Patrice Parlon

Eine Lüge für die Freiheit


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fiel die Tür ins Schloss. Coline brach in Tränen aus. Sie wollte nicht mehr leben. Immer heftiger wurde der Drang nach Selbstmord, doch letzten Endes fehlte ihr ein Funke Mut. Verzweifelt schrie sie nach Hilfe, aber niemand erhörte ihr Flehen.

      Nur wenige Stunden später entriegelte sich die Tür. Sofort kroch Coline in die hintersten Ecke. Johanna trat näher und schwellte die Brust. „Bist du bereit zu arbeiten?“ Coline reagierte nur mit einem kurzen Zucken. Johanna fragte ein zweites Mal, und als wieder keine ernsthafte Zustimmung erfolgte, drehte sie sich um und schlug die Türe zu. In diesem Moment vergaß sie abzuschließen. Etwas später raffte sich Coline auf. Mit letzter Kraft schleppte sie sich aus den Gewölben, um ihre Ringe zurückholen. Allein der Wille trieb sie voran. Unvermittelt hörte sie ein leises Wimmern. Am Ende der Kellertreppe kauerte Martin, ein kleiner Junge, der gerade erst in diese Anstalt abgeschoben wurde. Coline bückte sich und strich sanft über seine Hand. Er hob den Kopf und erschrak. Ihre bleiche Gestalt erschreckte ihn so sehr, dass er schreien wollte. Schnell hielt sie ihm die Hand vor den Mund, um unentdeckt zu bleiben. Coline hielt sich ihren Finger an die Lippen und flüsterte: „Psst! Du weckst sonst alle auf. Komm mit, wir suchen uns was zu essen.“ Der Kleine nickte und folgte ihr. Er stützte Coline so gut er konnte und sie schlichen durch die dunklen Gänge, in denen nur die Notleuchten brannten. Mit etwas Mühe erreichten sie die eigentliche Küche und Coline fiel über die Essensreste vom Abend her. Nach dieser Stärkung schaffte sie die Treppen etwas leichter.

      Immer näher kam sie Johannas Büro. Sie ließ sich von ihrem Gefühl leiten und fand den richtigen Raum. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter. Abgeschlossen! Coline brach einen Stachel aus ihrem Gürtel und benutzte ihn als Dietrich. Nach einigen Fehlschlägen machte es endlich Klick und die Tür war auf. Nun musste sie nur noch ihre Ringe finden. In der Finsternis aber gar nicht so einfach. Einzig das schwache Mondlicht bot etwas Sicht. Sie entdeckte eine Schmuckschatulle und kramte darin. Da blitzte ihr das Gold des einen und auch gleich das Silber des anderen entgegen. Schnell nahm sie beide Ringe an sich und vergaß das Kästchen zu schließen. Sie wollte nur noch weg. Mit schnellen wackligen Schritten eilte sie den Katakomben entgegen. Sie wollte in die Zelle zurück. Dabei verirrte sie sich. Coline betrat einen ungenutzten Teil des alten Klosters. Sie öffnete eine Tür zu einem tiefen Schacht, der viele Meter nach unten reichte. Ihn durchzogen Brücken aus rot lackiertem Stahl, verbunden durch steile Treppen und schmalen Leitern. Sie führten zu vielen verschiedenen Gängen. Coline wagte sich auf das wacklige Gerüst. Schon auf den ersten Blick erkannte sie, dass dies auch ein Labyrinth sein musste. Aber nur in der Tiefe hatte sie eine Chance auf ein gutes Versteck. Zumindest so lange, bis ihr ein geeigneter Fluchtplan einfiel.

      Freund oder Feind?

      Je tiefer sie in das Dunkel eindrang, umso unheimlicher wurde es. Plötzlich stieß sie gegen eine Kiste. Erwartungsvoll hob sie den Deckel und durchwühlte den Inhalt. Sie fand eine Taschenlampe, die sogar funktionierte. Viel Licht brachte sie nicht. Gerade genug, um nicht wieder zu stolpern. Schrittweise näherte sie sich einem Durchgang, der in einen Keller aus Backsteinen führte. Dort angekommen stand sie vor einem schmalen Torbogen mit einem Gitter. Daran hing noch eine dicke Eisenkette mit Vorhängeschloss. Doch sie verhinderte nicht mehr das Eindringen in diesen Gang. Irgendwer musste sich gewaltsam Zutritt verschafft haben. Coline schob das Gitter auf und trat vorsichtig ein. Ab jetzt waren da nur noch feuchte dreckige Gänge und zerfallenes Gemäuer. Es machte den Eindruck, als würde alles jeden Moment einstürzen und doch wagte sie sich weiter hinein.

      Sie versuchte, die Wände nicht zu berühren. Es ließ sich aber nicht immer vermeiden. Sie fand einen Lichtschalter und drückte darauf. Nun sah sie einen kurzen verzweigten Gang, der halb zerfallen und mit Schutt übersät war. Mit jedem Schritt wurde es kälter, erdrückender und unheimlicher. Sie ging weiter und entdeckte ein Lager. Dort stapelten sich alte Matratzen und verschiedene Möbelstücke. Noch ein paar Schritte weiter stand sie in einem langen Gang. Zu beiden Seiten gab es viele Türen und Coline näherte sich der Ersten. Plötzlich hörte sie Stimmen. Viele verschiedene Stimmen. Unwillkürlich zitterte sie, denn sie fühlte sich entdeckt. Als dann auch noch Schritte an ihr Ohr drangen, huschte sie in eine dunkle Nische. Minuten später hörte sie eine Frauenstimme. „Wer von euch hat das Licht angelassen?“ Drei Jungen und ein weiteres Mädchen wiesen jede Schuld von sich. Coline sah um die Ecke. Da stand eine Frau, die nur wenig älter sein musste als sie. Coline schätzte sie auf dreißig Jahre. Diese Frau hatte feuerrotes Haar und eine schlanke Figur. Sie war offensichtlich die Anführerin der Bande. Unachtsam stieß Coline gegen einen Kanister und lenkte so die Aufmerksamkeit auf sich. Sofort schlugen die Fünf an. Sie zogen Coline aus ihrem Versteck und die Rote fragte sie aus. „Wer bist du und was willst du hier?“ „Ich? Ich will gar nichts. Ich habe mich nur verlaufen.“ Skeptische Blicke musterten Coline, während sie der Rotschopf umkreiste. „Du kannst mir viel erzählen. Wie heißt du?“ „Die da oben nennen mich Coline.“ „Was soll das heißen? Ist Coline dein Name oder nicht?“ „Ja, ich heiße so.“ Dann stellte sie sich vor. „Ich bin Nadja.“

      Sie bat Coline, dass sie ihr folgen sollte. Bereitwillig nahm sie an. Der Weg führte durch weitere Gänge, bis zu einem beheizten Raum. Dort hausten sie. So langsam kamen sie ins Gespräch. Nadja wollte einiges wissen. „Du bist bestimmt die Neue! Das Biest hat viel von dir geredet.“ Coline fragte verwirrt: „Welches Biest?“ „Na du weißt schon, die Köhler!“ „Ach du meinst die Ratte.“ „Ratte, Biest! Wo ist der Unterschied? Jetzt sag mir doch erst mal, warum du hier bist.“ Coline versuchte ihr auszuweichen. „Ich? Ich habe nur einen kleinen Fehler gemacht. Wer sind eigentlich deine Mitbewohner?“ Nadja drehte sich ihnen zu und sagte: „Das sind meine Kumpels. Kommt raus. Das ist Steffen, Markus und sie heißt Belinda. Dann ist da noch Sven. Wir sind sozusagen der Abschaum der Anstalt.“ Coline sah sie sich genauer an. Jeder von ihnen schien schon viel Leid erfahren zu haben. Coline fragte: „Warum versteckt ihr euch hier unten?“ Nadja bot Coline einen Platz an und meinte: „Wenn du etwas Zeit hast, dann erzähle ich es dir.“ Gespannt setzte sich Coline auf eine staubige Matratze und lauschte.

      „Es war nicht immer so schlimm wie jetzt. Als ich hierher kam, machten sie sich noch die Mühe uns was beizubringen. Dann tauchte plötzlich dieses Weib auf und alles wurde anders. Es dauerte nur zwei Monate, bis wir gar nichts mehr durften. Sie stellte so viele Regeln auf, dass sich keiner daran halten konnte. Und wenn einer etwas angestellt hat, dann hat sie ihn regelrecht gefoltert.“ Coline wollte Gewissheit und fragte: „Wie hat sie euch bestraft?“ Nadja stand auf und machte ihren Rücken frei. Dann drehte sie ihn Coline zu. „Sieh es dir genau an. Das wird deine Zukunft sein.“ Coline erschrak. Nadjas Rücken färbte sich von Gelb über Rot bis hin zu tiefem Schwarz. Blutergüsse ohne gleichen. Dazwischen verteilten sich blutige Striemen und Narben älterer Verletzungen.

      Nadja fragte: „Kannst du dir das vorstellen?“ Coline wurde bleich. Sie hakte nach: „Was hast du getan?“ Nadja sah sie verwundert an. „Getan? Ich habe gar nichts getan. Ich habe ihre Befehle ignoriert. Es war einfach zu viel. Ich wollte nicht jede Sekunde meines Lebens arbeiten. Ich habe nur einen Trumpf. Kurz bevor ich hierher kam, habe ich meinem Freund über die Schulter gesehen. Er hat hier die Renovierung geleitet. Da habe ich mir auch mal die Pläne ansehen können und daher weiß ich von dem Labyrinth.“ Colines Neugier wuchs. „Und jetzt versteckt ihr euch hier unten? Warum suchen sie euch nicht?“ Nadja schmunzelte ein wenig. „Das hat einen einfachen Grund. Deine sogenannte Ratte fürchtet sich vor dem Labyrinth. Sie behauptet immer, es würde ein Monster in diesen Gängen lauern und es würde alle Eindringlinge zerfleischen.“ Coline fiel sofort der Name zu diesem Monster ein. „Arantino!“ „Was? Woher kennst du diesen Namen?“ rief Nadja erschrocken und Coline lenkte ab. „Habt ihr dieses Monster schon Mal gesehen oder gehört?“ Alle schüttelten die Köpfe. Nadja spürte, dass Coline mehr darüber wusste und fragte: „Woher weißt du von diesem Dämon. Du bist doch grade erst gekommen?“ Coline antwortete trocken: „Sagen wir einfach, dass ich ihn kenne. Ich habe ihn gerufen, wegen mir wandelt er in diesen Gängen.“ Ungläubige Blicke musterten Coline und sie wusste, jetzt musste sie vieles erklären. Coline versuchte wieder abzulenken. „Wenn sich die Ratte nicht hier runter traut, warum holt euch dann nicht ihr Gorilla David?“ Steffen gab ihr darauf eine einfache Antwort. „Bestechung und Gefälligkeiten.“

      Plötzlich