Gerd Grimm

Die gestiefelte Mütze


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Leck haben, ein großes Leck.

      Tom senkte das Paddel ins Wasser und wendete vorsichtig. So gleichmäßig wie möglich steuerte er zum Ufer zurück. Als erfahrener Sportpaddler wusste er, dass man bei einem leckgeschlagenen Boot jede unnötige Anstrengung vermeiden muss. Als sie noch gute zwei Meter vom Ufer entfernt waren liefen sie schon auf Grund. Das bedeutete, dass der Stiefel mehr als sein Eigengewicht, plus dem Tom’s und der Mütze, an Wasser aufgenommen hatte. Das Loch musste enorm sein. Vermutlich war eine der Nähte undicht.

      Wieder an Land blickten sie sich alle drei fragend an.

      „Was nun?“, fragte Tom schließlich.

      „Am besten, wir kehren um und du schwimmst über den Fluss“, meinte die Mütze nach einer langen Pause. „Ende der Koalition!“

      „Kommt überhaupt nicht in Frage. Koalition ist Koalition, da muss man sich gegenseitig helfen. Für jedes Problem gibt es eine Lösung.“

      Tom trat bestimmt und selbstsicher auf, aber seine Selbstsicherheit stand auf wackeligen Beinen. Nachdenklich blickte er über den Fluss und musste sich insgeheim eingestehen, dass auch für ihn, einen guten Mäuseschwimmer in den besten Mannesjahren, der Fluss reichlich breit war. Zu breit, um ihn einfach zu durchschwimmen.

      Esmaraldus Ottolegs

      Mitten in ihrer größten Ratlosigkeit kam plötzlich der rettende vierte im Bunde daher gehumpelt, ein ehrwürdiger Spinnenmann.

      Er hinkte dermaßen stark, bewegte seine Glieder so langsam und träge, dass man fast meinte, seine Gelenke knarren zu hören. Die drei bemerkten ihn nicht, bis er von hinten an sie herangetreten war und „Gott zum Gruße ihr lieben Wandersleut “, sagte. Die Mütze erschrak heftig, denn sie war es nicht gewohnt, unvermittelt von hinten angesprochen zu werden. Noch Augenblicke nach dem Gruß schüttelte sie sich das Gewebe. Tom dagegen drehte sich einfach um, hob leger die Pfote und sagte: „Hallo.“ Mühsam kroch der leise Wanderer ganz heran.

      „Esmaraldus Ottolegs“, stellte er sich vor und hob unendlich träge eines seiner acht Beine.

      „Thimoteus, Thimoteus Politikus post faktum“, erwiderte Tom und beäugte den Neuankömmling vorsichtig.

      „Mütze und das ist Stiefel“, sprach die Mütze, als sie sich endlich den Schrecken aus dem Gewebe geschüttelt hatte.

      „Angenehm“, sagte Esmaraldus und nickte den beiden zu.

      „Was führt dich an diesen Ort?“, fragte die Mütze.

      Esmaraldus war ein Spinnenmann, der sichtlich Schwierigkeiten mit den Beinen hatte. Er antwortete langsam, mit rostiger Stimme:

      „Ich bin krank, sehr, sehr krank und befinde mich auf dem Weg nach Süden, um dort Erholung und Linderung meines Leidens zu finden. Ein Arzt, den ich konsultierte riet mir, mich in das trockenere Klima des Südens zu begeben. Dort, so sagte er, könnte ich hoffen meine kranken Glieder zu kurieren und wieder meiner gewohnten Tätigkeit nachzugehen.“

      „Welcherart ist deine Krankheit?“, fragte Tom betont politisch.

      „Rheuma. Rheuma in allen acht Beinen.“

      „Rheuma ist übel“, bemerkte die Mütze. „Der Schneider, bei dem ich lange Zeit lebte, hatte einen rheumatischen Kunden mit dickem Bauch und polierter Glatze. Bei jeder Bewegung stöhnte er wie ein alter Kanonenofen. Aber, sag’ mir, wie kommt eine Spinne zu Rheuma?“

      „Im Prinzip wie jedes andere Lebewesen auch, durch Feuchtigkeit. Wie mein Name, Esmaraldus Ottolegs, schon sagt, gehöre ich der Schicht der gehobenen Stubenspinnen an. Esmaraldus ist ein gutbürgerlicher lateinischer Name, wie jede ordentliche Stubenspinne einen trägt. Ottolegs, was in unsere heutige Sprache übersetzt soviel wie der Achtbeinige bedeutet, ist unser Gattungsname. Wir Stubenspinnen stellen ganz besondere Anforderungen an unser Leben, die uns sozusagen von Geburt an mitgegeben werden. Ich sage euch, heutzutage haben es gattungsbewusste Stubenspinnen schwer. Sie müssen eine Stube finden, in der sie ohne Gefahr für Leib oder Leben ihrer Arbeit nachgehen können. Gute Stuben sind in unserer modernen Zeit aber selten geworden. Wo findet man heutzutage noch einen guten Bauernhof, in dessen Küche ein Kachelofen bullert und die Fliegen zwischen Stall und Stube hin und her pendeln. Überall, wohin man auch geht, findet man doppelt verglaste Fenster, eine Dose Insekten-vernichtungsspray im Küchenschrank und trockene Heizungsluft, vor der jede Fliege Reißaus nimmt. Alles steril, alles sauber, viel zu sauber. Ich frage euch, wozu braucht man Insektenvernichtungsspray, wo es doch uns gibt?

      Es war ein hartes Stück Arbeit, bis ich endlich eine geeignete Stube gefunden hatte. Nicht, dass ich mich beschweren möchte, nein, aber wenn ich an meine Jugend und die lange Suche denke, trauere ich ein wenig der guten alten Zeit nach.

      Als Jungspinne ließ ich mich, wie es bei uns üblich ist, an meinem Schwebefaden durch die Welt tragen. Als ich dazu zu schwer geworden war, wanderte ich von Ort zu Ort und suchte nach einem vernünftigen Arbeitsplatz. In allen möglichen Häusern spann ich meine Netze. Angefangen bei einer alten Fischerhütte bis hin zum noblen Bungalow. An die zwanzig Mal musste ich der Gewalt weichen und mein Netz woanders spinnen. In der Fischerhütte, meiner ersten Behausung war es so klamm, dass es einfach keine Arbeit gab. In vielen anderen Häusern wurde ich verfolgt, einmal musste ich sogar durch ein Abflussrohr flüchten und der Bungalow war so hermetisch abgeriegelt, dass sich nicht einmal ein Staubkörnchen darin verirrte. Einmal kam es sogar vor, dass ich eine mittelschwere Vergiftung erlitt, weil ein allzu ängstlicher Mensch wegen einer einzigen Fliege, auf die ich, nebenbei gesagt, schon geschlagene drei Tage wartete, eine halbe Dose Insektenvernichtungsspray im Raum versprühte. Wir Spinnen sind zwar keine Insekten, aber Gift bleibt Gift. Schließlich, nach langer, langer Suche, fand ich doch noch ein geeignetes Haus.

      Ich wurde Stubenspinne in einer Dampfnudelbäckerei. Mein Netz legte ich nahezu unsichtbar inmitten der Backstube an und machte gute Beute. In einer Dampfnudelbäckerei entstehen tonnenweise Abfälle, die zwar größtenteils beiseite geschafft werden, aber an den unzugänglichen Stellen bleiben immer noch große Mengen liegen. Tausende hungrige Fliegen werden von den halbvermoderten Abfällen angelockt und stürzen sich gierig auf die nahrhafte Mehlpampe. In der Backstube war es das ganze Jahr hindurch immer schön warm und deshalb mangelte es mir auch in den kalten Wintermonaten nicht an Arbeit. Und noch einen Vorteil hatte die Backstube: Ein von Menschen gemachtes Gesetz verbietet es Bäckern in Backstuben mit Insektengiften zu hantieren. So konnte ich einerseits sicher sein, immer genug Arbeit zu haben, und wusste andererseits, dass mich kein unachtsamer Mensch aus Mordlust ansprühen würde.

      Kurz, ich wurde fett und rund. Im dritten Jahr begann dann das Malheur. Meine Beine machten mir zu schaffen. Der ständige Dampf in der Luft ist der Tod eines jeden Gelenkes. Zunächst spürte ich ein leichtes Stechen, wenn ich schnell rannte, dann schwollen die Gelenke an, wurden dick wie eine durchgebackene Dampfnudel, und schließlich bekam ich solche Schmerzen, dass ich gezwungen war, einen Arzt zu konsultieren. Ich ging zu Hermanus Daufuß, der Spinne, die seit Jahr und Tag nebenan in der Arztpraxis lebte. Daufuß untersuchte mich sehr, sehr gründlich und meinte:

      „Mein lieber Esmaraldus, ich habe es dir schon immer gesagt, die Bäckerei ist schlecht für deine Gesundheit.“

      „Was ist los? Was fehlt mir?“, fragte ich.

      „Rheumatismus“, meinte er, „Rheumatismus in allen acht Beinen. Ich würde sagen, bei dir ist das eindeutig eine Berufskrankheit.“

      Er empfahl mir aufs dringlichste meine Arbeit aufzugeben und verordnete mir eine Kur im Süden.

      „Seht mich an. Seht wie ich aussehe. Das Gehen mit Rheuma in den Knochen ist eine beschwerliche Sache. Seht mich an, wo ist meine Leibesfülle von einst geblieben? Abgemagert bin ich, bis auf die Knochen, und das Ziel der Reise ist noch lange nicht in Sicht.“

      „Hättest du denn unterwegs nichts fressen können?“ fragte Tom vorwitzig.

      „Also, erstens fressen wir Spinnen nicht, wir nehmen Nahrung zu uns, und zweitens geziemt es sich für eine gutbürgerliche Stubenspinne in gesicherten Verhältnissen