Gerd Grimm

Die gestiefelte Mütze


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die Erde bebt, hat sich gewaltig getäuscht. Volle zehn Minuten dauerte es wohl, bis die Menge sich wieder beruhigte. Schließlich, die Mäusemenge machte immer noch einen schaurigen Lärm, trat der Ratssprecher wieder auf die Bühne, hob kurz die Vorderpfote und augenblicklich kehrte Stille ein.

      „Mäuse, seid vernünftig“, sprach er mit ruhiger, klarer Stimme, „wir wollen den Feind nicht eher wecken, als bis wir zum Kampf bereit sind. Ihr aber weckt mit eurem Getöse die ganze Stadt auf. Geht in Ruhe nach Hause und freut euch, dass wir es geschafft haben, eine Entscheidung zu treffen, die uns auf lange Sicht viel Kummer ersparen wird.

      Und nun zum letzten und endgültigen Punkt:

      Alle tapferen und intelligenten Mäuse, die jung genug sind eine solche Reise zu überstehen, und die sich zutrauen, zu den Menschen zu gehen und von ihnen zu lernen, mögen sich anschließend in der Ratshöhle melden.“

      Die Versammlung löste sich schweigend auf. Minuten später war der Platz wie leergefegt. Nur noch das zertretene Gras ließ vermuten, dass an diesem Ort eine der größten Mäuseversammlung seit vielen, vielen Jahren abgehalten worden war.

      „Ich will es kurz machen“, sprach Tom, „ich bewarb mich neben hundert anderen Mäusen und wurde für den Bereich Politik ausgewählt.

      Schon am nächsten Tag rüsteten wir uns für die lange Reise.

      Die letzten Krümel wurden aus den Vorratshöhlen zusammen getragen und uns als Proviant mitgegeben. Der Rat erteilte jedem von uns streng geheime Instruktionen und zwei Tage später brachen wir in fünf verschiedene Richtungen auf, um nicht zufällig gemeinsam in eine Falle zu laufen.

      Ich sage euch, Politik ist ein schwieriges Geschäft, denn selbst im Privatleben verhalten sich Politiker politisch und sprechen nie das aus, was sie wirklich denken. Man muss in der Lage sein, sich in die Gehirnwindungen eines Politikers hineinzuversetzen um ihn zu verstehen, denn schließlich setzt Lernen Verstehen voraus.

      Es hat einige Zeit gedauert, doch ich sage euch, es ist mir gelungen, hinter die Käserinde zu kommen. Man braucht viel Pfotenspitzengefühl, um sich zwischen all den unnützen Worten zum Kern der Sache durchzuschlängeln.

      - In medias res gehen -, wie der Lateiner sagt.

      Vor meiner Abreise versuchte ich mir einen Plan zu machen, wie ich vorgehen wollte. Im Grunde war der Plan ganz einfach, denn ich sagte mir: Einfachheit zeichnet gute Pläne aus.“

      „Zuerst“, dachte ich, „suchst du den Ort wo Politik gemacht wird, dann gehst du hin und lernst alles, was man über Politik lernen kann.“

      Der Plan ging auf. Er musste aufgehen, einfach wie er war.

      Die Durchführung meines Planes war allerdings weit komplizierter, als ich mir in meinen kühnsten Jung-mäuseträumen vorgestellt hatte. Teil eins meines Planes, festzustellen, wo die große Politik gemacht wird und dorthin zu gehen, war leicht. Nachdem ich einen Tag gewandert war, glaubte ich weit genug von der Stadt des Grauens entfernt zu sein und beschloss, mich bei den Menschen umzusehen. Gegen Abend erreichte ich ein kleines Dorf. In der Dämmerung suchte ich mir ein großes Haus, von dem aus ich mit meinen Nachforschungen beginnen wollte. Die Nacht brach herein und ich schlich durch ein offenes Kellerfenster ins Innere.

      Ach du je, dachte ich, nachdem ich mich gründlich im Keller umgesehen hatte. In jeder Ecke stand mindestens eine Mausefalle. Die Fallen mussten schon seit Jahren dort stehen, denn in einigen der Fallen war der Käse derart vertrocknet, dass er nicht mehr das leiseste Düftchen von sich gab.

      „Wo bin ich hier nur gelandet“, dachte ich. Es hatte ganz den Anschein, als ob die Bewohner ausgesprochene Mäusefeinde wären. Im Allgemeinen ist das bei Menschen nichts Neues, aber die Menge an Mausefallen, und die Tatsache, dass kein einziges Käsestückchen angenagt war, war mir unheimlich. Ich wollte das Haus schon wieder verlassen, um mir einen gemütlicheren Ort zu suchen, als plötzlich die Kellertür aufging und eine Frau, auf Beinen wie dreißigjährige Fichtenstämme, die Treppe hinunterschaukelte. Aus einer dunklen Ecke heraus beobachtete ich die Frau. Ich sah ihr tief in die Augen, sah wie sie ging, wie sie schnaufte. Keuchend blieb sie vor dem großen Kellerregal stehen, fuhr mit dem rechten Zeigefinger die Etiketten der Einmachgläser ab und zog dann ein Glas Sauerkirschen vom vorletzten Jahr heraus. Das Glas unter den rechten Arm geklemmt, mit der linken hielt sie sich am Geländer fest, stemmte sie sich wieder die Treppe nach oben.

      „Tom“, sagte ich mir, „das kann nicht sein. Diese Frau ist keine potentielle Mörderin. Die Fallen sind Abschreckung. In diesem Haus gibt es so viel zu futtern, dass es keine Maus nötig hat an die Fallen zu gehen.“

      Man fand es übrigens früher oft, dass Mausefallen zur Abschreckung aufgestellt wurden. Eine besonders grausame Art der Abschreckung war es, wenn die Menschen eine Mäuseleiche in der Falle hängen ließen, und die dann langsam vor sich hin moderte. Widerlich, sage ich euch, - wiiiderlich!

      Ich habe schon Mäuse kotzen sehen, wenn sie unvermittelt auf so eine Abschreckungsfalle gestoßen sind. Gut, ich beschloss also, bei der nächsten Gelegenheit in die Wohnung zu schlüpfen.

      Kein Problem für mich. In dem Haus gab es weder Katze noch Hund, noch fest verschlossene Türen. Zwei Stunden später saß ich behaglich hinter der Schrankwand des Wohnzimmers. Schlau wie eine Politikermaus sein muss, besorgte ich mir in der Speisekammer rasch Vorräte für die nächsten Tage, so dass ich mein Versteck nicht unnötig zu gefährlichen Streifzügen verlassen musste.

      Die Vorsorge war überflüssig. Schon am nächsten Abend erfuhr ich alles was ich wissen musste. Dazu sollt ihr wissen, dass die Menschen die seltsame Angewohnheit haben, sich abends vor einem Kasten, den sie Fernseher nennen, zu versammeln, um sich vom Geschehen in der Welt berichten zu lassen. Das tat natürlich auch meine Gastfamilie. So erfuhr ich an einem Abend weit mehr, als mein unerfahrenes, junges Gehirn verkraften konnte. Das wichtigste merkte ich mir und verließ das Haus. Natürlich nicht, ohne mich vorher kräftig mit frischem Reiseproviant versorgt zu haben. Ich wanderte gen Berlin.

      Berlin, so heißt die Stadt, in der sie die hohe Politik verkaufen.

      Nach gut einer Woche Wanderschaft gelang es mir, mich einem Obsthändler anzuschließen. Zwischen Salatköpfen versteckt, die voller Würmer waren, wurde ich direkt zur Berliner Großmarkthalle gefahren. Vom Großmarkt zum Parlament, so heißt der Ort der Politik, war ein Jungmäusespiel. Einen Tag trieb ich mich auf dem Großmarkt herum. Übrigens für Mäuse ein sehr, sehr gefährlicher Ort, es wimmelt dort nur so von Katzen und Fallen, sehr, sehr hinterhältigen Fallen. Ich brachte in Erfahrung welcher Gemüsehändler das Parlament belieferte, und sprang auf seinen Kleinlaster.

      An den Toren zum Parlament wurden der Gemüsehändler und sein Beifahrer strengstens kontrolliert. Nahezu zehn Minuten verbrachten die beiden in einem Kontrollhaus. Während dieser Zeit sahen sich auch zwei Uniformierte den Laderaum an und stocherten mit langen Stäben in den Gemüsekisten herum. Was sie suchten weiß ich bis heute nicht. Als sie genug gestochert hatten, nickten sie, sagten „OK“, und gingen.

      Auf eine kleine Maus achtete natürlich keiner.

      Der Gemüsetransporter fuhr durch das gesicherte Parlamentsgelände und hielt an einer Laderampe.

      „Tom“, sagte ich mir, „es ist Zeit dein Taxi zu verlassen.“ Ich hatte nicht die geringste Lust in einem Kühlhaus eingesperrt zu werden. Mit einem Kühlhaus hatte ich in meiner jüngsten Jugend eine innige Bekanntschaft gemacht. Damals duftete es so verlockend und intensiv aus einer offenen Kühlhaustüre, dass ich kurz entschlossen hineinschlüpfte und drei ganze Tage in der eisigen Kälte verbringen musste. Beinahe wäre ich dabei erfroren.

      Einmal und nie wieder, sagte ich mir und sprang vom LKW. Gleich neben der Auffahrt befand sich eine säuberlich gestutzte Hecke. Ich schlüpfte hinein, hockte mich auf ein abgebrochenes Ästchen, verschnaufte ein wenig und dachte über mein weiteres Vorgehen nach. Schließlich war ich nach Berlin gekommen, um Politik zu lernen, und nicht, um in einer Hecke auf einem Ästchen zu sitzen.

      Dass ich ohne Schwierigkeiten in den heiligen Tempel der Politik gekommen war, kam mir nicht in den Sinn. Zu meiner Entschuldigung muss ich wohl sagen, dass ich damals