Hedwig v. Knorre

DAS Erste Große BetrugsOpferBUCH


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nur noch unterschrieben, was gelesen und verstanden wurde - von nun an wird nichts Ungewöhnliches mehr geglaubt - die Kreditkarte kriegt niemand anders mehr in die Hand - und die Post holt sich jeder selbst aus dem Briefkasten! So einfach ist das!

      Oberflächlich betrachtet. Bei genauem Hinschauen wird’s schwieriger. Was ist, wenn jemand im Krankenhaus liegt? Wer holt dann das Geld aus dem Automaten, tätigt die nötigen Überweisungen, leert den Briefkasten? Nicht nur diese Extremsituation fordert Vertrauen zu Angehörigen und Nachbarn, sondern auch der ganz normale Alltag mit seinem Stress.

       Mein Nachbar ist Lehrer. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er wollte ein Haus kaufen. Zusammen mit seiner Frau ging er zur Bank wegen des Kredits. Der Vertrag beinhaltete mehrere Seiten „Kleingedrucktes“. Mein Nachbar ließ sich erklären, was darin stand, und unterschrieb. Auch seine Frau unterschrieb. Obwohl sie „nur Bahnhof“ verstand. - Hätte seine Frau das Kleingedruckte mit nach Hause nehmen sollen? Hätte sie versuchen sollen, es zu verstehen? Dafür hätte sie ein halbes Studium gebraucht. Das hätte sie nicht geschafft, sowieso nicht und schon gar nicht neben Haushalt und Kindern her. Dann läge der Vertrag mit seinem „Kleingedruckten“ noch heute in der Küchenschublade und aus dem Hauskauf wäre nie etwas geworden.

      Die “gefundenen Fehler” sind es also doch nicht gewesen. Genau die gleichen „Fehler“ werden nämlich täglich von sehr, sehr vielen Menschen begangen. In ihrem Fall sind es aber keine Fehler, denn sie haben mit normalen Menschen zu tun, nicht mit Betrügern. So könne sie diese “Fehler” jahre-, jahrzehntelang machen, ohne dass irgendwas Schlimmes passiert. Im Gegenteil: ihr Leben funktioniert, WEIL sie einander vertrauen, für einander Dinge tun und sich auf einander verlassen können!

      GIER - unmäßig

      Unmäßigkeit – ein weitere Vorwurf gegen Betrugsopfer. „Sie wollten eben mehr, als man kriegen kann“, heißt es, „sie sind zu gierig, sie kriegen wohl den Hals nicht voll.“ Raffgier, Leben wollen auf großem Fuße, all diese Motive, diese Eigenschaften werden Opfer von Betrügern unterstellt. Auch das hilft zur eigenen inneren Entlastung und macht es möglich, das Thema abschließen mit dem Gedanken „geschieht ihnen recht!“

      Es stimmt halt nicht. Bei den allermeisten jedenfalls. Im Gegenteil. Die meisten Opfer von Betrügern sind eher bescheidene Menschen, bestrebt zu geben, nicht zu raffen.

      Natürlich gibt es Ausnahmen. Selbstverständlich gehören auch Menschen mit überhöhten Ansprüchen zu den Opfern von Betrügern. Auch ihnen kommt der Betrüger entgegen mit dem Versprechen, ihren Bedarf zu erfüllen. Aber eben nicht nur ihnen, sondern vor allem den vielen Menschen mit ganz normalen Maßstäben.

      Was will ein normaler Mensch? Normal leben. Arbeiten, etwas Freizeit, oft Familie, auf jeden Fall Freunde, meist ein kleines Hobby. Menschen mit Schwächen und Fehlern leben zwischen anderen Menschen mit Schwächen und Fehlern. Damit arran-gieren wir uns, und an manchem arbeiten wir. Manchmal haben wir Probleme und stehen vor Herausforderungen, denen wir nicht gewachsen sind. Erleben wir dann Hilfe und Unterstü-tzung, sind wir froh und dankbar für die „Fügung“, die uns „den richtigen Menschen zur rechten Zeit über den Weg geschickt hat“, ob auf Ämtern, als Nachbar oder durch sonst einen Zufall.

      Solch ein normaler Mensch hat kein großes Unglück verdient, oder? Mit solchen Menschen identifizieren sich die meisten. „Wenn es SIE oder IHN getroffen hat, könnte es auch mich treffen“, ist intuitives Wissen, und damit geht ein tiefes Gefühl entsetzlichen Grauens einher. Das ist unerträglich. Das will niemand fühlen.

      Dieser innere Mechanismus auf emotionaler Ebene ist eins der wichtigsten Elemente um das Betrugsgeschehen. Freunde und Nachbarn, Familie und Arbeitskollegen fühlen so – und wollen nicht so fühlen. Polizisten und Ermittler, Staatsanwälte und Richter – ja, auch sie sind „nur Menschen“, fühlen so und wollen nicht so fühlen. Sogar Psychologen, Psychiater und Psycho-therapeuten sind „nur Menschen“, die ebenso fühlen und auch nicht so fühlen wollen! Ob vor Gericht oder in Therapie, ob auf der Polizeiwache oder in der psychiatrischen Klinik: überall begegnen den Betrugsopfern Menschen, die in dieser Weise fühlen – und nicht so fühlen wollen.

      Wer nicht fühlen will, muss es nicht. Unsere Psyche ermöglicht uns innere Abwehrmechanismen zum Selbstschutz.

      Doch diese inneren Abwehrmechanismen tragen dazu bei, die Vorurteile gegen Betrugsopfer aufrecht zu erhalten. Opfer werden als Täter deklariert. Das multipliziert die Schäden im Opfer bis ins Unermessliche!

      All dies geschieht zu Gunsten der Betrüger. Sie tun aktiv ihren Teil dazu, dass die Umgebung bei dieser Sicht der Dinge bleibt. Das nützt ihnen. Denn sie sind wirklich unmäßig und gierig, bequem und sexsüchtig und in ihrem Inneren voller verwerf-licher Motive. Und das soll niemand merken. Natürlich nicht.

      Die „Defizite des Opfers“

      Wird ein Betrugsgeschehen im Nachhinein rekonstruiert, geht als erstes die Suche nach den „Defiziten des Opfers“ los. Sie werden auch gefunden. Ob Nachbarn, Freunde, Verwandte oder polizeiliche Ermittler, Staatsanwälte und Richter: alle sind darauf fixiert, die „Defizite des Opfers“ zu suchen und zu finden.

      Das ist grundsätzlich ein falscher Ansatz. Die „Defizite des Opfers“ sind keine Defizite. Von den „Defiziten des Opfers“ zu sprechen, diskriminiert das Opfer. Anstelle des Ausdrucks „Defizit“ gehört der Begriff „Bedarf“. Das Opfer hat, bevor es zum Opfer wird, einen Bedarf: einen ganz normalen Bedarf.

      „ich pass auf!“

      Wir haben verstanden, dass Betrugsopfer ganz normale, unterschiedliche Menschen sind. Wir haben verstanden, dass „Dummheit“, „Gier“ und „Fehler“ der Betrugsopfer nicht die Ursachen des Betrugsgeschehens sind und ebenso wenig ihre „Defizite“ oder gar „Dummheit“. Ganz neu kommt die Frage auf: „Wie können wir uns davor schützen, Opfer eines Betrügers zu werden?“

      Können wir das?

      Stimmt das?

      Schön wär’s, aber leider ist das eine Illusion. Sehr verbreitet ist sie, dieses Illusion, beinahe Standard – und bleibt dennoch Illusion. Beliebt ist sie, diese Illusion, auf Seite der Täter wie auf Seite potentieller Opfer. Sie kommt unserem Sicherheitsstreben entgegen, aber sie ist unrealistisch. Leider. Und warum kommt diese Illusion den Tätern entgegen? Eben weil sie nicht wahr, nicht real ist. Diese Illusion schützt sie. Dank dieser Illusion können sie viel leichter die Menschen zu ihren Opfern machen, die in dieser Illusion leben. Illusionen, Lügengespinste – das sind die Werkzeuge der Betrüger. Auch die Illusion „wenn ich aufpasse, kann ich mich schützen“ gehört dazu.

       Jochem, „mein Betrüger“, hat immer gerne „gespielt“, er sei im Ausland und in vielen Ländern, aktuell oder gewesen. Was hatte er für Geschichten auf Lager aus China, der DDR und USA usw... es klang ganz ähnlich, wie wenn ich aus den Jahren erzähle, die zwischen meinem Abi und der Ausbildung lagen, als ich mit meinem Rucksack durch Europa und Amerika reiste. Oder wie manche Freunde erzählen, die echte Weltenbummler sind. Doch bei Jochem war es niemals echt! Er hat Deutschland in Wahrheit nie verlassen! Wie konnte er diesen authentischen Eindruck erwecken? Auf jeden Fall hat er „echten Weltenbummlern“ ihre Geschichten „geklaut“. Und in Chat- oder Telefonkontakte ließ er das jeweilige aktuelle Wetter einfließen, denn das Wetter ist immer ein Thema: dann schaute er schnell im Internet nach Wetterberichten und über webcams nach! So kam es im Gespräch authentisch rüber.

       Hören Sie jetzt auf zu telefonieren oder zu chatten?

      Nein, Betrugsopfer sind keine “besondere Spezies Mensch”, das sind die Betrüger. Gegen die ist niemand ist immun. JedeN kann es treffen. Das ist eine harte Wahrheit - ernüchternd, verunsichernd: “was nun? Ich dachte immer…”

      ...doch keine Sorge, wir sind noch nicht am Ende. Es geht noch weiter, und wer verstanden hat, was in diesem Buch steht, sieht klarer.