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als die Kinder des Hauses, die selbstverständlich spontan ihre Freunde mitbringen konnten). Der Grund dafür war schlicht folgender: Die Wohnung, in die Sylvia einziehen würde, war zwar komplett separat mit Wohn-Schlafraum, Bad und Küche, verfügte aber über keinen eigenen Eingang. Und der Zugang zu der Villa sollte unbedingt von der Familie kontrolliert werden. Einfach aus Sicherheitsgründen.

      Tobias war fast erstaunt, als Sylvia ohne geringste Einwände auch diesem Punkt zustimmte. Freunde nach Hause zu bringen, oder womöglich einen neuen Lover – daran dachte sie in diesem Moment am wenigsten. Das würde sich finden. Im schlimmsten Fall müsste sie drei Jahre als Nonne leben. Ohnehin war sie nicht der Typ, der gerne in die Disko geht und sich abschleppen lässt. Das klappte zwar, wann immer sie es darauf anlegte, aber im Ergebnis haben ihr diese Bekanntschaften in ihrem Leben nichts gebracht. Höchsten noch mehr Probleme.

      Sowohl für Sylvia als auch für Helene Schroffenstein war es ein Abenteuer, auf das sie sich einließen. Man einigte sich jedoch nur mündlich, ein schriftlicher Vertrag wurde noch nicht geschlossen. Der sollte später folgen.

      Sylvia war entschlossen, alles zu lernen, was die Dame des Hauses ihr beibrachte. Sie bewunderte Helene. So wäre sie auch gern: Schlank, reich, nette Kinder, einen guten Mann, Freunde und nicht zuletzt klug. Helene hatte nicht nur Abitur – während Sylvia nicht einmal ihre Hauptschule zu Ende gebracht hatte – sondern sie wußte auch so viele andere Dinge, von denen Sylvia buchstäblich keine Ahnung hatte.

      Das mit der Hauptschule muss ich aber kurz erklären: Es lag nicht an ihrer mangelnden Intelligenz. Ihr Vater hatte die Familie schon kurz nach ihrer Geburt verlassen. Ihre Mutter betonte jedes Mal, wenn das Gespräch darauf kam, und das geschah nicht oft, er sei ohnehin ein Taugenichts gewesen. Nun, Sylvia hätte ihn trotzdem gern einmal kennengelernt, aber stattdessen lernte sie die wechselnden Liebhaber der Mutter kennen, die ausnahmslos auch keine Superhelden waren. Und ihre Mutter selbst – nun, was ist das weibliche Pendant zum Taugenichts? Ein Schlampe? Das trifft es nicht ganz.

      Ihre Mutter war jedenfalls nicht besonders lebenstüchtig. Die längste Zeit lebte sie von Sozialhilfe oder Hartz IV. Aber grade als Sylvia noch klein war, schlug sie sich als Verkäuferin durch, so dass ihr Kind oftmals allein war. Niemand kümmerte sich darum, ob die kleine Sylvia etwas Vernünftiges zu essen bekam, ob sie die Hausaufgaben machte, und zu selten konnte sie ihren Kummer oder ihre Sorgen ihrer Mutter mitteilen. Die hatte auf ihre eigenen Probleme schon keine Antworten. Kurzum, Sylvia wurde zumeist vernachlässigt.

      Sie selbst sagte einmal, die schönste Zeit in ihrer Kindheit seien die zwei Jahre gewesen, die sie mit ihrer Mutter bei ihrer Tante, also der Schwester der Mutter und deren Mann unterkamen. Die beiden waren ungewollt kinderlos, und obwohl sie beide voll berufstätig waren, fanden sie immer etwas Zeit für die kleine Sylvia. Sie war damals acht. Hier bekam sie erstmals ein regelmäßiges Frühstück serviert, bevor ihr Onkel sie auf seinem morgendlichen Arbeitsweg ein Stück mitnahm und vor ihrer Schule absetzte. Nach der Schule allerdings musste sie allein nach Hause, also zum Haus der Tante. Das war ein langer Fußmarsch, aber sie hatte Zeit, denn es wartete dort niemand auf sie.

      Mit ihrer Mutter bewohnte sie zwei Zimmer im Obergeschoß. Wie sie erst viel später erfuhr, war es nicht nur reine Nächstenliebe, warum die Schwester sie aufgenommen hatte: Das Haus, ein Siedlerhaus am Rande der Stadt, war an beide Schwestern vererbt worden. Nur die Tante hatte schon immer hier gewohnt, und auch die alten Eltern bis zu ihrem Ende gepflegt. Sylvias Mutter konnte sie aber zunächst nicht auszahlen.

      Später erhielt Sylvias Mutter ein kleines Vermögen, aber es dauerte nicht lange, bis es aufgebraucht war. Die einzig positive Erinnerung, die Sylvia damit verband, war der erste – und einzige – Urlaub auf Mallorca, den ihre Mutter den beiden davon gönnte. Das war das erste Mal, dass sie überhaupt im Ausland war. Und dort in Spanien, da war sie grade mal 12 Jahre alt, erlebte sie ihren ersten Flirt, mit einem Jungen aus Duisburg, an den sie immer gerne zurückdachte – um sich auch immer wieder darüber zu ärgern, dass sie damals nicht die Telefonnummern oder Adressen getauscht hatten. So blieb er immer ihr unerreichbarer Schwarm.

      Das war’s auch schon an „Normalität“ in Sylvias Jugend. Mit 14 stellte sie fest, dass ihre Mutter schwere Alkoholikerin war, die mutig mit Tabletten gegen ihre zerstörerische Sucht ankämpfte. Mit 15 war sie über mehrere Wochen allein zu Hause, als ihre Mutter die erste Entziehungskur machte. Mit 16 kam sie dann vorübergehend in ein Kinderheim – vorübergehend deshalb, weil sie nach drei Wochen beschloss, dass das nicht der richtige Ort für sie sei. Und das war auch der Grund, weshalb sie die Hauptschule nicht beendeten konnte. Wäre sie wieder zur Schule hingegangen – davon war sie überzeugt – hätte man sie wieder ins Heim gebracht.

      Stattdessen fand sie einen jungen Mann, bei dem sie zunächst bleiben konnte. Der wollte natürlich eine gewisse Gegenleistung, aber Sylvia nahm’s sportlich. Das fand sie nicht weiter schlimm, im Gegenteil, etwas Zuwendung tat ihr ganz gut. Leider musste sie bei dieser, wie auch bei anderen Gelegenheiten nach einer Weile feststellen, dass der Typ, der sie aufgegabelt hatte, „ein Arschloch ist“, um ihre Worte zu benutzen. Die meisten Männer schienen Arschlöcher zu sein, aber ihre Hoffnung, einmal auf einen Netten zu treffen, wie den Jungen aus Duisburg, gab sie nie auf.

      Ihrer Mutter sah sie das letzte Mal, als sie 19 war. Da hatte sie einen Anruf aus Köln von der Bahnhofsmission erhalten. Sie fuhr hin, und was sie vorfand war ein zahnloses Wrack, das nur noch entfernt an ihre Mutter erinnerte. Sie war eine obdachlose Pennerin geworden. Es zerriss ihr Herz, denn schließlich war es noch immer ihre Mutter; aber beim besten Willen, sie konnte ihr nicht helfen. Sie hatte selbst kein festes Einkommen und keine eigene Wohnung.

      Diese Begegnung war für sie dennoch sehr wichtig. War es nicht gut möglich, dachte sie manches Mal, wenn sie an dieses Treffen zurückdachte, dass das, was sie sah, nicht nur einfach ihre Mutter war, sondern ein Blick in die eigene Zukunft? Standen die Chancen nicht gut dafür, ihrer Mutter auf diesem Weg ins Verderben zu folgen? War sie nicht im Begriff, die gleichen Fehler zu machen, wie ihre Mutter?

      Damals entschied sie, ihr Leben zu ändern. So, wie ihre Mutter, wollte sie nie und nimmer enden. Niemals würde sie zu einer wohnungslosen Pennerin verkommen. Aber wie sie das anstellen sollte, wußte sie noch nicht. Ein paar Grundsätze aber fasste sie schon. Sie wollte von nun an immer wenigstens halbwegs gepflegt sein und vernünftige Kleidung tragen. Jogginghosen eben nur zu Joggen. Alkohol wollte sie auch nur noch in Maßen trinken. Ganz verzichten wollte sie darauf nicht, damit würde sie sich zur Außenseiterin machen, aber sie würde immer darauf achten, nicht zu viel zu trinken. Und möglichst keine harten Sachen. Dann wollte sie gern eine eigene Wohnung, aber dazu braucht man ein festes Einkommen. Ohne jede Ausbildung ist das eine große Herausforderung. Sie musste sich irgendwie bilden und offen sein für Neues. Das hatte sie schon verstanden.

      Auf dem Arbeitsamt konnte oder wollte man ihr nicht richtig helfen. Niemand bot ihr an, den Schulabschluss nachzumachen, um dann eine Lehre zu beginnen. Vielleicht hatte sie einfach nur Pech mit den Beratern. Alles was man ihr anbot – und zwar jedes Mal, wenn sie den Weg ins Arbeitsamt gefunden hatte – waren Putz-Jobs. „Versuchen Sie’s mit putzen.“ Dabei ist auch das inzwischen ein Lehrberuf.

      Eine Ausnahme gab es: Vier Wochen lang hat sie als Erntehelferin gearbeitet. Der Bauer, auf dessen Feldern sie Gemüse geerntet hatte, fand sogar ein paar lobende Worte für sie, war sie doch die einzige Deutsche, die sich in den vier Wochen nicht krank gemeldet hatte oder aus sonstigen Gründen der Arbeit fern geblieben war. Sylvia hatte genau das am zweiten Tag vor. Aber sie riss sich zusammen, da sie dringend das Geld brauchte. Das sie dann durchgehalten hatte, stärkte ihr Selbstwertgefühl ungemein, und das war am Ende noch viel wichtiger, als das Geld.

      Auch hier hatte sie ihre Mutter vor Augen. Wenn die Polen, Rumänen und Türken das können, warum sollte sie das nicht auch können? Sagte sie sich. Muskelkater, Rückenschmerzen – egal. Einer der Polen bemerkte mit Humor: „Du musst das sehen wie Sport“, meinte er. „Andere zahlen viel Geld im Verein oder im Studio, und hier hältst Du Deinen Körper fit, bist an der frischen Luft und bekommst noch Geld dafür.“ Da war etwas Wahres dran, und Arbeit schändet nicht, so hielt sie durch.

      Tatsächlich hatte sie in den vier Wochen sogar abgenommen und fühlte sich vom Körpergefühl