Patrice Parlon

Eine Lüge für die Freiheit


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holte er sie ein. Er packte sie im Nacken und zwang sie in die Aula zurück. Coline sah flüchtig zu Johanna hin. Sie stand ungeduldig am Fenster und hielt die Arme verschränkt. Ihre Finger trommelten verärgert auf die Oberarme. Schnell drehte sich Coline von ihr weg, was sie nur noch zorniger machte. „Setz dich!“ knurrte sie. Coline war der Ernst der Lage bewusst, und doch sträubte sie sich zu gehorchen. Sie versuchte nochmals zu entkommen, bis es Johanna satt hatte. Sie stapfte ihr entgegen und langte nach ihr. Coline wich aus, immer und immer wieder. Plötzlich spürte sie Johannas Hand am Arm. Mit roher Gewalt zwang sie Coline auf den Stuhl und legte die Hände auf ihre Schultern.

      Richter Morgan ließ das ganze Durcheinander kalt. Er begann die Anklageschrift zu verlesen. Dann forderte er Coline auf, Stellung zu nehmen. Doch sie konnte ihm nicht antworten, da sie nur noch an Flucht dachte. Johanna wartete auf eine Antwort und schrie Coline an: „Du sollst sagen, warum du mir mein Leben zerstörst. Was habe ich dir getan?“ Ihre Worte hallten in Coline wieder. Was meinte sie? Es war doch eher umgekehrt. Jede verdammte Minute dachte Coline an Johanna. Wenn sie sie auch nur für einen Moment vergaß, tauchte sie vor ihr auf. Johanna riss der Geduldsfaden. Sie packte Colines Kinn, drehte ihren Kopf gewaltsam in ihre Richtung und stellte wieder die gleiche Frage. Plötzlich überkam Coline ein widerliches Ekelgefühl. Ihr Magen rebellierte. Sie konnte den Brechreiz kaum noch unterdrücken und schon passierte es. Sie würgte unwillkürlich, doch kam nichts heraus. Johanna ließ sie angewidert los. Sie fluchte und versprach, dass Coline diese Tat bitter bereuen würde. Coline glaubte ihr nicht ein Wort.

      Richter Morgan machte es kurz. Er wartete nicht länger auf irgendwelche Ausflüchte. „Coline Trappar, du wirst der schweren Verleumdung für schuldig gesprochen und du bleibst fünf Jahre in dieser Besserungsanstalt. Hier werden dir Werte vermittelt, die du offensichtlich nicht kennst. Du wirst lernen, was Recht und Unrecht ist und du wirst zu einem gesellschaftsfähigen Menschen erzogen. Johanna Köhler wird dafür sorgen, dass du ein anständiger Mensch wirst. Wie sie ihr Ziel erreicht, bleibt ihr überlassen. Aber ich werde die Fortschritte prüfen.“ Coline riss die Augen auf. „Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich kein anständiger Mensch wäre?“ Richter Morgan fragte: „Willst du behaupten, nichts mit den Verleumdungen gegen Johanna Köhler zu tun zu haben? Wir haben einige Beweise.“ Coline schimpfte: „Welche sollen das sein? Alles aus der letzten Verhandlung wurde zurückgewiesen, wie Sie sicher noch wissen.“ Da hakte der Richter ein: „Wir haben alles noch einmal genau geprüft. Das Buch mit deinem Zeichen auf dem Einband ist jetzt Beweis genug.“ Coline wehrte sich entschieden. „Es ist doch eindeutig bewiesen worden, dass jeder dieses Bild haben kann.“

      Johanna rief dazwischen: „Ja! Den Spruch kenne ich. Da ist nur eine winzige Kleinigkeit, die nirgendwo anders zu finden ist. Nur zwei Symbole sind absolut gleich. Das ist deine Tätowierung und das Bild auf meinem Buch.“ Coline schüttelte sich bei dem Gedanken, dass Johanna ihr Leben bestimmen sollte. Kurz entschlossen sprang sie auf und stürmte dem Ausgang entgegen. Sie stieß ihre Faust abermals in Davids Unterleib und zwängte sich vorbei. Coline rannte um ihr Leben. Sie konnte nicht zulassen, dass ihre Albträume wahr wurden. Obwohl sie wusste, dass es schon längst zu spät war, versuchte sie ihr Glück. Sie floh ziellos durch das Gebäude, versteckte sich in einer Nische und hoffte unentdeckt zu bleiben. Leider entkam sie Davids wachsamen Blicken nicht. Hart packte er sie und brachte sie in die Aula.

      Richter Morgan forderte Johanna auf, den Beweis für Colines Schuld zu untermauern. Johanna schaukelte ihr entgegen und gab ihr voller Wonne die Ohrfeige zurück. Sie wandte sich grinsend dem Richter zu. „Hier ist der eindeutige Beweis, dass nur sie als Autor in Frage kommt.“ Derb drehte sie Coline um und riss ihr den Pullover von der rechten Schulter. Coline versuchte sich noch herauszureden: „Das hat gar nichts zu sagen. Das hätte jeder nachmachen können.“ Johanna wies nochmals auf ein winziges Detail hin. „Keiner hätte gewusst, dass dieser kleine Strich in jedem anderen Bild doppelt ist. Außer der, der sie tätowiert hat. Nur auf meinem Buch und auf ihr ist es eine Linie.“

      Das überzeugte den Richter und er fragte Coline: „Willst du irgendetwas dazu sagen? Dir ist hoffentlich klar, dass du die nächsten fünf Jahre in dieser Anstalt bei Johanna Köhler verbringst. Es gibt keine Bewährung, keine Strafminderung, keinen Freispruch. Du musst gehorchen und alle Aufgaben sorgfältig ausführen. Solltest du dich weigern, wird die Strafe verschärft. Wie das geschieht, liegt im Ermessen von Johanna Köhler.“ Coline kam es einem Todesurteil gleich. Sie war nicht bereit ihrer Ex-Lehrerin zu gehorchen und wehrte sich energisch gegen das Urteil. Aber aller Aufstand half nichts. Sie merkte schnell, dass Schweigen gesünder war.

      Johanna machte sich sofort daran, alle Regeln und Verbote vorzutragen. Sie zog einen dicken Papierstapel hervor und begann zu lesen. Sie vertiefte sich so in ihr Referat, dass sie nicht merkte, wie Colines Lider immer schwerer wurden. Sie nickte ein. Sogleich riss sie David unsanft aus dem Schlaf. Coline erschrak und schrie unwillkürlich auf. Johanna fragte: „Hast du alles verstanden?“ Herablassend kam die Antwort: „Was geht’s mich an.“ Johanna verbiss sich das Schreien und befahl: „Schaff sie mir aus den Augen. Ich kann ihren Anblick nicht mehr ertragen.“ Spontan fiel Coline „dito“ ein, und als sie es aussprach, stürmte Johanna auf sie los. Sie holte aus und ohrfeigte Coline so heftig, dass sie ihre Tränen nicht mehr unterdrücken konnte. Coline wollte nicht dulden, dass sie von ihr geschlagen wurde und versuchte einen Gegenangriff. Doch sie verfehlte ihr Ziel. Sofort griff David ein und hielt Coline fest. Sie wollte sich losreißen, aber er ließ ihr keine Chance.

      Johanna grinste nur. Ihre Schadenfreude steigerte Colines Abscheu dermaßen, dass sie auf sie spuckte. Sofort verzog sich ihr Grinsen zu einer verbissenen Fratze. Sie zeigte zur Tür und brüllte: „Raus mit ihr, bevor ich mich vergesse!“ Mit Gewalt beförderte er Coline nach draußen und schob sie über den Gang zu einer Treppe in den zweiten Stock. Oben angekommen nahm er sie mit in eine Wäschekammer. David forderte sie auf: „Zieh dich aus!“ Coline legte ihre Jacke auf den Boden und wartete. David fauchte: „Du sollst alles ausziehen!“ Coline sah ihn ungläubig an und fragte: „Wieso sollte ich?“ Seine Ungeduld wuchs. „Beeil dich, bevor ich nachhelfe.“ Coline zog alles bis auf die Unterwäsche aus und stand reglos vor ihm. David schrie: „Ich sagte alles!“ und riss ihr die Wäsche vom Leib. Entblößt starrte sie ihn an und fragte: „Bist du jetzt glücklich?“ David knurrte nur und warf ihr ein Bündel zu. Es prallte gegen ihre Brust und fiel zu Boden.

      „Zieh das an! Ich warte höchstens zwei Minuten, dann kommst du mit, wie du bist.“ Coline hatte keine Wahl. Sie folgte seiner Anweisung und dachte dabei nur an Flucht. Sie wurde in den Keller gebracht. David sperrte sie in eine schalldichte Kammer, in der wirklich nur eine Person Platz fand. Diese Zelle maß gerade einen mal zwei Meter. Dafür war sie drei Meter hoch. Ziemlich weit oben befand sich ein kleines Loch ohne Glas aber vergittert. Eisige Kälte kam dort hinein. Der schwache Lichtschein aus dem Loch verriet nur wenig vom eigentlichen Aussehen der Kammer. Als Bett dienten eine alte, von Ratten zerfressene Matratze und eine ebensolche Decke. Links neben der Tür ragte ein altes Tonrohr aus dem Boden, welches David lachend kommentierte. „Das da ist deine Toilette. Ich hoffe, dieses Zimmer ist dir genehm, denn es ist das Einzige für dich!“ Krachend fiel die Tür ins Schloss und hüllte Coline in Dunkelheit. Sie wusste, dass es so kommen musste. Sie sah es immer wieder. In ihren Albträumen! Ihr blieb nur noch eine Chance, das Elend zu ertragen. Sie musste alles noch einmal durchdenken.

      Nach langem Überlegen erinnerte sich Coline an einen goldenen Ring. Ihren Albträumen nach, nahm er jeglichen Schmerz von ihr und verhalf ihr zur Flucht. Doch gab es ihn wirklich? Wenn ja, wie sollte sie ihn finden? Sie saß fest. Außerdem konnte er überall sein. Andererseits konnte es auch ein Irrglaube sein, dass ihr ein Stück Edelmetall das Leben rettete. Aber es erfüllte sich schon so viel von den Träumen, dass der Ring keine Lüge sein konnte. Wenigstens besaß sie noch einen Silbernen, der zwar nicht verflucht, aber trotzdem hilfreich war. Er verstärkte die Wirkung des Goldenen. Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, wie viel Wahres in den Träumen steckte. Sie musste es darauf ankommen lassen.

      Die Sonne schob sich vor das winzige Loch. Coline starrte in das grelle Licht und fragte sich, wie sie auf den nächsten Kontakt reagieren würde. Es dauerte nicht lange und David kam Coline holen. Sie schenkte ihm aber nicht die geringste Aufmerksamkeit. Stur starrte sie die Wand an. Er zog wieder ab und schon bald dröhnte Johannas Geschrei durch