Horst Neisser

Centratur I


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sind wir schon gestiegen? Ob es draußen wohl schon wieder Tag ist?"

      „Bitte“, sagte sie, „zünde eine Fackel an. Ich muss unbedingt Licht haben."

      „Du weißt, wir haben nur wenig Holz. Wir werden später noch Feuer brauchen."

      Flehend bat sie: „Bitte!"

      Da richtete er sich auf und entzündete einen der wenigen Äste. Der schwache Lichtschein erleuchtete ihre bleichen Gesichter. Die Treppenstufen aus Stein leuchteten matt, aber sie konnten weder oben, noch unten, noch an den Seiten ein Ende erkennen. Als die Flamme verglommen war, leuchtete sie noch eine Weile in ihren Augen nach. Der plötzliche Verlust des Lichtes war schlimmer als die Dunkelheit zuvor. Um die Freundin zu trösten kramte Marc in seinen spärlichen Vorräten, und sie aßen, langsam und genussvoll kauend, trockenes Brot.

      Dann erhoben sie sich und stiegen weiter. Marcs Fuß war wieder in Ordnung. Sie hielten sich von nun an fest an der Hand. So gaben sie sich gegenseitig ein Gefühl der Sicherheit. Wenn einer stürzte, so würde ihn der andere halten. Sie nahmen eine Stufe nach der anderen, und auf jede Stufe folgte eine neue Stufe. Zu Beginn hatten sie noch versucht, sie zu zählen, aber bald aufgegeben. Sie sahen bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie sich Feuer gönnten, niemals die Decke dieses monumentalen Treppenhauses. Stattdessen spürten sie um sich herum eine ungeheure Weite, die ihnen das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit gab. Gesprochen wurde wenig. Zum einen weil das Treppensteigen sehr anstrengend war, zum anderen weil jeder Laut hier unten einen seltsamen Klang hatte. In der Totenstille hallten ihre Worte nicht, sondern sie verloren sich einfach.

      Einmal fragte Marc: „Wie bist du auf die Idee gekommen, das Tor zu küssen?"

      „Ich weiß es nicht. Das Metall erschien mir auf einmal so schön, und die Berührung mit den Händen war so angenehm, dass ich es einfach tun musste."

      „Die Erbauer dieser seltsamen Anlage haben sich mit dieser Geste etwas Treffliches ausgedacht. Ein Kuss öffnet schließlich auch die Herzen der Menschen. Und so haben sie beschlossen, dass er auch den Zugang zu ihrem Herzen öffnen solle. Was mag das nur für ein Herz sein?"

      „Mit einem Kuss sind Leute aber auch schon verraten worden. Ein Kuss kann ein völlig falsches Signal setzen. Ich hoffe nur, dass unser Abenteuer gut endet. Je länger dieser Abstieg dauert, desto skeptischer werde ich. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir hier je wieder herauskommen. Nicht nur, dass wir nicht wissen, wie das Tor von innen geöffnet werden kann. Ich bezweifle, dass wir in der Lage sind, all die Stufen wieder hinauf zu klettern. Wenn wir es versuchen, brechen wir unterwegs zusammen. Außerdem fehlt uns jeglicher Proviant, und auf eine Gaststätte werden wir hier wohl nicht stoßen. Wir sind in eine Falle getappt und werden dieses dunkle Loch nicht mehr lebend verlassen."

      Marc wusste darauf nichts zu sagen, aber er drückte ihre Hand fester, und sie stiegen verbissen weiter. Immer häufiger wurden sie nun von Wadenkrämpfen überfallen und krümmten sich vor Schmerzen, obgleich sie in immer kürzeren Abständen Pausen einlegten. Ab und zu schliefen sie auch, wobei immer einer Wache hielt und aufpasste, dass der andere im Schlaf nicht die Treppe hinunterrollte. Dieses Wachen war furchtbar. In der Dunkelheit ging die Zeit nicht vorüber. Sie mussten sich mühsam wachhalten und kamen dabei immer wieder ins Grübeln. Ihre Lage erschien ihnen dann in einem so düsteren Licht, dass den Erits manchmal sogar die Tränen über das Gesicht liefen, und sie vor Verzweiflung schluchzten.

      Zum Glück hatte ROM Marcs Wasserflasche mit einem stärkenden Trank aufgefüllt, so dass sie bisher keinen Durst zu leiden hatten. Aber obwohl sie die kostbare Flüssigkeit rationierten, ging sie bald zur Neige.

      „Ich habe Durst“, stöhnte Marc.

      „Wir werden hier jämmerlich umkommen“, klagte Akandra. „Es tut mir leid, dass ich dich in dieses Abenteuer gegen deinen Willen gezwungen habe."

      „Du hast mich nicht gezwungen. Ich wäre sicher auch ohne dein Drängen hier eingestiegen. Wir hatten gar keine andere Wahl. Dem Heimland droht der Untergang, und wir hätten uns bis zu unserem Ende Vorwürfe gemacht, wenn wir dem Tor ausgewichen wären. Vielleicht, so hätten wir uns immer wieder gesagt, wäre dort Hilfe gewesen. Nein, wir mussten diesen Weg ins Dunkel wählen. Ich bin froh, dass wir es gemeinsam gemacht haben. Du warst bisher sehr tapfer, Akandra."

      „Das warst du auch, Marc. Entschuldige, dass ich so überheblich war und ständig meine vornehme Abstammung herausgekehrt habe. Das war töricht und eitel von mir."

      „Ach, ich habe es gar nicht so ernst genommen."

      Dann kam der Augenblick, an dem ihre tastenden Füße keine neuen Stufen mehr fanden. Sie schienen, festen Boden erreicht zu haben. Glücklich fielen sich die beiden Erits in die Arme. Sogleich entzündete Marc einen der kostbaren Äste. Doch wie enttäuscht waren sie, als sie im flackernden Licht sahen, dass es nach zehn Schritten erneut in die Tiefe ging. Sie hatten lediglich einen Treppenabsatz erreicht.

      Entmutigt sanken Marc und Akandra zu Boden und starrten apathisch ins Dunkel. Ein Geräusch ließ sie auffahren. War es schon immer da gewesen? Hatten sie bisher nur nicht darauf geachtet? Leise hörten sie etwas plätschern. Sie tasteten sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Zitternd steckte Marc einen der letzten Äste in Brand. Da sahen sie eine runde Vertiefung. Es war ein Wasserbecken, aus dem köstliches Nass als Fontäne sprühte.

      „Ob man es trinken kann?" flüsterte Akandra und, ohne lange zu überlegen, schöpfte sie mit der hohlen Hand und kostete. Auch ihr Begleiter hielt sich nicht zurück. Beide löschten sie in tiefen Zügen ihren Durst. Es war kein gewöhnliches Wasser. Der Trank schmeckte süß und vertrieb den Hunger.

      „Was ist, wenn der Brunnen vergiftet ist?" fragte er.

      „Oder gar verzaubert“, fügte sie furchtsam hinzu.

      „Ach, was soll's“, sagte Marc. „Wir haben keine andere Wahl. Entweder sterben wir durch das Wasser oder verdursten ohne das Wasser. Im Übrigen fühle ich mich schon viel wohler."

      In der Tat strömte neue Kraft durch ihre gemarterten Körper. Sie füllten die Feldflasche bis zum Rand und setzten sich bequem und zufrieden auf den Boden. Schläfrig nickten sie ein. Keiner musste wachen, denn es bestand keine Gefahr, im Schlaf die Treppe hinunterzurollen. Seit langem schliefen sie wieder ohne Angst. Es wurde ein langer Schlaf, und sie erwachten frohgemut, naschten noch einmal aus der Quelle und machten sich dann gesättigt und ohne Durst auf den Weg. Die Müdigkeit, die bleischwer auf ihnen gelastet hatte, war wie weggeblasen. Energie und Hoffnung begleiteten sie auf dem weiteren Abstieg.

      Aber schon nach einer Stunde kamen ihnen wieder Zweifel und Fragen. Welchem Zweck konnte eine derartige Treppe dienen? Wer waren die Erbauer? Wohin führte sie? Was erwartete sie an ihrem Ende? Gab es überhaupt ein Ende? Würden sie jemals wieder das Tageslicht sehen? Diese Stufen führten unter die Wurzeln der Gebirge, sie führten tiefer, als es sich lebende Wesen vorstellen konnten.

      In endloser Gleichförmigkeit setzten sie Fuß vor Fuß und hielten sich an den Händen, die feucht und glitschig wurden. Immer schwieriger wurde es, den anderen festzuhalten. Die Kleider klebten ihnen am Leib. Schweiß lief ihnen über Gesicht und Arme.

      Akandra sprach es zuerst aus: „Ich glaube, es wird wärmer."

      „Ich habe auch das Gefühl."

      „Was aber, wenn es so heiß wird, dass wir verbrennen?"

      „Das glaube ich nicht. Die Erbauer dieser Treppe mussten schon zu ihrem eigenen Schutz Vorkehrungen gegen die Hitze getroffen haben."

      Bald hielten sie es nicht mehr aus. Sie zogen sich nackt aus und stopften ihre Kleider in Marcs Rucksack.

      „Nun bin ich doch recht froh, dass es dunkel ist“, kicherte das Mädchen.

      „Ich kann es kaum erwarten, den nächsten Ast anzuzünden“, Marc nahm den Scherz auf.

      Lachend stiegen sie weiter, bis die Stufen wiederum endeten. Sie hatten den nächsten Treppenabsatz erreicht. Sogleich suchten sie nach einem Brunnen. Tatsächlich, auch hier fanden sie ein Becken, aus dem köstliches Nass sprudelte. Sie labten sich und fielen bald darauf