Horst Neisser

Centratur I


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Mit eingezogenem Kopf durchquerte er den trostlosen Ort. Trotz der Nebelschwaden, die mehr und mehr die Häuser und Höfe verhüllten, fühlte er die Blicke, die aus allen Ritzen und Läden auf ihn gerichtet waren.

      Er ließ Mooraue hinter sich und erreichte nach einer Viertelstunde den Tabakweg. Der Begriff ‘Weg’ war irreführend. Es handelte sich dabei um eine breite Straße, die im Norden von der Oststraße abzweigte und nach einem eleganten Schwung am Erfstrom entlang nach Süden führte. Der Nebel war nun so dicht, dass der junge Erit kaum noch seine Hand vor den Augen sehen konnte. Brandgeruch hing in der nassen Luft, aber er konnte nicht ausmachen, woher er kam.

      Beinahe wäre Marc in die Falle gelaufen, denn plötzlich hörte er ganz nahe Stimmen und sah den Schein eines flackernden Feuers.

      „Wie lange sollen wir in dieser Waschküche noch hocken?" beschwerte sich eine schrille Stimme. „Wir müssen die Straße bewachen, während sich die andern beim Plündern die besten Stücke unter den Nagel reißen. Unsere Wache hier ist völlig unnötig. Es kommt doch niemand vorbei."

      Marc blieb starr im Nebel stehen. Zu gern hätte er gewusst, mit wem er es zu tun hatte. Aber er wagte sich nicht näher heran. Stattdessen versuchte er, das Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich konnte er wieder ruhig atmen und kehrte nach kurzer Überlegung nach Moordorf zurück. Er verstand nun die Menschen und ihre Angst. Im Ort klopfte er doch noch einmal an die eine oder andere Tür. Er hoffte noch immer auf ein wenig Wärme und Nahrung. Aber wie beim ersten Mal hatte er keinen Erfolg, sondern wurde mit Flüchen und Verwünschungen verscheucht.

      Er machte sich nun doch große Sorgen um die Familie seines Paten. Besonders Akandra, dessen Tochter, ging ihm nicht aus dem Sinn. Ganz deutlich hatte er ihr Gesicht vor Augen, die braunen Augen und die Stupsnase.

      ‚Ich muss nach Waldmar’, dachte er, ‚koste es, was es wolle. Wenn ich hier nicht an den Fluss komme, weil die Straße bewacht ist, dann pirsche ich mich eben über die Felder. Das ist zwar ein Umweg, aber es bleibt mir wohl nichts Anderes übrig. ’

      Er bog in der Mitte des Ortes, dort wo der Brunnen stand, nach Westen ab. Ein schmaler Weg führte zwischen zwei Bauernhöfen hindurch und hinaus auf die Felder. Das letzte Haus, an dem er vorbeikam, war klein und grau, der Vorgarten mit dünnen Stecken eingezäunt. Auch hier waren die Läden geschlossen. Aus dem Inneren hörte man Hühner und Enten.

      Marc entschloss sich zu einem letzten Versuch und klopfte. Einsam stand er vor der Tür und wartete, während der milchige Nebel ihn umfing. Endlich hörte er Geräusche über sich und schöpfte Hoffnung. Zuerst öffneten sich ein Laden und dann das Fenster. Er sah hinauf und wollte schon freundlich grüßen, als ein eiskalter Schwall Wasser auf ihn niederging. Jemand hatte einen Kübel über ihm ausgekippt und riegelte nun geräuschvoll das Haus wieder ab. Der junge Erit war nun zu allem Überfluss auch noch nass bis auf die Haut.

      Bald taumelte er nur noch in einer Art Halbschlaf dahin. Seine letzte Wegzehrung hatte er längst gegessen, den letzten Tropfen Wasser getrunken. Endlich, als er bereits überlegte, ob er sich nicht einfach in das nasse Gras am Wegrand werfen sollte, lichtete sich der Nebel. Zuerst konnte er nur wenige Meter weit sehen. Dann erkannte er Felder zur Linken und zur Rechten. Er sah abgeerntete Apfelbäume auf den Wiesen. Aus ihren Früchten wurde der in ganz Centratur berühmte Apfelwein gebraut. Direkt vor Marc aber türmten sich große schwarze Blöcke auf. Neugierig trat er näher. Der Geruch von verbranntem Holz wurde stärker. Darunter mischte sich ein Gestank, den er nicht kannte. Der Wanderer sah näher hin und stellte mit Schrecken fest, dass er vor den Trümmern eines Bauernhofs stand.

      Das Bild, das sich ihm bot, war trostlos. Die Dächer der Häuser waren eingebrochen und verbrannt. Einige der dicken Balken rauchten noch. Die hohe Umfassungsmauer des Gehöftes war eingerissen, das schwere Tor hing schief in den Angeln. Voller Entsetzen sah Marc in der Haustür eine zusammengesunkene Gestalt und auf dem verwüsteten Hof die Kadaver von großen Hunden liegen. Alle waren sie von schwarzen Pfeilen durchbohrt. Nun wurde ihm schlagartig bewusst, wo er war. Dies war einstmals der Hof vom Bauer Sturm gewesen. Ein freundlicher Bauer, den sein Vater auf seinen Wanderungen oft besucht hatte. Einmal hatte ihn Marc dabei begleiten dürfen. Der Bauer war damals schon alt gewesen und inzwischen längst gestorben. Seine Söhne hatten die Wirtschaft übernommen und weiterhin dafür gesorgt, dass lichtscheues Gesindel um den Sturmhof stets einen Bogen machte.

      Nun gab es den Hof nicht mehr. Seine Bewohner waren tot und ihre scharfen Hunde ermordet. Marc schauderte. Wer hatte dieses Verbrechen begangen? Gab es gegen diesen Feind überhaupt eine Chance? Angst krampfte sich um sein Herz. Er wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte, wenn er die Waldmarer noch rechtzeitig warnen wollte. Wahrscheinlich war bereits alles zu spät und seine Mission gescheitert. Wieder dachte er an Akandra, die Tochter des Grafen Marrham. Sicher, sie war eine hochmütige junge Dame, aber sie durfte auf keinen Fall in die Hände der Bestien fallen, die das hier angerichtet hatten.

      Der Gedanke an Akandra gab seinem müden Körper wieder Kraft. Er richtete sich auf und zwang sich zur Ruhe. So leise er konnte, ging Marc weiter. Dabei spähte er aufmerksam nach allen Seiten. Aber die Vorsicht war unnötig. Weit und breit war außer ihm kein Wesen zu entdecken. Wahrscheinlich hatte das schlechte Wetter alle Angreifer in einen Unterschlupf getrieben. Ungehindert bog Marc nach zwei Stunden auf den Pfad zum Fluss ein.

      In der letzten halben Stunde hatte der Brandgeruch wieder zugenommen. Die Nacht hatte sich inzwischen herabgesenkt. Regenwolken verdeckten das trübe Mondlicht. Es war so dunkel, dass man die Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte. Endlich war er am Ziel und stand auf einem Anlegesteg am Ufer des Erfstrom, den er mehr ahnte als wahrnahm. Der Brandgeruch war nun beinahe unerträglich. Marc stieg die drei Holzstufen zum Wasser hinunter. Aber nirgendwo lag ein Kahn, mit dem er den Fluss hätte überqueren können.

      Müde, enttäuscht und ratlos ließ er sich unter einem Busch am Ufer nieder. Vor ihm rauschte und gurgelte der große Fluss. Nieselregen kam auf und drang durch seine Kleider. Trotzdem wäre er beinahe eingeschlafen, als er plötzlich in der Ferne das Getrappel von Pferdehufen hörte. So klangen keine Ponys, dies war der schwere Gang eisenbeschlagener großer Pferde.

      Einem plötzlichen Impuls folgend erhob sich Marc, lief zur Uferböschung und zog seinen dunklen Mantel eng um sich. Es dauerte nicht lange, und die Pferde kamen näher. Marc hielt den Atem an. An der Abzweigung zum Landungssteg blieben die Reiter stehen. In diesem Augenblick kam der Mond hinter den Wolken hervor. In seinem fahlen Lichtschein konnte Marc silberne Rüstungen und hohe Helme erkennen.

      „Wir kommen zu spät“, sagte der eine Reiter. „Dem Geruch nach zu urteilen, ist dort keine Hilfe mehr nötig."

      „Hier kommen wir nicht über den Fluss. Ich kann kein Gefährt entdecken. Weiter unten aber sind die Orokòr."

      „Armes Heimland! Es bräuchte so dringend Hilfe, aber wir sind zu schwach."

      Marc wollte schon aufspringen und die Fremden grüßen. Sie schienen Freunde zu sein. Er wollte sie fragen, was geschehen sei, wollte sie um Rat und Hilfe bitten. Aber sie waren schon weiter geritten, und er sah nur noch ganz fern ihre Rüstungen blitzen.

      Während er noch über die Reiter nachdachte, rissen die Wolken gänzlich auf und im fahlen Licht des Mondes sah der Erit flussabwärts ein kleines Boot. Es war abgetrieben und hatte sich in den Ästen einer Weide verfangen, die tief über dem Wasser hingen.

      Marc schlich am Ufer entlang und kletterte vorsichtig hinein. Unversehens stand er bis zu den Knöcheln im Wasser. Das Schiffchen leckte. Mit so einem morschen Kahn den großen Strom zu überqueren, war ein waghalsiges Unterfangen. Doch Marc zauderte keinen Moment. Die Sorge um Akandra trieb ihn vorwärts. So setzte er sich auf die Ruderbank und nach kurzer Zeit sah er um sich nur noch Wasser.

      Mit aller Kraft legte er sich in die Ruder. Doch so sehr er sich auch sich auch abmühte, der alte Kahn wurde mehr und mehr von der starken Strömung abgetrieben. Das Ufer, zu dem er wollte, kam und kam nicht näher. Angst breitete sich in seinem Kopf aus. Mit einem Mal wurde ihm klar, in welcher großen Gefahr er sich befand. Doch einer Eingebung folgend hörte er auf gegen den Fluss zu kämpfen. Er hatte die Hoffnung aufgegeben bei dem Anlegesteg unterhalb des Schlosses