Patrice Parlon

Eine Lüge für die Freiheit


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und der Fremde war wieder verschwunden. Plötzlich flog die Tür auf. Johanna stürmte herein und packte Coline an den Haaren. Wutschnaubend starrte sie ihr ins Gesicht. Der erste Blickkontakt seit Jahren! Dieser eine Blick jagte grauenhafte Erinnerungen durch Colines Hirn.

      Johanna schrie wie eine Furie: „Du elendes Miststück, was hast du getan?“ Coline begriff nicht, worum es eigentlich ging. Da stolperte David atemlos zur Tür herein. Er versuchte Johanna von Coline loszureißen, doch ihre Finger bohrten sich so fest in ihren Hals, dass es ihm unmöglich war. Coline keuchte: „Was hab ich denn gemacht?“ Da kehrte ihr Johanna den Rücken. Coline erschrak, denn Johanna blutete aus Wunden, die nur ein ganz bestimmtes Tier verursachen konnte. Somit stand fest, dass es den Dämon gab, und ebenso alles andere aus ihren zahllosen Albträumen.

      Coline beteuerte ihre Unschuld, doch Johanna gab nicht nach. Sie schleuderte Coline in Davids Arme, der sie durch die Gänge in die Folterkammer zerrte und auf den Tisch fesselte. Mit dem Rücken nach oben. In voller Rage griff Johanna nach einer ganz besonderen Peitsche. Nach der NSDK! Diese Abkürzung bedeutete so viel wie NeunSchwänzige DornenKatze. Da Johanna fest daran glaubte, dass Coline das Buch geschrieben hatte, sollte sie genau diese Peitsche spüren. Denn sie entsprang der Fantasie des Autors. Es war eine Peitsche mit neun bleistiftdicken Strängen und jeder Einzelne mit einhundert Dornen bestückt. Damit wollte sich Johanna abreagieren. Sie holte aus und schlug zu. Coline schrie so laut, dass sich David die Ohren zuhalten musste. Johanna wollte zum nächsten Schlag ausholen, doch die Peitsche hing fest. Die vielen Dornen krallten sich regelrecht in sie hinein. Johanna rupfte die NSDK aus der Haut ihres Opfers und Coline brüllte aus voller Kehle. Sofort quoll das Blut aus der zerfetzten Haut. Jedoch schreckte es Johanna nicht ab. Sie machte blindwütig weiter. Immer wieder sausten die Bänder nieder und rissen Coline das Fleisch vom Leib. Schnell verlor sie das Bewusstsein und glaubte dem Fremden zu begegnen, der ihr eine Frage stellte. „Bist du bereit, ihn dir zu holen?“

      Endlich ging David dazwischen und entriss der wilden Furie die NSDK. Zornig stieß er sie gegen die Wand. „Es reicht! Sie zuckt nicht mal mehr. Vielleicht ist sie sogar tot.“ Erst da besann sich Johanna auf ihre Tat. Doch bereuen wollte sie keinesfalls. Mürrisch verschwand sie. David prüfte, ob Coline noch lebte. Er suchte nach ihrem Puls. Ganz schwach klopfte es unter ihrer Haut. Plötzlich riss ihn jemand weg. Er versuchte sich dem Angreifer zuzuwenden, doch es gelang ihm nicht. Er zerrte ihn aus der Kammer, ließ ihn fallen und verschwand ehe er den Blick wenden konnte. Sogleich schlug die Tür zu und wurde von innen verriegelt. David versuchte hineinzugelangen. Er erkannte, dass er allein nichts ausrichten konnte. Also brauchte er seine Kollegen.

      In der Kammer vollzog sich ein Akt der Auferstehung. Der Eindringling hieß Arantino und war Colines lang ersehnter Dämon. Auch der seltsame Fremde tauchte wieder auf. Er trat an sie heran und strich ihr durchs Haar. „Du musst dich entscheiden. Einmal zugesagt heißt, diese Schmerzen kaum noch zu spüren.“ Coline kam nur langsam zu sich und wollte mehr über ihn erfahren. „Wer bist du?“ „Ich? Ich bin seit der Entstehung des Lebens da und werde als Letzter gehen.“ Coline sah in ratlos an. „Was soll das heißen? Was willst du von mir?“ Er reichte ihr die Hand. „Komm mit mir und ich werde dich vor Johanna beschützen.“ Coline traute ihm nicht über den Weg. Doch welche Alternative blieb ihr? Sie musste sein Angebot annehmen. Also fragte sie ihn, was er verlangte. „Du gibst mir das, was noch dein Eigen ist. Deinen Tod! Dafür nehme ich alle Schmerzen von dir, bis du dich zu sterben traust.“ Ihre Verwirrung stieg, denn seine Worte bedeuteten, dass sie um ihre Gefangenschaft keinesfalls herumkam. Dennoch schlug sie ein und er verriet ihr die Geheimnisse des alten Klosters. Auch überreichte er ihr den goldenen Ring, der den Fluch ihrer steten Albträume in sich trug. Nun lag es an Coline, den letzten Schritt zu tun und den Fluch zu besiegeln. Dazu brauchte sie den Ring nur noch an den richtigen Finger zu stecken und der Rest ergab sich von ganz allein. Coline wagte es und augenblicklich durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Sekundenschnell war er vorbei und die Peitschenhiebe waren vergessen. Nun trat Arantino in Aktion. Er wollte seiner Herrin helfen und sie von den Schmerzen befreien. Sanft leckte er ihre Wunden, die unverzüglich zu heilen begannen. Er durchschnitt mit seinen messerscharfen Zähnen die Ketten und verschleppte Coline in das Labyrinth unter dem Kloster.

      Mit dem Moment, als sie verschwanden, entriegelte sich die Tür. David stürmte mit seinen Kollegen hinein und erstarrte. Jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als zu Johanna zu gehen und zu beichten. Zaghaft überbrachte er die Botschaft. Doch statt mit ohrenbetäubenden Kreischen, reagierte Johanna mit einem gleichgültigem Schulterzucken. David verstand die Welt nicht mehr. Noch vor wenigen Stunden hätte sich Johanna maßlos über Colines Verschwinden aufgeregt und nun ließ es sie völlig kalt. Im nächsten Moment donnerte etwas gegen die Tür. Maxwell, der Direktor stand da. Wütend trat er gegen das massive Holz. „Wenn ihr schon solchen Mist verzapft, dann behaltet es wenigstens für euch. Ich dulde nicht, dass dieses Weib alle anderen in Angst und Schrecken versetzt.“ Johanna wusste nicht, was er meinte und fragte nach. Maxwells Arm schnellte nach vorne und wies auf den Ausgang. „Geh und guck dir an, was ich meine.“ Coline lag halb entblößt auf dem Hof. Um sie herum versammelten sich viele der Insassen und begafften den geschundenen Leib. Keiner wagte es, sie zu berühren. Schon brüllte Johanna aus dem Fenster: „Verschwindet! Hört ihr nicht? Verschwindet in eure Klassenräume!“ Sofort löste sich die Menge auf, denn keiner wollte an Colines Stelle liegen. Als die Schaulustigen endlich verschwunden waren, ging Johanna zu ihrem Opfer. Hart packte sie zu und zerrte Coline in die Höhe. Schon sah sie den goldenen Ring aufblitzen. „Seit wann hast du den? Gib ihn her! Du brauchst keinen Schmuck.“ So schnell verlor Coline ihren Schutz.

      Gnadenlos scheuchte Johanna Coline über den Hof, eine kleine Böschung hinunter zum See hinter dem Hauptgebäude. Dort wartete David in einem Boot. Gemeinsam schipperten sie zum anderen Ufer, wo eine Überraschung auf sie wartete. Coline überkam eine panische Angst, als der Kahn am Ufer ankam. David griff nach Coline und schleuderte sie auf den Kies. Schnell zog er sie wieder hoch. Mit Schlägen trieb er sie in eine Höhle. Darin gab es viele Wege und ein beinahe undurchdringliches Labyrinth. Coline betrat diese Gänge nie zuvor und trotzdem kannte sie sich so gut aus, als lebte sie nie woanders. In einem achtlosen Moment riss sie sich los und verschwand im Gewirr der Gänge. Johanna fluchte. Sie glaubte Coline nun nie wieder zu sehen, denn wer einmal einen anderen Weg einschlug, musste ihn bis zum Ende gehen, wenn er nicht unendlich leiden wollte. Die beiden Peiniger gingen ihren Weg weiter und warteten geduldig auf Coline. Wenn sie strikt einem Pfad folgte, kam sie zum selben Ort. Auch Coline wusste das, und da sie blind durch die Dunkelheit stolperte, musste sie sich mehr denn je auf ihr Gefühl verlassen. Es gab nur eine Chance, ohne weitere Schmerzen durch das Labyrinth zu kommen. Diese nannte sich Arantino. Er musste ihr helfen und zwar schnell. Coline rief ihn so laut sie konnte und er kam. Sie schob sich mühevoll auf seinen Rücken, im Glauben, dass er sie herausbringen würde. Doch er trug sie dorthin, wo Johanna schon sehnsüchtig wartete.

      Arantino stoppte in einer Sackgasse. Coline tastete sich an der Wand entlang bis zu einem steinernen Gebilde, das sich als kleines Kreuz entpuppte. Es hatte eine Vertiefung in der Mitte, den Mechanismus zum Türöffnen. Doch Coline brauchte den goldenen Ring dazu. Nun stand sie da und wusste nicht mehr weiter. Arantino konnte ihr diesmal nicht helfen. Zurück gehen konnte sie auch nicht, denn sie hatte ihr Ziel noch nicht erreicht. Was nun? Plötzlich schoss ihr ein schrecklicher Gedanken durch den Kopf. Selbst wenn sie die Tür passieren konnte, so musste sie trotzdem leiden. Ob sie nun von Johanna gepeinigt würde oder von irgendetwas anderem wäre egal. So fasste sie sich ein Herz und versuchte wieder hinauszukommen. Nur wie? Sie sah ja nichts. Wie sollte sie den Weg finden? Coline lief einfach los. Sie würde schon irgendwo ankommen.

      Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang und an jeder Kreuzung lief sie eine Runde. Auf diese Weise erkannte sie den richtigen Weg, denn vor jedem Torbogen befand sich eine tiefe Gravur im Boden. Je ein bestimmtes Symbol zeigte das Ziel. Sie musste sich eines auswählen und diesem bis zum Ende folgen. Leichter gesagt als getan. Schritt für Schritt schob sie sich weiter und siehe da, es funktionierte. Langsam erhellte sich der Schacht und Coline erreichte den Ausgang. Doch bei all der Freude übersah sie eine winzige Kleinigkeit. Johanna, die ungeduldig mit dem Fuß wippte! Ihr Arme hielt sie verschränkt und die Fäuste geballt. Coline versuchte erst gar nicht wegzulaufen. Sie wusste, es wäre zwecklos. Schon packte David zu. Mit grober Hand quetschte er ihre Oberarme und zerrte sie