Patrice Parlon

Eine Lüge für die Freiheit


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zerren.“ Trotzdem blieb Coline sitzen. Sie dachte sich, es könne nicht so schlimm werden. Auch wenn sie Johanna allerhand zutraute, so würde es doch nie geschehen?

      Johanna stürmte auf Coline los, packte sie am Zopf und zerrte sie mit aller Kraft zur Tür hinaus. Coline schrie aus voller Kehle. Sie dachte, sie würde ihr die Haare ausreißen. Rücksichtslos beförderte Johanna ihr Opfer in einen kleinen Saal. Dort zwang sie Coline auf einen harten Holzstuhl. Dann tauchte David auf. Sein dunkles kurzes Haar fiel locker über seine Stirn, als er sich nach unten beugte und sie am Stuhl fesselte. Danach stellte er sich hinter sie.

      Johanna ging auf und ab, senkte den Kopf und tat nachdenklich. „Willst du mich wirklich so sehr reizen, dass ich dich bestrafen muss?“ Stur überhörte Coline jedes Wort. Johanna kochte innerlich, denn sie duldete keine Ignoranz. Sie wiederholte ihre Frage, wieder und wieder. Trotzdem bekam sie keine Antwort. Nach endlos vielen Versuchen drohte sie ihr. „Jedes Mal, wenn du dich gegen mich stellst, werde ich eine deiner Lügen wahr machen. Überlege dir genau, ob du das riskieren willst.“ Coline schwieg eisern und musste augenblicklich zurück in ihre Zelle. Sie sollte durch Einsamkeit lernen, wie man sich seinem Vorgesetzten gegenüber zu benehmen hatte. Allerdings störte sich Coline wenig daran. Sie war es gewohnt, allein zu sein. Sie genoss es sogar.

      Irgendwann mitten in der Nacht stand sie auf und starrte durch das winzige Loch in den Himmel. Der Mond wanderte gerade vorüber, als sie leise vor sich hinmurmelte. Coline malte Zeichen in die Luft. Sie kniff die Augen zu und streckte ihre Hand den Gitterstäben entgegen. Immer lauter wurden ihre Worte. „So bring mir das, was ich begehr, bring es mir, hierher.“ Es verstrichen einige Minuten und nichts geschah. Coline sah gebannt nach oben. Sie war sich so sicher, dass es nun endlich so weit sein musste. Sie erwartete, dass der Diener des Ringes erschien und ihr das verfluchte Kleinod brachte. Noch einmal sprach sie ihre Formel, aber wieder passierte nichts. Plötzlich glaubte Coline, dass sie ihre Träume völlig falsch deutete und Johannas Willkür schutzlos ausgeliefert war. Wie sollte sie fünf Jahre unter ihrer Herrschaft überstehen? Für Coline gab es doch nur den Beistand der Ringe und einer dämonischen Bestie. Sie sank nachdenklich auf den Boden, als es zu donnern begann. Harter Regen prasselte auf die Erde und schwemmte den Staub der letzten Wochen durch die kleine Öffnung in ihre Zelle.

      Mit der Morgendämmerung hörte der Regen auf und die Anstalt erwachte zum Leben. David holte Coline aus ihrer Zelle und brachte sie in den zweiten Stock. Dort lernte sie weitere Insassen kennen. Sie alle glichen Automaten. Keiner zeigte auch nur einen Funken eigenen Willen. Sie liefen in Reih und Glied durch die Gänge, von Zimmer zu Zimmer. Sie senkten die Köpfe, als müssten sie sich für etwas schämen. Keiner sagte ein Wort.

      David führte Coline einen langen Gang entlang. Er brachte sie in das hinterste Zimmer. Als er die Tür öffnete, saßen da zwanzig Leute mit gesenkten Köpfen. Sie saßen wie zum Gebet. David schob sie hinein. Als sie den Kopf drehte, erblickte sie Johanna. David befahl: „Geh und setz dich auf deinen Platz.” Doch Coline gehorchte nicht. Weil sie nicht mitging, zog er sie hinein. Mit viel Mühe brachte er sie bis zu einem Platz in der ersten Reihe, gleich vor dem Lehrerpult. Johanna nahm ein dickes Buch und knallte es Coline auf den Tisch. Sie gab ihr einen Block und einen Bleistift. „Du wirst dieses Buch lesen und eine genaue Inhaltsangabe machen. Ich rate dir, es ordentlich zu machen, sonst blüht dir was.“ Coline war nicht bereit, Schularbeiten zu machen. Sie war inzwischen erwachsen. Also weigerte sie sich, auch nur einen Buchstaben zu lesen. David versuchte ihr klar zu machen, was passieren würde, wenn sie nicht tat, was Johanna verlangte. Coline ignorierte seine Warnungen. Sie war nicht mehr geduldig genug, um still da zu sitzen. Ihr reichte es und sie stand auf. Johanna drohte sofort: „Wage dir ja nicht zu gehen. Wenn du diesen Raum verlässt, wird das Konsequenzen haben. Hörst du mich?”

      Coline hörte sie, doch schenkte sie ihr keine Beachtung. Sie öffnete die Tür und ging hinaus. Erst da stürmte Johanna hinterher. Sie schrie durch den Gang: „Du kommst hier sowieso nicht weg! Bewege deinen Hintern sofort zurück oder ich vergesse mich!“ Coline ließ einen Zettel fallen und lief einfach weiter. Plötzlich rannte Johanna. Coline hörte ihre Absätze auf den Fliesen klappern und rannte auch los. Innerhalb von Sekunden wurde es zu einer Hetzjagd durch das Gebäude. Coline wusste nicht wohin und versuchte, sich in jeder Nische zu verstecken. Nicht eine bot genügend Schutz. Wie von Sinnen rannte sie dem Ausgang entgegen, vorbei an vielen bleichen Gesichtern zur Treppe. Voller Angst schwang sie sich die Stufen hinunter und nahm gleich drei auf einmal. Plötzlich versperrte ihr David den Weg. Hinter ihr nahte Johanna. Jetzt musste sie sich schnell entscheiden. Coline wagte die Flucht nach vorn. Sie stürmte auf David los, der lässig einen Schritt zur Seite machte und Coline ein Bein stellte. Im hohen Bogen flog sie auf die steinernen Platten der Eingangshalle. Benommen blieb sie liegen und schaffte es nicht rechtzeitig aufzustehen, um weiter zu flüchten.

      Johanna packte ihren Arm und versuchte sie hochzuziehen. Coline riss sich angewidert los und kroch dem Ausgang entgegen. Verdutzt schaute ihr Johanna nach und warnte sie nochmals. Coline raffte sich auf und rannte hinaus. Dicht gefolgt von Johanna. Doch hatte sie nicht die Kondition, um sie noch einmal einzuholen. Johanna stoppte, denn sie wusste, dass sie nicht weit kam, da ihre Handlanger tagsüber Runden über das Gelände drehten. Also nahm sie erst einmal den Zettel und las unzählige Beleidigungen. Coline hatte die wenigen Minuten genutzt, um Johanna schriftlich niederzumachen. Das ärgerte sie so sehr, dass sie es kaum erwarten konnte, dieses ungehorsame Frauenzimmer in die Finger zu bekommen.

      Inzwischen fand David die Ausreißerin und brachte sie zurück in ihre Zelle, dann berichtete er es Johanna. Sie nahm es wortlos zu Kenntnis und ging böse grinsend in ihr Zimmer. Noch war sie nicht bereit, ihre Drohungen wahr zu machen. Sie wusste nicht, wie sie mit Coline umgehen sollte. Irgendetwas hielt sie zurück. War es Angst, Zweifel oder gar Mitleid? Nichts dergleichen. Johanna konnte sich einfach nicht entscheiden, ob die Strafen aus dem Buch angemessen waren. Also beschloss sie, ihren Schützling erst einmal in der Zelle zu belassen.

      Die ersten Qualen

      Erst nach einer Woche ging Johanna auf den Hof. In ihren Händen hielt sie ein Brett, einen Hammer und einige Nägel. Damit wollte sie das Guckloch vernageln. Coline sollte nicht mehr wissen, ob es Tag oder Nacht war. Als sie das Loch erreichte, schaute sie neugierig hinein, doch sah sie ihre Gefangene nicht. Aus lauter Gehässigkeit griff Johanna nach einem Klumpen Dreck und warf ihn durch die Gitterstäbe. Coline bekam die Ladung ab und fluchte, worauf Johanna in heißes Gelächter ausbrach. Sie genoss Colines Hilflosigkeit. Rasch erinnerte sie sich wieder an die Schmach, die sie ihr bereitete und schon verstummte das Lachen. Die blanke Wut stieg in ihr auf. Mit harten Schlägen vernagelte sie das Fensterchen.

      Coline zwang sich, durchzuhalten. Aber jeder Moment, der etwas Schlaf zuließ, endete in einem Desaster. Coline träumte schlechter denn je. Immer sah sie sich vor Johanna in Ketten liegend. Schmerzen durchzogen ihren Leib. Blut breitete sich ringsherum aus. Schweißgebadet schreckte sie hoch, jedes Mal. Die zweite Woche verging ohne eine Veränderung. Coline saß noch immer in ihrer Zelle. Inzwischen stank es noch bestialischer als zuvor. Ihre Toilette, bestehend aus besagtem Fallrohr, war schwer zu treffen und verströmte diesen widerlichen Gestank. Selbst als sie ihre Decke als Pfropfen opferte, ließ es nicht nach.

      Einige Stunden nach der letzten Essensausgabe öffnete sich endlich die Tür. Ein grelles Licht blendete Coline. Sie vernahm Johannas Stimme. „Steh auf und folge mir in die Küche. Hörst du schlecht? Steh auf!“ Aber sie blieb stur sitzen. Johanna konnte kaum noch an sich halten. Stetig stieg ihr Zorn. Sie packte Coline und zerrte sie aus der Zelle. Coline schrie sie an und wehrte sich mit aller Kraft. Sie wollte einfach nicht mitgehen. Doch Johanna trieb sie gnadenlos durch die dunklen Gänge, bis zu einer Treppe. Sie führte weiter unter die Erde. Stufe um Stufe stolperte Coline hinunter und prallte gegen eine Tür. Johanna hämmerte dagegen und sie ging auf. Mit einem gezielten Schlag in die Nieren beförderte sie Coline durch den engen Eingang. Sie stürzte haltlos zu Boden und schlug sich den Kopf an. Johanna hatte nur ein Paar harte Worte für sie. „Ich bin es leid, dass du mich ärgerst. Das ist deine allerletzte Chance. Du wirst mir gehorchen und eines sollte dir klar sein, wenn du dich weigerst, dann werde ich zu anderen Mitteln greifen.“

      Sie ließ sich nicht einschüchtern. Trotz ihrer