Patrice Parlon

Eine Lüge für die Freiheit


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      Ein letztes Mal für diesen Tag ging Johanna in die Katakomben. Sie schaute sich immer wieder um, denn sie fürchtete die Inspektoren. Schritt für Schritt näherte sie sich den Zellen. Plötzlich überkam sie ein eisiger Schauer, gefolgt von einem Schrei. Die Zellentür! Sie stand weit offen und Coline war weg. Einzig eine Blutspur glänzte auf dem dunklen Steinboden. Johanna erkannte nicht, dass sie an der Zelle vorbei führte und nicht aus ihr heraus. Coline wollte offensichtlich nicht freiwillig gehen.

      Immer wieder entdeckte Johanna Hautfetzen am Boden. Sie folgte der Spur und gelangte auf Umwegen zum großen Saal. Sie horchte an der Tür und hörte jämmerliche Schreie. Nur das Knallen einer Peitsche unterbrach das Geheul. Plötzlich tippte wieder jemand auf Johannas Schulter. Sie dachte spontan an Andreas, doch diesmal stand Van Dörren hinter ihr. „Also doch!“ brüllte er. Johanna starrte in die wütenden Augen des Inspektors. Er packte sie am Arm und zerrte sie in den Saal. Ihm bot sich ein erschreckendes Bild. Die Fackeln an den dunklen, feuchten Wänden erloschen langsam. Van Dörren ließ seinen Blick schweifen. Er sah aber weder Täter noch Opfer. Er war verwirrt und ließ Johanna los. Fassungslos lief er zum Altar. Er sah die Ketten, das frische Blut und doch kein Opfer. Da schallte ihm ein Schrei entgegen, der abrupt verstummte. Er drehte sich zu Johanna um, sah aber nur noch, wie sie die schwere Holztür schloss und verriegelte.

      Van Dörren rannte hinterher, doch kam er nicht rechtzeitig, um es zu verhindern. Jetzt war er gefangen. Zutiefst erschrocken trommelte er gegen die Tür. Umsonst! Er zitterte, denn er kannte dieses Gemäuer nicht und eine Fackel nach der anderen erlosch. Nun stand er im Dunkeln. Er wusste weder ein noch aus. Da hörte er eine weibliche Stimme. Sie drang schwach aus der Finsternis an sein Ohr. „Ihr hättet nicht kommen dürfen, Sie und Ihr Kollege. Sie werden diese Mauern nicht lebend verlassen.“ „Wer ist da? Wer sind Sie?“ rief er zurück. „Ich? Ich bin ein Nichts. Aber ich kann Ihnen hier raus helfen, wenn Sie mir etwas versprechen.“ Van Dörren wusste nicht mehr weiter. Er ahnte, wer da aus der Finsternis zu ihm sprach und wollte Gewissheit. „Sie sind Coline, hab ich Recht?“ Er bekam keine Antwort und wagte noch einen Versuch. Doch auch beim zweiten Mal blieb es still. Plötzlich hörte er ein Geräusch direkt hinter sich. Er drehte sich um, aber auch da hüllte sich alles in undurchdringliches Schwarz.

      „Er wird Ihnen nichts tun!“ sagte die Frau aus der Dunkelheit. „Wer, ER?“ fragte Van Dörren nervös. „Arantino, mein einziger Freund. Er wird Sie hier raus bringen. Unter einer Bedingung.“ Van Dörren rief: „Was wollen Sie von mir?“ „Ich will, dass Sie schnellstens von hier verschwinden, am besten noch heute. Und ich will, dass Sie nie wieder hierher kommen.“ Er erwiderte: „Ich habe auch eine Bedingung!“ „Sie sind nicht in der Lage Bedingungen zu stellen.“ Aber er gab nicht nach. „Ich will nur wissen, ob Sie Coline sind und ich möchte Sie sehen.“ „Das sind zwei Bedingungen! Ich kann dazu nur eines sagen. Ich werde mich weder zeigen, noch nenne ich meinen Namen.“

      Van Dörren überlegte eine Weile und bat nochmals. Doch erhielt er ein knappes Nein als Antwort. Er atmete tief durch, bevor er seinen letzten Kommentar dazu abgab. „Dann will ich lieber sterben, als ewig unruhig zu schlafen.“ Ein lautes, halb hustendes Lachen schallte ihm entgegen. „Glauben Sie wirklich, besser schlafen zu können, wenn Sie Coline sehen?“ Ehe er antworten konnte, knallte eine Peitsche. Sie schrie und gleich darauf packte Arantino zu. Er schleppte den Inspektor hinaus und setzte ihn am Haupteingang ab. Van Dörren schüttelte sich und wollte nach seinem Entführer sehen, doch der verschwand blitzschnell hinter dem Gebäude.

      Währenddessen spielte sich im Saal ein Drama ab. David fesselte Coline auf dem Altar und stopfte ihr den Mund. Er tauschte die Fackeln und erhellte den Saal. Dann erschien Johanna. Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Was hast du dir dabei gedacht? Glaubst du so zu entkommen? Du bleibst bei mir, für immer!“ Coline zappelte und jammerte kläglich. Johanna nahm die NSDK und umkreiste den Altar, ihre Augen stets auf Coline gerichtet. Sie überlegte, wie sie ihr Opfer bestrafen könnte, denn Davids Verletzung hinderte ihn am Prügeln. Sein linker Arm brauchte erst Training und sein Rechter schmerzte unaufhörlich. Johanna entschied, selbst Hand anzulegen. Sie holte aus und plötzlich hielt sie inne. Ihr war nicht danach, Coline zu schlagen. Denn wenn sie zuschlug, dann nur im Eifer des Gefechts, jedoch nicht vorsätzlich.

      Coline spuckte ihren Knebel aus und spottete: „Du bist wohl zu feige? Du Ratte!“ Das war zu viel! Damit brachte sie Johanna zum Ausrasten. Sie schlug so heftig zu, dass Coline lauter schrie als je zuvor. David ertrug das Geplärr nicht und stopfte ihr den Knebel wieder in den Mund. Johanna riss die Peitsche heraus und schlug noch viele Male zu. Jedem Hieb folgte ein grässlicher Schrei. Ohne ihren Spott hätte sich Johanna vielleicht noch besonnen. Doch Coline wollte es nicht anders.

      Die ganze Prozedur dauerte eine Stunde. Dann war Johanna am Ende ihrer Kraft. Sie warf die blutige Peitsche auf den Boden und stampfte hinaus. David sah sich erst jetzt das Ausmaß der Folter an. Coline war blutüberströmt. Ein Teil ihres Rückens, ihr Gesäß und die Oberschenkel waren zerfetzt. Das rohe Fleisch leuchtete ihm entgegen. Sogar ein Paar Knochen waren zu sehen. Coline rührte sich nicht mehr. Ihre Tränen sammelten sich zu kleinen Pfützen. Trotz des schrecklichen Bildes verspürte David kein Mitleid, schließlich war es ihre eigene Schuld. Er deckte ihren blutigen Körper zu und ließ sie liegen.

      Währenddessen suchte Van Dörren mit einer Taschenlampe den Keller ab. Er wusste, dass sich Coline irgendwo dort unten befand und Höllenqualen litt. Er betrat die dunklen Gänge des zweiten Untergeschoss und folgte ihnen. Plötzlich hörte er Stimmen. Johanna und David waren gerade auf dem Weg nach oben. Sie durften ihn nicht sehen, also verkroch er sich in einem Winkel und wartete ab, dass sie vorbei gingen. Doch das dauerte. Die Minuten zogen sich endlos hin. Er wollte schon fast weitergehen, als ein Schatten auftauchte. Es war weder Johanna noch David, sondern Arantino. Er schnaubte kurz und langte mit der Pranke nach Van Dörren. Der Inspektor unterdrückte seinen Angstschrei und kam freiwillig hervor. Arantino wich einen Schritt zurück und machte ihm Platz. Van Dörren sah verwirrt in die glutroten Augen dieses Dämons. Ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken. „Was willst du von mir?“ Arantinos Kopf schwenkte nach links und schob sich auf Van Dörrens Rücken. Vorsichtig stupste er den Mann in die Richtung, in die er gehen sollte. Er gehorchte, schon allein aus Angst. Van Dörren folgte dem Gang, den Arantino vorgab und erreichte eine kleine Nische mit einer Tür. Erst jetzt drehte er sich um und leuchtete der Bestie ins Gesicht. Er erschrak, schloss die Augen und als er sie wieder öffnete, war Arantino verschwunden. Van Dörren hörte nichts und spürte auch keinen Luftzug, den ein so großes Tier hätte hinterlassen müssen. Er war einfach weg. Fassungslos öffnete er die Tür und befand sich wieder im Saal. Im Licht der neuen Fackeln sah alles noch viel schauriger aus.

      Direkt vor ihm breitete sich eine riesige Blutlache aus und gleich daneben lag die Peitsche, mit der Johanna Coline das Fleisch vom Leib riss. Van Dörren machte einen großen Schritt darüber. Er drehte sich im Kreis und wurde blass. An jeder Wand hingen Ketten, Peitschen und andere Foltermittel. Er konnte nicht verstehen, dass es so etwas noch gab. Da hörte er eine Stimme. „Das sind Relikte aus Klosterzeiten.“ Da war sie wieder, die Frau die sich nicht zu erkennen gab. Er wusste schon längst, dass es Coline war. Wer hätte sich sonst in diesen unheimlichen Saal begeben, nur um lästige Schnüffler loszuwerden?

      „Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?“ fragte sie und er antwortete: „Gewissermaßen schon. Was bedeutet das Ganze und woher kommt diese Bestie?“ Coline trat ins Licht. In das blutige Laken gehüllt sah ihn an. „Ich gehe davon aus, dass Sie nicht Johanna meinen. Oder?“ Van Dörren starrte verwirrt auf die geschundene Frau. „Richtig, obwohl sie einer Bestie gleichen mag. Ich meine Arantino. So hieß er doch?“ Sie nickte. „Genau! Warum kommen Sie wieder her? Hat Sie die Neugier so sehr geplagt? Oder was wollen Sie?“ Coline schwankte zum Altar und stützte sich auf die blutbedeckte Marmorplatte. Sie verkniff sich jedes Wehgeschrei, obwohl sie die Schmerzen kaum noch ertragen konnte. Sie sah den stattlichen Mann an und erwartete eine ehrliche Antwort. Doch er gab ihr nur zu verstehen, dass es sein Job war, den Anschuldigungen des Anonymus nachzugehen.

      Van Dörren näherte sich ein paar Schritte und Coline forderte ihn auf, stehen zu bleiben. Aber er ging weiter. Sie hob kurz die Hand, da kam Arantino zurück. Van Dörren stoppte. Er zögerte, machte noch einen Schritt und Arantino tat es ihm gleich. Coline warnte: