verbrannt.
„Das heißt also, das Schlimmste auf der Welt wäre, dass irgendjemand – und speziell deine tolle Familie – erfahren könnte, dass du schwul bist, John Garland? Der tolle John. Der coole John. Der John, der immer alles im Griff hat, der sich aber mit dem verschwitzten Hemd seines Freundes einen runterholt? Nein! Ganz klar! Du kannst auf keinen Fall deiner Schwester wieder in die Augen seh’n. Ich bin dir einfach zu peinlich, was?! – Weißt du was? Lüg‘ sie doch einfach an! Dir glaubt sie bestimmt. Aber wenn du das tust, dann kannst du dir jemand anderen suchen, der dir am Telefon eine Wichsvorlage gibt. Du feiges Arschloch!“
Keno war so aufgewühlt, dass er es kaum schaffte, das Gespräch wegzudrücken. Inzwischen hatte Darleen ihr Zuhause erreicht und schloss die Eingangstüre auf.
Keno rannen einige zornige Tränen die Wangen runter. Was sollte er jetzt bloß machen? Bei ihm zu Hause wartete nur sein cholerischer Vater auf ihn. Wie so oft war er auf sich allein gestellt.
Wie konnte er nur alles so falsch machen? Verdammt!
Und tatsächlich war es so, dass John seine Schwester dermaßen anlog, dass sie nicht mehr wusste, was sie denken sollte. Letztendlich glaubte sie John. Sie glaubte ihm alles. Seine ganze – aus den Fingern gesogene – Geschichte.
Dass Keno eifersüchtig wäre auf John’s Erfolge beim Sport und seine besseren Schulnoten. Dass er nicht damit klar käme, dass John und Darleen so eine tolle intakte Familie hätten. Dass er sich ein wenig in John verliebt hätte, aber Darleen – meine Güte, sie müsse doch wissen, dass John auf Mädchen und nur auf Mädchen stehe. Wie sollte er das Keno nur klar machen?! Und dieser billige Trick, Darleen mit ein wenig Anbaggern im Kino auf seine Seite ziehen zu wollen. Das war nun wirklich nicht O. K. John konnte nicht anders. Er schwatzte um sein Leben. Und mit jedem weiteren ketzerischen und verlogenen Satz wusste er, dass er seinen besten Freund, seine große Liebe immer mehr verlor.
In der Schule sprach er nicht mehr mit ihm. Zuerst kam Keno damit klar, da er ja auch sauer auf John war. Doch am Ende der Woche war er dermaßen mit den Nerven fertig, dass er es nicht mehr aushielt. Er schwänzte Tae-Kwon-Do und lauerte John auf, als der nach dem Training das Gelände verließ.
„Hey, warte doch mal!“ Keno hielt John am Jackenärmel fest, während er sich an seine Seite heftete.
„Ich hab‘ keine Zeit! Lass mich in Ruhe!“, ranzte John ihn an und ruckte einmal heftig mit dem Ärmel, um sich aus dem Griff zu befreien.
„Bist du bescheuert?!!“ Keno holte wieder auf. „Was soll das?! Ich ruf‘ seit zwei Tagen ununterbrochen auf deinem Handy an und du rufst mich nicht zurück! Können wir jetzt mal langsam aufhören mit dem Schwachsinn?!!“
John blieb abrupt stehen und starrte Keno an. „Du hast alles versaut!“ Er schubste Keno mit der flachen Hand gegen die Schulter. „Du dummes Arschloch hast alles versaut!“, wiederholte er lautstark.
Keno verzog verwirrt das Gesicht. „Aber … können wir denn nicht mit Darleen reden? Sie würde doch nie was tun, was dir schaden könnte …“
John trat einen großen Schritt auf ihn zu. „Lass … meine Schwester in Ruhe, hast du mich verstanden?! Wenn du es wagst, sie zu belästigen und zu belabern, dann prügel‘ ich dich zu Brei! Ich mach‘ keine Scherze, Cat! Lass die Finger von ihr!“
In Keno’s Augen trat ein verräterischer Glanz. Sein Blick traf John bis ins Herz, doch dessen selbst auferlegtes Saubermann-Image ließ ihm keine andere Wahl.
„Tu das nicht, John!“, flüsterte Keno jetzt verzweifelt. „Du darfst mich nicht opfern für das, was die Leute denken könnten. Die meisten kümmern sich doch einen Scheißdreck drum, was um sie herum vor sich geht. Lass mich nicht allein, John, bitte!“
John holte einmal tief Atem und bevor er schwach werden konnte zischte er Keno zu: „Verpiss dich!“
Stockend atmete Keno ein und aus. Sein Blick senkte sich und er schob seine Hände in die vorderen Taschen. Von einem Moment auf den anderen nahm er wieder die Körperhaltung von früher ein. Unsicher, unglücklich und einsam. Wie ein geprügelter Hund drehte er sich um und ging … langsam, schleichend. Er verstand die Welt nicht mehr. Was sollte er jetzt nur machen? Für ihn brach alles zusammen – sein ganzes Leben. Er war dermaßen auf John fixiert, dass ein Blick in die Zukunft jetzt unmöglich schien. Sein John hatte ihn verraten. Das konnte er einfach nicht glauben.
Auch John drehte sich schnell weg und eilte im Laufschritt in entgegengesetzter Richtung davon. Zuhause in seiner Garage warf er sich auf‘s Bett und heulte sich in den Schlaf.
Das Ende der High School war für Keno eine Erlösung. Er war jetzt knapp neunzehn und beschloss sofort, dieses kleinkarierte Kaff zu verlassen, um im „Texas Language Center“ auf der Uni in Austin, Sprachen zu studieren. Ja, Sprachen … das war sein Ding!
Außerdem war er es leid, John jeden Tag anschmachten zu müssen und Darleens „toten“ Blick zu spüren, der durch ihn hindurch zu blicken schien. Seitdem die beiden für alle anderen Schüler als zerstritten galten, war John wieder ziemlich weit nach oben gerutscht in der Beliebtheits-Skala. Die meisten Mitschüler vermuteten, dass sich die beiden wegen Keno’s offensichtlichem Interesse für Darleen gestritten hatten. Alle hatten großes Verständnis für den älteren Bruder, der seine Schwester vor einem riesigen Fehler bewahren wollte. Keno stellte in ihren Augen nichts dar. Darleen hüllte sich in Schweigen, was ihre Mitschülerinnen natürlich noch verrückter vor Neugier machte.
Keno wurde weitestgehend ignoriert. Seit er bei John in Ungnade gefallen war, war er auch für die anderen nicht mehr interessant.
Keno packte seine paar Klamotten