Gerd Grimm

Die gestiefelte Mütze


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krank ist er nicht“, meinte er nachdenklich. „Er hat, sagen wir, Entzugserscheinungen.“

      „Entzugserscheinungen, das klingt fachmännisch. Bist du Arzt?“

      „Ich? Nein, Politiker, wie mein Name schon sagt.“

      „Woher weißt du dann so sicher, was ihm fehlt?“, fragte die Mütze skeptisch.

      „Um das zu sehen muss man kein Arzt sein“, meinte Tom leicht gekränkt. „Jedes Kind weiß, dass Leder Pflege braucht.“

      Die Mütze äugte Tom schief an. Sie fühlte sich angegriffen von Tom’s spitzem Tonfall.

      „Dass jedes Kind das weiß, heißt noch lange nicht, dass du auch mit deiner Diagnose richtig liegst“, gab sie spitz zurück.

      „Ich habe noch keine Diagnose erstellt.“

      „Verflixt, was fehlt ihm?“

      „Fett“, sagte Tom trocken.

      „Fett?“

      „Ja Fett, oder Schuhwichse, oder Schuhcreme. Ganz wie du es nennen willst. Noch nie etwas von Schuhwichse gehört?“

      „Natürlich - aber.“

      „Was aber?“

      Die Mütze zögerte. Fast wagte sie nicht mehr Tom noch weiter auszufragen. Sie ahnte, dass Tom’s Diagnose voll ins Schwarze traf.

      „Woher bist du so sicher, dass ihm ausgerechnet Fett fehlt?“, fragte sie dann aber doch.

      „Sieh ihn dir an. Sieh dir genau sein Leder an, und du wirst feststellen, dass er vollkommen ausgetrocknet ist. Er ist so trocken wie ein Bündel altes Stroh.“

      Die Mütze rollte ganz nah an den Stiefel. Tatsächlich, überall hatte er Narben und Risse. Am schlimmsten sah es in der Beuge aus. Sie tastete ihn sanft mit den Bommelspitzen ab und war entsetzt über den Befund. In einen Riss konnte sie ihre haarfeinen Bommelfasern bis ins Innere vorschieben. Der Schweißgestank des Schneiders schlug ihr entgegen und es wurde ihr augenblicklich übel. Schnell zog sie den Bommel zurück. Einsichtig nickte sie Tom zu, jedoch nicht, ohne zuvor den Stiefel mit ihrem weichsten Flaum liebevoll gestreichelt zu haben. Das sollte so viel bedeuten wie:

      „Verzeih mir, dass es so schlecht um dich steht, habe ich nicht gewusst. Ich werde in Zukunft immer aufpassen, dass du genug Fett bekommst.“

      Tatsächlich hatte die Mütze bis zu diesem Augenblick nicht die leiseste Ahnung vom Wohlbefinden des Stiefels gehabt. Der Stiefel war ein stiller Geselle. Er lief munter durch die Welt und sprach nur im äußersten Notfall. Die Mütze hatte sich nie um ihn gesorgt, doch nun war das anders. Nun, da sie wusste, wie schlecht es um ihn stand, machte sie sich heftigste Vorwürfe. Ohne Umschweife wandte sie sich an Tom und fragte:

      „Was meinst du, können wir tun? Dem Stiefel muss schnell geholfen werden!“

      Tom ließ sich nicht von den mützlichen Gefühls-aufwallungen mitreißen. Sachlich antwortete er:

      „Im Moment können wir überhaupt nichts für ihn tun. Ich wüsste nicht, wo man hier Fett auftreiben könnte. Drüben, auf der anderen Seite, ja, da kenne ich eine Schusterei. Aber hier?“,

      er schüttelte langsam den Kopf.

      „Ich könnte euch allerdings einen Vorschlag machen“, fügte er leiser hinzu.

      Die Mütze spitzte den Bommel. Irgendetwas gefiel ihr an Tom’s Stimme nicht. Irgendein Misston klang da mit, der sie hellhörig werden ließ.

      „Darf man erfahren, was das für ein Vorschlag ist?“

      Sie wollte genau hinhören, wenn er seinen Vorschlag unterbreitete. Der Mäuserich, der im Smoking durch die Wildnis lief, würdevoll auf Hinterpfoten schritt, der merkwürdig viel über Stiefel wusste und just in dem Moment auftauchte, als der Stiefel bockte, war ihr alles andere als geheuer. Zwar waren Mäuse im Allgemeinen freundliche Wesen, aber die Erfahrung hatte die Mütze gelehrt, dass man Fremden gegenüber immer etwas misstrauisch sein musste. Viel zu oft schon war sie aus purer Gutmütigkeit in die verzwicktesten Situationen geraten.

      „Ihr wollt also nach Süden?“, sprach Tom.

      Die Mütze nickte.

      „Dann haben wir den gleichen Weg. Auch ich muss nach Süden. Auch ich muss über den Fluss. Gehen wir doch einfach gemeinsam. Überqueren wir zusammen den Fluss. Bilden wir eine Koalition. Eine Flussüberquerungskoalition.“

      „Was ist eine Kolatiton?“

      „Koalition“, verbesserte Tom.

      „Na gut. Kaolition. Was ist das?“

      „Koalition“, verbesserte Tom wieder.

      „Ja -“, sprach die Mütze genervt, „was ist eine Koalition?“

      Tom fuhr sich mit der flachen Pfote über den Kopf, richtete die Augen wissend gen Himmel und erklärte:

      „Ach so, ich vergaß. Ihr müsst wissen, ich komme aus der Politik. Die dort üblichen Redewendungen sind mir sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen. Ich benutze sie bei jeder Gelegenheit, ohne lange darüber nachzudenken, ob sie auch angebracht sind. Entschuldigt bitte“, er räusperte sich.

      Die Mütze tapselte ungeduldig mit dem Mützenrand auf den Boden.

      „Eine Koalition ist eine Zweckgemeinschaft, die gegründet wird, um ein ganz bestimmtes Ziel zu erreichen.“

      „Und was für ein Ziel willst du erreichen?“, fragte die Mütze.

      „Na den Fluss zu überqueren. Lasst uns eine Koalition gründen mit Vertrag und allem Drum und Dran. Denkt an das alte Sprichwort: Gemeinsam sind wir stark. Gemeinsam sollte es ein Klacks für uns sein, über den Fluss zu kommen.“

      „Hm“, machte die Mütze.

      „Hm“

      Sie kräuselte die Bommelfäden und dachte angestrengt nach.

      „Hm.“

      „Was hm?“, fragte Tom, der mit hm nicht viel anfangen konnte.

      „Hm -- eine Koalition, schön, sehr, sehr schön. Aber ich frage mich wie?“

      „Was wie?“

      „Wie stellst du dir das vor?“

      Jetzt kräuselte Tom die Schwanzhaare. Bei gestandenen Mäuserichen immer ein Zeichen großer Verlegenheit.

      „Nun ja“, sprach er, „ich denke, dass jeder von uns eine ganz spezielle Aufgabe übernimmt. Jeder nimmt in der Koalition den Platz ein, für den er sich am besten eignet. Im Klartext heißt das, jeder tut das, was er am besten kann, oder was ihm am ehesten liegt. Selbstverständlich müssen sich alle anderen Mitkoalitionäre voll auf die Integrität des Einzelnen verlassen können. Jeder muss jedem blind vertrauen können. Nur so kann eine Koalition zu einem befriedigenden Ergebnis führen.“

      Offensichtlich hatte Tom die Mütze missverstanden. Sie wollte eigentlich wissen, wie er sich die Flussüberquerung vorgestellt hatte. Aber das kleine Missverständnis kam ihr recht. So konnte sie etwas tiefer bohren, ohne ihr Misstrauen allzu offen zu zeigen.

      „Vertrauen sagst du? Blindes Vertrauen? Wie kann ich jemandem blind vertrauen, den ich gerade fünf Minuten kenne? Du sagst, du bist Politiker. Ich verstehe nicht viel von Politik, eher gar nichts, aber alles, was ich von Politik gehört habe, war nicht sonderlich vertrauenserweckend.“

      Tom warf sich in die Brust.

      „Mag sein, dass du Schlechtes über die Politik gehört hast. Das sagt aber nichts über die Personen, die Politiker aus. Ich behaupte von mir, ein guter und vollkommen vertrauenswürdiger Politiker zu sein.“

      „Sag mir bitte eines“, sprach die Mütze, „wie wird eine kleine, graue Maus Politiker?“

      Das war sein Stichwort. Tom überhörte die kleine graue Maus und erzählte.