Horst Neisser

Centratur I


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ruhen, bis sie ihr Versprechen wahrgemacht hatte. Dann durchsuchte Akandra ruhig das verwüstete Haus und schnürte aus dem, was sie an Brauchbarem fand, ein Bündel. Marc wartete auf dem zertrampelten Rasen vor dem Eingang. Später kam das Mädchen heraus und legte die Habseligkeiten bei dem Jungen ab. Dann kehrte sie noch einmal zurück, und schlug mit einem Stein Feuer. Rasch waren die Vorhänge in der Halle in Brand gesetzt. Sie flammten sogleich lichterloh auf. Dann griff das Feuer auf die alten hölzernen Deckenbalken über. Eine Zeit lang standen die beiden jungen Leute vor dem einst so prächtigen Gebäude und sahen dem Brand zu. Schließlich wandten sie sich ab und verließen die Stätte des Grauens. Das Mädchen sah sich nicht einmal um.

      „Wir können uns auf den Weg machen“, sagte sie, „hier gibt es nichts mehr zu tun."

      Die hoch in den Himmel züngelnden Flammen beleuchteten ihren Weg.

      „Wohin gehen wir eigentlich?" fragte Akandra.

      „Wir müssen uns nach Heckendorf durchschlagen. Dort sind meine Familie und ein Freund, dessen Namen ich hier nicht nennen darf. Wir müssen alle warnen. Von Heckendorf aus können wir den Widerstand gegen diese Bestien organisieren."

      „Und wie willst du dort hinkommen?" fragte sie spöttisch. „Alle Straßen und Brücken sind doch sicher bewacht."

      „Da magst du Recht haben. Dennoch will ich es im Osten versuchen. Vielleicht haben wir Glück, und die Orokòr sind bereits abgezogen, weil sie hier kein lebendes Wesen mehr erwarten."

      „Ich muss sagen, du hast mir einen bis in die kleinste Einzelheit durchdachten Plan unterbreitet. Wenn wir ihn befolgen, kann einfach nichts mehr schiefgehen." Das Mädchen sprach mit triefender Ironie.

      „Hast du einen besseren Vorschlag?"

      Wildes Geschrei unterbrach den Disput. Von Westen und Süden sahen sie Orokòr herbei stürmen. Die schwarzen Feinde hatten die Flammen des Hauses gesehen und rannten nun, um nach den Brandstiftern zu fahnden.

      „Ein besseres Leuchtzeichen hätten wir nicht setzen können, um auf uns aufmerksam zu machen."

      Aber Akandra sagte nur: „Dieses Begräbnis war ich meiner Mutter schuldig."

      „Und wohin sollen wir uns nun wenden? Bisher hatten wir wenigstens eine kleine Hoffnung, nun sehe ich keine Chance mehr für uns zu entkommen."

      Sie hatte sich bereits wortlos umgewandt und rannte ohne auf ihn zu warten nach Süden. Es war klar, sie wollte zurück in den Wilden Wald. Doch die Orokòr hatten sie inzwischen gesehen und jagten ihnen mit Geheul nach. Orokòr sind ausdauernde und schnelle Läufer, und der Vorsprung, den das Mädchen und der Junge hatten, verringerte sich rasch. Marc hatte das Gefühl seine Lungen würden gleich platzen, aber das Stakkato der eisenbeschlagenen Stiefel hinter ihm spornte ihn an, das Letzte aus seinem Körper herauszuholen. Er lief nun auf gleicher Höhe mit Akandra und sah, wie sie taumelte. Sie war am Ende ihrer Kräfte, und der Wald war noch vierzig Fuß entfernt. Mit festem Griff fasste er sie unter dem Oberarm und zog sie mit sich. Auch die Orokòr hatten gesehen, dass ihre Opfer am Zusammenbrechen waren, und stießen triumphierende Schreie aus. Nun waren es noch zwanzig Fuß bis zu den Bäumen, und die Verfolger hatten sie beinahe eingeholt.

      „Ich kann nicht mehr“, stöhnte das Mädchen.

      „Du musst! Denk an deine Mutter!"

      Die Angst gab ihnen einen letzten Antrieb. Sie stürmten durch Büsche und Bäume. Im Wald war es kühl und so dunkel, dass sie nicht einmal die Hand vor den Augen sehen konnten. Noch immer stützte Marc das Mädchen. Akandra warf sich plötzlich auf den Boden und blieb keuchend liegen. Auch der Junge sank auf die Knie und schnappte nach Luft. Ihm war schwindlig, und er hatte entsetzliches Seitenstechen. Doch sie konnten sich keine Ruhe gönnen, denn sie hörten die Orokòr lärmend näherkommen. Diesmal hielt sie die Angst vor dem Zauberwald nicht zurück. Der Jagdtrieb ließ die schwarzen Gestalten alle Vorsicht vergessen. Sie brachen Äste von den Bäumen und steckten sie in Brand. Im Nu war die ganze Lichtung hell erleuchtet. Die Erits rafften sich auf und schleppten sich weiter.

      „Der Wald mag Feuer nicht“, raunte Akandra. „Ich hoffe, den Orokòr wird das Fürchten beigebracht."

      „Was können Bäume diesen schwer bewaffneten und gepanzerten Schurken schon anhaben?"

      „Der Wald ist mächtiger, als du dir vorstellen kannst."

      Sie zwängten sich vorsichtig und so lautlos wie möglich durch das Unterholz. Dabei achteten sie nicht auf die Richtung, sondern flohen vor dem Licht und dem Lärm. Noch immer hörten sie die Verfolger, die rücksichtslos Sträucher und kleine Bäumchen nieder trampelten. Ihre Fackeln entfachten da und dort kleine Brände. Bald würden sie die Erits einholen. Diese verbargen sich hinter zwei mächtigen Bäumen. An eine weitere Flucht war nicht zu denken. Es blieb ihnen nur noch die Hoffnung, dass die Orokòr an ihnen vorbei stürmen würden, ohne sie zu bemerken. Da hörten sie einen Ruf aus rauer Kehle, der alle Hoffnungen zerstörte: „Hierher, ich kann sie riechen!"

      „Mutter, hilf!" flüsterte Akandra, und Marc stöhnte laut auf.

      In diesem Augenblick begann ein dumpfes Dröhnen. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Die Bäume bogen sich schwingend hin und her. Über das Brummen und Dröhnen erhob sich nun ein schrilles Pfeifen. Die Erits umarmten sich in Panik, ihr Herz schlug ihnen bis zum Hals. Auch die Orokòr wurden von Furcht gepackt und heulten und schrien wild durcheinander. Einige ließen ihre Fackeln fallen, und das dürre Laub des Bodens entzündete sich. Das Vibrieren wurde noch stärker, und das Brummen und Dröhnen war nun so durchdringend, dass alle das Gefühl hatten, der Kopf müsse ihnen bersten.

      Neben Marc war ein riesiger Orokòr aufgetaucht. Er hatte die Augen weit aufgerissen und die Arme erhoben. Gerade als er mit seinen Klauen zuschlagen wollte, stürzte ein mächtiger Ast von einem Baum und erschlug den schwarzen Angreifer. Nun brachen von vielen Bäumen Äste, und jeder Ast traf einen Orokòr. Sie klagten und wimmerten. Plötzlich erwachten auch die Schlingpflanzen, die überall herum hingen, zu eigenem Leben. Sie schlängelten sich von den Bäumen und vom Boden, sie umklammerten hier einen Fuß in groben Lederstiefeln und dort einen Hals und zogen sich mit unwiderstehlicher Gewalt zusammen. Die erdrosselten Orokòr konnten nicht mehr schreien. Sie stöhnten dumpf und brachen dann zusammen.

      Noch immer nahm das Brummen und Dröhnen zu. Die Fackeln der nachströmenden Orokòr entfachten mehr und mehr Brände. Es war zu spüren, dass der Wald immer wütender wurde. Holzstücke durchbohrten die Orokòr trotz ihrer Rüstung. Schwarzes Blut spritzte auf Laub und Stämme. Doch das Grausamste kam zuletzt. Kleine unscheinbare Dornen schossen als Pfeile durch die Luft. Sie bohrten sich in Gesichter, in das nackte Fleisch der Arme und die Hälse. Die Dornen taten nicht besonders weh, aber sie hatten eine furchtbare Wirkung. Sie waren vergiftet, und wer von ihnen getroffen wurde, konnte sich von diesem Moment an nicht mehr rühren. Er erstarrte bei vollem Bewusstsein.

      Bald war von den Orokòr kein Ton mehr zu hören. Auch die Brände erloschen einer nach dem anderen. Dann war es wieder ganz dunkel und still im Wald. Akandra und Marc sanken zu Boden, unfähig einen Gedanken zu fassen, unfähig etwas zu sagen, noch immer von dem furchtbaren Grauen ergriffen. Beide schluchzten und klammerten sich aneinander. So fielen sie in den Schlaf und erwachten erst, als der neue Tag schon weit fortgeschritten war.

      Verwundert blickten sie sich um. Die Ereignisse der Nacht erschienen ihnen im hellen Licht des Tages wie ein böser Traum. Als sie aber die alten Bäume drohend über sich aufragen sahen, schlich sich wieder Furcht in ihre Herzen. Vorsichtig richteten sie sich auf und gewahrten sogleich die erstarrten Orokòr. Mit einem Aufschrei rannten sie los und wagten es nicht sich umzusehen. Blindlings stürmten sie durch die Büsche, bis sie zerkratzt, erschöpft und außer Atem gemeinsam wieder zu Boden sanken. Mühsam bezähmten sie ihre Angst.

      „Wo sind wir?" flüsterte Marc.

      „Ich weiß es nicht."

      „Ob die Orokòr wohl noch hinter uns her sind?"

      „Ich glaube, sie sind alle tot."

      „Das war eine furchtbare Nacht."

      Akandra