Gerd Grimm

Die gestiefelte Mütze


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schweigend zu. Sie dachte:

      „Wenn ich schon eine Koalition mit ihm mache, dann will ich wenigstens wissen, mit wem ich es zu tun habe.“

      Der Stiefel schwieg zu der ganzen Angelegenheit. Ihm schwante nichts Gutes. Er ahnte, dass er in der zukünftigen Koalition wohl die Hauptlast zu tragen hatte. Er war kein Redner und im Allgemeinen ist es so, dass man, wenn man nicht redegewandt wie ein bigamistischer Karnickelmann ist, bei der Planung einer Koalition, stillschweigend die Hauptlast zugeschoben bekommt.

      „Was soll’s“, dachte er, ließ sich ins Gras fallen und tat das, was außer Gehen seine Lieblingsbeschäftigung war. Liegen.

      Die Mütze streckte sich ebenfalls behaglich aus und lauschte Tom’s Erzählung.

      Von einer Maus, die auszog, Politiker zu werden

      Nicht weit von hier, am anderen Ufer, liegt unsere Mäusekolonie. Früher einmal zählte sie an die siebentausend Mäuseschwänze. Wir führten ein glückliches, sorgenfreies Leben, heirateten, zogen unsere Kinder groß, wurden Groß und Urgroßväter, kurz, es ging uns gut. Eines Tages, ich erinnere mich noch genau, an einem regnerischen Frühlingstag, war es mit dem Frieden vorbei.

      Ab und zu war es schon immer einmal vorgekommen, dass eine Maus, die frühmorgens zum Essenholen in die Stadt ging, am Abend nicht wieder nach Hause kam. Das war normal, wenngleich es für die Angehörigen, und ganz besonders für die Kinder, sehr, sehr traurig war. Aber niemand machte sich deswegen für das Wohlergehen der Kolonie große Sorgen.

      An jenem Tag aber, ich glaube, es war der siebzehnte des internationalen Mäusekalenders, kehrten abends einundachtzig unserer Mitmäuse nicht in ihre Höhlen zurück. So etwas hatte es seit Generationen, genauer seit den großen Regenfällen im Jahre einundsiebzig, nicht mehr gegeben.

      Was war geschehen? Wo waren sie geblieben? Kinder riefen nach ihren Eltern, Großväter nach ihren Enkeln, Gatten nach ihren Gattinnen und die verliebten jungen Mäuseriche warteten vergebens auf ihre Mäuslein. Die Verwandten der Vermissten nahmen die Kinder in ihre Höhlen und gaben ihnen zu essen.

      Fragen auf Fragen wurden gestellt, doch niemand war in der Lage Antworten zu geben. Am folgenden Tag und in der darauf folgenden Woche verschwanden hunderte von treu sorgenden Eltern. Es war erschreckend. Kaum eine Maus, die sich morgens in die Stadt aufgemacht hatte, kehrte Abends wohlbehalten wieder zurück. Und wenn sie zurückkehrten, stand die nackte Angst in ihren Gesichtern.

      Mäuse gehören zu den arglosesten Geschöpfen unter der Sonne, doch die Angst, spurlos zu verschwinden, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Kolonie. Nach einer Woche des Schreckens wagte sich keine Maus mehr, alleine auf Futtersuche zu gehen. Doch auch Gruppen zu zehnt kehrten oft nur vereinzelt oder überhaupt nicht mehr zurück.

      Allmählich wurde die Lage kritisch. Verängstigt saßen ganze Sippen, oder das, was von ihnen übrig war, in ihren Höhlen und wagten sich nicht mehr vor den Eingang. Zwar lagen in den meisten Höhlen Vorräte für mehrere Tage, so dass man anfangs keinen direkten Hunger zu leiden brauchte, doch niemand hatte um diese Jahreszeit große Vorräte angelegt. Schließlich war der Winter gerade vorbei. Die Vorräte schwanden schnell, und schon hörte man aus einigen Höhlen das klagende Betteln der Kinder nach einem Krümel Käse. Bald kam der Tag, an dem die Säuglinge an den trockenen Brüsten der Mütter saugten. Kein Tropfen kam mehr hervor. Hunger und Angst hatten die Milch versiegen lassen.

      Die Stimmung in der Kolonie verschlechterte sich stündlich. Eltern schrieen ihre bettelnden Kinder an, Gattinnen warfen ihren Gatten vor zu feige zu sein, um Nahrung zu beschaffen, und unter den Nachbarn neidete einer dem anderen das letzte Krümelchen verschimmelten Brotes.

      Drei Wochen waren inzwischen ins Land gegangen, ohne dass es einen Tag ohne Katastrophen gegeben hätte, und noch immer konnte niemand mit Sicherheit sagen, was eigentlich die Ursache für das Mäuseverschwinden war. Das Einzige, was als sicher galt, war die Tatsache, dass die Mäuse in der Stadt verschwanden. Immer häufiger tauchten immer grausamere Geschichten von Verschwundenen auf. Mal waren Mäuse von riesigen schwarzen Untieren gefressen worden, mal waren sie in unendlich tiefe Gruben gefallen, mal waren sie, eingehüllt in eine grüne Gaswolke, elend verreckt. All diese Geschichten hatten nur einen Nutzen, nämlich den, dass die Angst vor der Stadt noch wilder um sich griff. Schließlich, als die Lage auf dem Versorgungssektor die Kolonie in einen Abgrund zu stürzen drohte, trat der Rat der Weisen zu einer Sondersitzung zusammen.

      Der Rat der Weisen besteht aus zwölf mit allen Auszeichnungen versehenen Mäusinnen und Mäusen, die sich in ihrem Leben durch besondere Umsicht und Beschlagenheit im Umgang mit Menschen hervorgetan haben. Das Alter einer Maus spielt im Übrigen keine Rolle, um in den Rat aufgenommen zu werden.

      Volle achtundsechzig Stunden lang tagte der Rat in Dauersitzung. Er lud hunderte von Augenzeugen vor, die angeblich eine Katastrophe mit angesehen hatten und hörte sich ebenso viele Geschichten an. Ratsschreiber notierten die wichtigsten Details der Geschichten und schließlich, nachdem der letzte Augenzeuge gehört worden war, versuchten die Ratsmitglieder, Erdichtetes von Wahrem zu trennen, um so zu einem einigermaßen wahrheitsgetreuen Bild von der Katastrophe zu gelangen. Am Anfang der neunundsechzigsten Stunde trat der Ratssprecher vor die große Ratshöhle und verkündete dort den wartenden Mäusen:

      „Heute Abend, wenn die Sonne das Gras berührt, wird der Rat seine Beschlüsse verkünden. Jede Maus unserer Kolonie, die laufen und hören kann, wird aufgefordert, im eigenen Interesse bei der Beschlussverkündung zu erscheinen. Ort der Verkündung wird das große Weidengebüsch sein. Der Rat ist der Ansicht, dass dies im Augenblick der einzige Ort ist, der die Sicherheit einer solchen Versammlung garantiert.“

      Der Abend nahte, die Sonne senkte sich und alle Mäuse, selbst diejenigen, die nur noch schlecht zu Pfote waren, machten sich auf zum großen Weidengebüsch. Pünktlich zur angegebenen Zeit teilte sich der dichte Weidenvorhang hinter dem erhabenen Verkündigungsplatz und der Rat trat auf.

      Totenstille.

      Selbst die Vögel schwiegen. Fallende Blätter konnte man durch die Luft segeln hören. Der Ratsälteste, eine in Ehren ergraute Maus, trat vor. Er stellte sich auf die Hinterpfoten und hielt ein goldgelbes Kastanienblatt in die Höhe. Mit lauter Stimme las er von dem Blatt:

      „Freunde, Mitmäusinnen und Mitmäuse. Aus uns allen bekannten Gründen wollen wir es kurz machen. In den vergangenen Stunden haben wir alles an Informationen zusammengetragen, uns jede einzelne Geschichte angehört und auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft.

      Die Bilanz ist erschreckend.

      - Mitmäusinnen und Mitmäuse -

      Es ist uns gelungen, herauszufinden, was sich die letzten Wochen ereignet hat!“

      Es folgte eine lange, andächtige Pause. Man sah ihm an, dass es ihm schwer fiel, weiter zu reden. Mit belegter Stimme sprach er dann:

      „Die Menschen haben eine, wie sie es nennen, Offensive gegen uns gestartet. Hunderte unserer Schwestern und Brüder, Väter und Mütter, Kinder und Kindeskinder, haben sie schamlos dahingemeuchelt. Elend sind sie zugrunde gegangen. Und woran? An Gift!“

      Wieder legte er eine lange Pause ein. Ein Raunen ging durch die Menge. Der alte Weise hob die Pfote und gebot Ruhe.

      „Wir können mit Sicherheit sagen, dass vergiftete Lebensmittel ausgestreut wurden“, sprach er weiter.

      „Lebensmittel, die unsere Schwestern und Brüder arglos fraßen. Aus Augenzeugenberichten geht hervor, dass viele unserer Nachbarn Fleisch zu sich nahmen, das von Ferne wie reifer Käse duftete. In Wahrheit war es verrottetes, vergiftetes Aas. Andere fielen auf herumliegende Mandelerbsen herein. Das sind kleine Kügelchen, die wie junge Erbsen aussehen aber nach Mandeln duften. Außerdem gibt es noch Giftbomben, die besonders hinterhältig sind. In allen möglichen Ecken liegen kleine Kapseln herum, die ohne Grund explodieren. Sie enthalten ein tödliches Gift.

      Augenzeugen berichteten, dass man ein leises Zischen hört, und jeder, der nicht schnellstens den Raum verlässt, stirbt einen jämmerlichen, qualvollen Tod.

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