Patrice Parlon

Eine Lüge für die Freiheit


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und sank zurück auf den Boden. Es vergingen Stunden und Coline plagte der Hunger, doch sie wagte sich nicht an den Teller heran. Sicher hatte Johanna irgendeine Gemeinheit vor. Vielleicht ein Abführmittel oder Ähnliches.

      Gegen Mittag drangen Motorengeräusche an ihr Ohr. Das kleine Loch in der Mauer gab ihr kaum Möglichkeit, mehr darüber zu erfahren. Sie hörte nur Autotüren knallen und eine Männerstimme, die sagte: „Ich bin Inspektor Georg Van Dörren und möchte zur Anstaltsleitung. Es geht um eine Coline Trappar.“ Nun wurde Johanna auf eine harte Probe gestellt. Sie durfte kein falsches Wort sagen. Blitzschnell legte sie eine andere Miene auf und lief den beiden Männern in den dunklen Anzügen freudestrahlend entgegen. Aufgeregt schüttelte sie ihnen die Hände. Doch der gewünschte Effekt blieb aus. Unbeeindruckt zog einer den Brief eines anonymen Informanten aus der Tasche und überreichte ihn Johanna. Sie sah ihn skeptisch an und faltete das Blatt auseinander. Ihre Blicke überflogen die Zeilen und sie murmelte den Text. „Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe in einer Erziehungsanstalt fürchterliche Zustände vorgefunden. Dort werden die Schützlinge körperlich und seelisch gefoltert und sie tragen viele Wunden davon. Vor allem eine junge Frau leidet unter diesen Misshandlungen. Sie wird täglich grundlos verprügelt. Das geht so weit, dass sie bewusstlos und blutüberströmt zurückgelassen wird. Ich bitte Sie inständig, diese Unmenschen festzunehmen. Glauben Sie mir! Der Name des Hauptopfers ist Coline...“ Johanna wurde blass. Sie sah sich schon hinter Gittern und versuchte sich herauszureden. „Was soll das bedeuten? Ich kenne keine Coline.“ Misstrauisch trat der eine an sie heran. „Das wird sich zeigen. Wir möchten uns hier genauer umsehen. Wo finden wir den Verantwortlichen?“ Johanna suchte nach einer Ausrede. „Der Direktor hat zurzeit eine Besprechung.“ „Könnten Sie ihm bitte ausrichten, dass er sich ein wenig beeilen möchte.“ Johanna atmete tief durch. „Ich sehe mal, was ich tun kann.“

      Kaum war sie gegangen, diskutierten die Inspektoren miteinander. „Sag mal, ist dir aufgefallen, wie nervös diese Frau ist? Ich möchte gar zu gern wissen, von wem die Information stammt. Kannst du dir vorstellen, dass es hier Leute gibt, die jemanden foltern?“ „Gibt es irgendwelche Beweise?“ fragte sein Kollege. „Noch nicht, aber ich werde diesen Fall weiterverfolgen.“

      Keine Minute später kam Johanna zurück. Sie schien noch nervöser als zuvor. „Der Direktor ist bereit, Sie zu empfangen.“ In Maxwells Büro herrschte eine angespannte Stille. Man sah ihm an, dass er etwas zu verbergen hatte. Allerdings versuchte er davon abzulenken. Die zwei Beamten traten näher. Maxwell kam ihnen gleich entgegen. „Guten Tag! Ich bin Maxwell Zorgett, der Leiter dieser Einrichtung. Was kann ich für Sie tun?“ „Mein Name ist Georg Van Dörren. Darf ich ihnen meinen Kollegen Frederic Hansen vorstellen? Aber genug der Förmlichkeiten. Sie wissen, warum wir hier sind? Ihnen ist doch sicher bekannt, dass Sie angezeigt wurden, oder nicht? Haben Sie von den Vorwürfen gehört?“ Maxwell versuchte Ruhe zu bewahren. „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ Hansen schob die Augenbrauen zusammen. „Hören Sie, wir sind nicht hier, um uns veralbern zu lassen.“ Maxwell stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Er sah zu Johanna rüber. Sie warf ihm aber nur einen strengen Blick zu und schüttelte drohend den Kopf. Maxwell wandte sich den Inspektoren zu. „Könnten Sie mir endlich sagen, worum es hier eigentlich geht? Ich kann nicht den ganzen Tag mit Rätsel raten verbringen.“ Van Dörren sagte grimmig: „Sie können mir nicht weismachen, dass Sie unseren Brief nicht erhalten hätten. Aber offensichtlich wollen Sie es einfach nicht zugeben. Also dann! Uns wurde mitgeteilt, dass einer ihrer Schützlinge stark misshandelt wird. Angeblich foltern Sie ihre Insassen! Was haben Sie dazu zu sagen?“ „Wer behauptet so etwas?“ konterte Maxwell. Van Dörren wurde langsam böse. „Das ist doch jetzt völlig egal! Vielleicht sollte ich für eine Weile hier bleiben. Dann kann ich genau prüfen, ob die Anschuldigungen stimmen.“

      Maxwell versuchte alles, um die Beiden wieder loszuwerden. „Ich weiß nicht, was das soll. Warum sollte ich Sie hier einquartieren? Glauben Sie allen Ernstes, dass wir Menschen foltern? Ich halte das für einen üblen Scherz.“ Van Dörren gab aber nicht nach. „Wenn das so ist, dann haben Sie doch nichts zu befürchten. Ich werde ja auch nicht lange bleiben. Vielleicht eine Woche.“ Maxwell konnte ihn nicht umstimmen. Also ließ er ein Zimmer im obersten Stock herrichten. Die beiden Männer packten ihre Sachen aus und Van Dörren ging wieder zurück zu Maxwell. Dicht gefolgt von Johanna. Sie wollte ihn keine Minute aus den Augen lassen.

      Zurück im Büro verlor Van Dörren keine Zeit. „Ich möchte alle Akten sehen. Vielleicht finde ja das sogenannte Opfer. Oder sagen Sie mir gleich, wo Coline ist?“ Johanna platzte fast der Kragen. „Hören Sie nicht zu? Wir haben hier niemanden, der so heißt.“ Van Dörren sah ihr tief in die Augen und für einen Moment fühlte sich Johanna entlarvt. Nochmals forderte er, Coline zu sehen. Johanna beteuerte, dass es keine Coline und auch keine Opfer in diesem Haus gab. Da tauchte die nicht Existierende plötzlich im Hof auf. Ein schauderhafter Schrei lenkte die Aufmerksamkeit der Inspektoren auf sie.

      Van Dörren verzog sein Gesicht zu einer vorwurfsvollen Miene. „Wer ist das da unten und warum läuft sie so krumm?“ Johanna sah aus dem Fenster und wurde immer farbloser. Sie rätselte, wie es möglich war, dass Coline dort unten stand. Sie war sich sicher, dass alle Schlösser der Zelle verriegelt waren. Sie schaute nervös in das Gesicht des Inspektors und dann gleich wieder zurück. Plötzlich war Coline verschwunden. Langsam zweifelte Johanna an ihrem Verstand. Dann tat sie verwundert. „Wen meinen Sie? Ich sehe niemanden.“ Inspektor Van Dörren schaute noch einmal hinaus. „Da unten stand eben noch eine Frau, auf die Colines Beschreibung passt.“ Johanna zuckte unwissend mit den Schultern. Sie ließ die Männer allein, um kein falsches Wort zu sagen.

      Sogleich führte Maxwell die Inspektoren zu den Akten. Ungern ließ er sie unbeaufsichtigt, aber er musste seinen Pflichten nachkommen. Van Dörren begann unverzüglich, die zahllosen Ordner zu wälzen. Währenddessen stürmte Johanna in ihren Überwachungsraum und sah nach Coline. Doch ihre Kamera versagte. Johanna holte die Schlüssel und versuchte so schnell wie möglich in die Katakomben zu gelangen. Sie nahm gleich mehrere Treppenstufen auf einmal und stand augenblicklich vor der Zellentür. Verzweifelt versuchte sie alle Schlösser zu öffnen. In ihrer Hast erschien es ihr wie Stunden, bis das Erste aufsprang. Sie stocherte in jedem herum und endlich klickte auch das Letzte. Sie riss die Tür auf und leuchte mit einer Taschenlampe in die Dunkelheit.

      Coline lag leichenblass, ganz ausgestreckt auf dem Bauch und rührte sich nicht. Johanna fragte sich, ob sie tot war. Mit einem kräftigen Tritt gegen den Fuß ihres Opfers, verschaffte sie sich Gewissheit, dass Coline noch lebte. Ein kurzes Brummen ertönte und sie zuckte ein wenig. Johanna schlug die Tür wieder zu, indem tippte ihr jemand auf die Schulter. Entsetzt drehte sie sich um und leuchtete ihrem Gegenüber ins Gesicht. Verblendet kniff Andreas die Augen zu. „Sie werden langsam ungeduldig. Gehen Sie wieder hoch, sonst kommen die hier runter.“ Johanna fauchte zornig und vergaß abzusperren. Auch Andreas achtete nicht darauf, denn Coline war nicht in der Verfassung zu fliehen. Dennoch spielte sie mit dem Gedanken auszubrechen. Kurz darauf stemmte sie ihren geschundenen Leib nach oben. Sie fühlte sich tonnenschwer, obwohl sie nur noch Haut und Knochen war. Mit letzter Kraft schleppte sie sich aus der Zelle und schob sich die Gänge entlang.

      Johanna dachte nicht im Traum daran, dass Coline ihre Zelle verlassen könnte. Doch Coline gelang das schier Unmögliche. Sie schwankte zwar, aber sie entkam den Katakomben. Immer heftiger wurden die Schmerzen beim Gehen. Coline blieb stehen und krümmte sich leicht nach vorne. Ihr quollen die Tränen aus den Augen und sie brach zusammen. Im gleichen Augenblick trat Andreas an sie heran. „Wo willst du hin? Du bleibst schön hier.“ Coline nahm allen Mut zusammen. „Ihr werdet nicht damit durchkommen. Niemals!“ Er grinste sie hämisch an und schob sie zurück in ihre Zelle. Er stieß sie hinein und warf die Tür zu. Dann sorgte er dafür, dass sie keine weitere Chance zur Flucht bekam.

      Indes stattete Johanna den Inspektoren einen Besuch ab. Beinahe gleichgültig bat sie die Herren mitzukommen. Sie führte sie aus dem Gebäude, dann einen schmalen Pfad entlang, bis zu einem Felsvorsprung. Sie zeigte ihnen ein verwildertes Grab, dessen Kreuz als Inschrift den Namen Coline trug. Demnach lag sie schon ein halbes Jahrhundert dort. Van Dörren runzelte die Stirn, denn er wollte einfach nicht glauben, dass der Brief eine Täuschung war. Am Abend verschwanden die beiden Inspektoren in ihrem Zimmer. Van Dörren wünschte Johanna ironisch eine gute Nacht,