I. Tame

Zerrissen


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Bei Keno war einfach ein Draht durchgebrannt. Nachdem er den Notarzt gerufen hatte und behauptete, sein Vater sei überfallen worden, war Keno abends noch einmal zu dem kleinen Waldstück spaziert, in dem John und er am Mofa rumgebastelt hatten. Am Rande des Tümpels hatte er die letzte Flasche Fusel seines Vaters geleert und sich dabei die Seele aus dem Leib geheult. Dieser Teil seines Lebens war nun endgültig vorbei. Gott sei Dank!

Aldusblatt

      Sie liefen sich erst knapp zwei Jahre später wieder über den Weg. Es war ein lauer Samstagabend. Keno ging mit einem befreundeten bisexuellen Pärchen aus. Sie schlenderten die Sixth-Street entlang und ließen sich vom Ambiente einfangen. Eine Musikkneipe neben der anderen. Wenn man mitten auf der Straße stand, wussten die Ohren gar nicht, in welche Richtung sie sich orientieren sollten. Im Sommer machte es wirklich Spaß dort entlang zu schlendern. Hier war immer was los. An einem Laden blieben sie stehen, um ein Bier zu trinken. Sie prosteten sich lachend zu und amüsierten sich über die teilweise durchgeknallten Leute, die kreuz und quer über die breite Straße hüpften – oder torkelten; je nach Alkohol-Pegel.

      Dann wurde Keno plötzlich leicht angerempelt. Er drehte sich zur Seite. Der Typ, der ihn versehentlich gestreift hatte, wandte sich ihm zu.

      „Sorry“, ertönte es gleichzeitig.

      Sie verharrten in der sich halb zugewandten Position und starrten sich ungläubig an.

      Tatsächlich – es war John. Er trug die Haare viel kürzer als früher und Keno hätte ihn beinahe wegen seiner Baseball-Cap nicht erkannt. Doch er war es. Er war noch kräftiger gebaut als früher. Meine Güte, er ging fast auf die Einsneunzig zu. Keno fand, dass Johns Gesicht noch schöner war. Seine Gesichtszüge männlicher, seine Augen strahlten hell. Er trug lässige Jeansklamotten mit einem einfachen blauen langen Hemd unter der Jeansjacke. Neben ihm schlenderte ein kleinerer schlanker Typ – die Hände in den Hosentaschen.

      Tatsächlich – das war Cat. John erkannte ihn sofort. Er trug seine Haare zwar ein wenig länger als früher, doch ansonsten war er vom ganzen Typ her gleich geblieben. Die grünen Augen starrten durch seinen langen Pony hindurch und schienen John bis auf den Grund seiner Seele zu erforschen. Er trug lässige schwarze Klamotten; war etwas dünner als früher, doch auch er kam John ein wenig Größer vor. Ein Mädel hing an seinem Arm, was John nicht wunderte. Und auch der Typ schien auf Tuchfühlung zu gehen. Lässig strich er Keno nebenbei über die Schulter.

      Langsam begannen beide zu grinsen.

      „Was verschlägt dich denn nach Austin?“, fragte Keno verwundert und verfiel automatisch ins Deutsche.

      „Ich geh hier auf so ‘ne Privat-Uni“, antwortete John fast beschämt. „Du kennst doch meinen Dad … nur das Beste!“ Er lächelte. „Hätte ich mir denken können, dass du nach Austin gehst. Die Stadt passt zu dir!“

      Keno lächelte ebenfalls. „Und ich hätte gedacht, du gehst nach New York – je größer, je besser!“

      John lachte. „War ich auch, aber so gut hat’s mir dann doch nicht gefallen.“

      Beide verstummten und starrten sich einfach weiter an. Keno presste nachdenklich die Lippen aufeinander.

      „Trinkt ihr ein Bier mit uns?“, fragte er vorsichtig.

      John verzog bedauernd den Mund. „Geht leider nicht. Wir sind auf dem Weg zu ihm. Seine Verwandten fahren morgen in den Urlaub und wollen uns noch einige Dinge im Haus erklären.“

      Keno zuckte die Achseln. „O. k., kein Problem. Dann alles Gute!“ Schon wollte er sich wieder weg drehen, als John ihm eine kleine Karte in die Hand drückte.

      „Ruf mich doch an, Cat, o. K.? Dann geh’n wir ein Bier trinken!“

      Keno blickte auf seine Hand hinab, die John nebenbei streichelte, als er ihm die Visitenkarte zusteckte. Keno nickte und schob die Karte kurzerhand in die Hosentasche.

      Sie sahen sich ein letztes Mal in die Augen.

      „Vergiss es nicht!“, ermahnte John ihn nochmals, winkte kurz und war gleich darauf verschwunden.

      Eine Woche später hatte Keno immer noch nicht angerufen. Er war total unentschlossen, was er machen sollte. Inzwischen hatte er sich in seinem neuen Leben gut zurecht gefunden; hatte neue Freunde und einen Job, mit dem er sich die Uni leisten konnte. Ein bescheidenes kleines Ein-Zimmer-Appartement entsprach seinem Lebensstandard. Es war nicht viel, doch Keno war in der Lage, alle Kosten alleine zu tragen.

      Wenn er sich jetzt mit John verabredete, konnte das sein ganzes Leben erneut auf den Kopf stellen. Er wollte sich nicht wieder so verlieren. Noch mal so hart auf die Schnauze fallen – nein danke!

      Andererseits … John sah so unglaublich gut aus! Und dieses ureigene „John-Gefühl“ hatte sich augenblicklich eingestellt, als Keno die ersten Worte mit ihm gewechselt hatte. Sofort vertraut, sofort geborgen.

      Ich komm‘ nicht von ihm los, schoss es Keno durch den Kopf. Da kann ich machen was ich will. Wenn er sich vorstellte, in Johns Armen zu liegen, wurde ihm direkt heiß und kalt.

      Er schlenderte die paar Schritte zu seiner kleinen Kochnische rüber und schenkte sich einen Kaffee ein. Währenddessen wählte er die Nummer, die er bereits seit einer Woche auswendig kannte.

      Es klingelte.

      „Oh, Gott sei Dank! Bist du das, Cat?!“

      „… Ja …“

      John lachte. „Wie kannst du mich nur eine ganze Woche warten lassen?“

      „Woher weißt du, dass ich es bin?“

      „Ich kenn‘ die Nummer nicht. Das konntest nur du sein! – Hast du wirklich eine ganze Woche gebraucht, um dich zu entscheiden?!“

      Keno schlürfte an seinem Kaffee. „Allerdings! Und ich bin mir immer noch nicht sicher …“

      „Leg‘ bloß nicht auf!“ befahl John schnell. „Tu‘ mir das nicht an! Ich hab‘ die letzte Woche bestimmt nur sieben Stunden geschlafen, weil ich so aufgeregt bin!“

      Keno musste jetzt doch lächeln. „Sehr charmant, was du da so von dir gibst!“

      „Ja, oder? Ich MUSS dich einfach seh’n. Wollen wir uns irgendwo treffen oder soll ich zu dir kommen?“

      Keno überlegte. „Komm zu mir!“ antwortete er schließlich. „Aber mach‘ dir keine übertriebenen Hoffnungen. Ich möchte nur in Ruhe mit dir reden. Du sollst mir ein paar Dinge erklären.“

      „O. k., super!“ seufzte John erleichtert. “Das mach‘ ich, versprochen!”

      Stundenlang saßen sie sich auf Keno’s Bett gegenüber: redeten, lachten, heulten und redeten wieder. Es tat so gut, alle Erinnerungen und Empfindungen miteinander zu teilen und somit vergangene Probleme aufzulösen, dass sie überhaupt nicht mehr aufhörten zu erzählen.

      John berichtete Keno, wie sauer sein Vater darüber war, dass sie sich zerstritten hatten. Er hatte Keno wohl mehr in sein Herz geschlossen, als es den beiden bewusst war.

      Auch Darleen war höchst unglücklich über die ganze Situation. Aber sie hatte ihrem Bruder geglaubt. Inzwischen hatte John ihr alles gebeichtet und ihr gegenüber sein Coming-Out gehabt. Sie war fuchsteufelswild gewesen und hatte ihn sogar geohrfeigt. Nicht dafür, dass er schwul ist, sondern dafür, dass er ihr so wenig vertraut hatte.

      „Wenn sie heute wüsste, dass du hier wohnst, würde sie sofort alles stehen und liegen lassen und hier her kommen!“, versicherte John ihm. „Und zwar auf Knien!“

      Sie lachten und streckten ihre langen Glieder längs nebeneinander auf dem Bett aus. John drehte sich zur Seite.

      „Kannst du mir jemals verzeihen?“, fragte er vorsichtig, während er mit einem Finger kleine Kreise auf Keno’s Unterarm zeichnete. „Wenn ich so zurückdenke an deinen Blick, als ich dich weg geschickt