Paul Tobias Dahlmann

Der fahle Ritter


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vor dem Zauber des Mädchens.

      Ein letztes Mal noch umarmte dort Sejarl Weglenner seinen Ordensbruder Ihlsteg, der jetzt Maruder hieß, und dessen Verlobte Leihani lang und herzlich. Dann stieg er auf sein Stahlross, überprüfte seine Ausrüstung, und ritt langsam und gemächlich in die Ebene hinaus. Oft noch drehte er sich um und winkte, und das Pärchen verharrte am Waldrand und winkte zurück, bis die Sicht und die Entfernung sie endgültig trennten.

      Dann ritt Sejarl alleine weiter, hin zu jenen Gegenden, die zum Königreich der Zwerge gehörten. An seiner Seite schwebte, unstet und flatterhaft, ein lebender Wind, ein Zauberwesen, ihn zu beschützen und zu ermutigen in schweren Stunden.

      Das Königreich der Zwerge

      Zehn Tage hindurch ritt Sejarl in das Reich Kom hinein. Von Westen her kommend hatte er zuerst eine trostlose Ebene passiert, an die sich einige verstreute Weiler in einem waldigen Hügelland anschlossen, in welchen er zum ersten Mal mit dem Volk der Zwerge bekannt geworden war.

      Inmitten von Rübenfeldern erhoben sich gedrungene, graugetünchte Häuschen kaum über den Erdboden hinaus. Aus Lehm und Feldsteinen waren sie errichtet, und für den Ritter viel zu niedrig. Ihre Anlage glich sonst jener von Orten in den Ordenslanden. Auch einen Eindruck echter Armut vermittelten sie ihm nicht. Trotzdem vermisste Sejarl das reiche, wogende Korn und die sich mit teuren, schweren Tuchen schmückenden Gestalten aus den Erzählungen, die er über dieses Land gehört hatte.

      Wenn der Ritter an Zwergen vorüberkam, so waren dies einfache, in lederne Arbeitskleidung gehüllte Dorfbewohner, die ihn scheuten. Auch kam es vor, dass dem einen oder anderen von ihnen noch nichts zu Ohren gekommen war von der bleichen und totengleichen Haut der Ordensleute von jenseits der Berge. Dann erntete der Fremden Furcht.

      So reiste Sejarl einige Zeit, ohne dass er auch nur ein ergiebiges Gespräch hätte führen können. Er wurde gemieden, ohne dass es jemand gewagt hätte, offen gegen ihn aufzufahren. Dazu gab er den einfachen Leuten auch keinen Grund. In Ställen und Scheunen fand er Aufnahme und Nachtlager, und Bauern und Gastwirte verkauften ihm zögernd eine Wegzehr, die schlechter hätte sein können.

      Unterdessen folgte ihm der Windgeist, heischte mal hoch, mal ebenerdig, um ihn herum. Er nahm Blätter, Staub und Gezweig vom Boden auf, um es für eine Weile zum Teil seines Körpers zu machen, und dann hinter dem nächsten Dorfe wieder fahren zu lassen. Dafür nahm er dann etwas Neues auf. Gelegentlich gab er dabei zischende oder flüsternde Laute von sich, welche unartikuliert waren, und sich auf nichts Bestimmtes zu beziehen schienen.

      Einmal beobachtete eine Gruppe Kinder dieses Treiben mit großem Vergnügen und lief unter lautem Gejohle und Gelächter hinter dem Geist her, ohne den Ritter weiter zu beachten. Eines der kleinen Zwergenkinder rief dabei ständig mit hoher, piepsiger Stimme: „Flisch, Flisch, Flisch!“.

      Die anderen griffen diesen Ruf auf und versuchten, den lebenden Wind durch die ständige Anrufung mit dem Worte zu kleinen Kunststücken zu verleiten. Zu seinem eigenen Erstaunen stellte Sejarl fest, dass jener innerhalb gewisser Grenzen hierauf zu reagieren schien.

      Als die Kinder sie schließlich wieder verlassen hatten, entschied der Ritter daher, dass der Geist nun einen Namen habe.

      Weiter und tiefer gelangte Sejarl ins grüne, hügelige Land der Zwerge hinein. Je weiter er kam, desto größer wurden die Orte und Siedlungen, desto höher wuchs das Korn auf den Feldern und desto reicher waren die Leute gekleidet.

      Den Orten selbst war eine Merkwürdigkeit zu eigen: Je größer sie waren, desto mehr waren sie in den Boden hinein gebaut. Die Dächer der Häuser lagen im Vergleich mit dem Umlande zu ebener Erde. Die belebten, breiten Straßen und schmalen Gassen waren in den Boden hinein gegraben. Die Gebäude zu ihren Seiten waren entweder aus Fels und Steinen herausgeschlagen, oder aber die Erde war mit Lehmziegeln soweit verstärkt worden, dass sich auch so über drei bis vier Stockwerke hinab stabile Wände bildeten. Zu den Rändern der Orte hin flachte das Gelände wieder ab, so dass ihre Mitte jeweils eine tiefe Kuhle bildete, in der die Nacht des Erdinneren herrschte.

      Daher waren die Wege, über die der Ritter dort innerhalb der Orte kam, dunkle Schluchten, die mit ihrer von Öllampen beleuchteten Geschäftigkeit ein seltsames Bild von düsterer Großartigkeit vermittelten. Von außerhalb der Stadt konnte man nur eine schwarze, plane Fläche sehen, aus der hier und da die Rauchwolken von Herdfeuern aufstiegen.

      Sejarl wunderte sich sehr über diese Bauweise und fragte sich, was sie wohl für einen Sinn oder Ursprung hatte.

      Also hielt er, als er zum zweiten Male eine kleine Stadt dieser Art erreichte, vor einer Herberge in ihrem Zentrum an. Der Widerschein von hundert kleinen Feuern aus den Fensteröffnungen der umliegenden Gebäude erhellte eine mit Ornamenten versehene, viergeschossige Backsteinfassade. Er spiegelte sich in den halbedlen Schmucksteinen, welche in unregelmäßigen Abständen in ihr eingelassen waren.

      Mit etwas Mühe zwängte er sich durch die Tür, deren Oberkante knapp über seiner Schulterhöhe lag. Der Schankraum dahinter war für Zwergenarchitektur ungewöhnlich hoch geraten und er konnte aufrecht darin stehen. So begab er sich, das Pferd und den Windgeist auf der Straße zurücklassend, zum Tresen, bestellte sich dort einen großen Humpen würzigen Bieres, der für ihn ein kleiner war, und fragte dann den Wirt nach der Ursache für die eigentümliche Anlage der Zwergensiedlungen.

      Dieser erzählte Sejarl folgende Geschichte: „Einst gab es eine Zeit, so sagt man, da war unser Volk noch klein und schwach. Es hatte viele Feinde, die es verfolgten. Da waren Tiere, Menschen, Trolle und Riesen dabei. Vor denen mussten sich unsere Vorfahren verstecken. Darum bauten sie ihre Orte in die Erde hinein, damit sie von Außen nicht gesehen werden konnten. Später dann, als wir stärker wurden, hat man die Bauweise wegen der Tradition beibehalten. Tradition ist sehr wichtig für uns in Kom. Die Städte in der Erde sind ein Zeichen dafür, und wir sind sehr stolz darauf.“

      „Das ist doch Blödsinn“, wurde der Wirt unterbrochen von einem älteren, ungewöhnlich kräftigen Zwerg mit angegrautem Bart und verhärmtem Gesicht, der von seinem nahen Platz aus alles mit angehört hatte.

      „Die Wahrheit ist eine ganz andere“, erläuterte er, nun an Sejarl gewandt. „In früheren Zeiten war dieses Land nämlich reich und berühmt für seine großen Erzvorkommen. Wir Zwerge trieben Tunnel um Tunnel in den Boden und auch in die Hügel und Berge hinein. Wir stellten viel Schmuck und kostbare Waren her, die wir teuer verkauften. Unsere Armee wurde auch immer stärker und besser ausgerüstet, so dass wir bald sehr mächtig wurden und viele andere Länder erobern konnten. Mit der Zeit aber verbrauchte sich das Erz an der Oberfläche; und weil wir dafür immer tiefer graben mussten, bauten wir unsere Wohnungen immer näher an die Stolleneingänge heran. Dort stehen sie heute noch, obwohl die Metallvorkommen schon längst fast überall völlig erschöpft sind.“

      „Auch die Geschichte ist totaler Unsinn“, mischte sich ein dritter Zwerg ein. Er war ein Mann in den mittleren Jahren mit einer abgeschabten Uniform und einer deutlichen Alkoholfahne, berichtete aber dennoch unbeirrt und laut auch seine Version: „Wir Zwerge wurden nämlich einmal alle von einem großen Magier erschaffen! Der hielt uns unter der Erde und wollte ein großes Heer aus uns formen. Damit wollte er die Welt erobern. Wie heute. Aber er versagte und starb irgendwie. Wir Zwerge blieben über. Wir – also die meisten von uns – haben uns dann nie richtig aus der Erde rausgetraut. Deshalb wohnen wir immer noch halb in ihr.“

      Dann schloss er plötzlich und fuhr abrupt zusammen, setzte seinen Krug mit einem Wummen auf der Theke ab verließ hastig und leicht torkelnd den Raum.

      „Armer Kerl“, meinte der Wirt leise. „Die vielen Einberufungen und Aushebungen setzen ihm wirklich zu. Wenn nur Einer wüsste, was dahinter steckt.“

      „Aushebungen?“, fragte Sejarl.

      „Ja. Der König zieht eine Menge Truppen zusammen. Aber die Offiziere wollen nicht erklären, warum und wieso.“

      Sejarl ließ es vorerst bei dieser Antwort bewenden und entschloss sich, statt dessen von seiner Suche nach dem Sinn des Seins zu erzählen. Doch der Wirt konnte ihm auch