Horst Neisser

Centratur I


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besteht nämlich Hoffnung. Noch ist die Welt nicht völlig in den Klauen des Bösen. Damit sie aber gerettet werden kann, müssen die Lebenden zu ihren Ursprüngen zurückkehren, so wie ihr es getan habt. Das Licht auf der Treppe muss wieder leuchten, und es darf keine Angst herrschen, wenn sie begangen wird. Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg."

      „Warum sind wir hier?" fragte Akandra, die sich wieder gefasst hatte.

      „Weil ich eure Hilfe brauche."

      Diese Eröffnung ließ die jungen Leute verstummen. Verständnislos sahen sie sich an.

      Rutan und Vespucci

      Weiße Lichtstreifen durchschnitten die Luft und ließen die Halle noch höher erscheinen, als die Älteren mit ruhiger Stimme begannen:

      „Lasst eure Gedanken in weite Fernen schweifen. Ihr werdet jetzt von Völkern und Geschehnissen hören, von denen in ganz Centratur noch niemand vernommen hat."

      „Nicht einmal Aramar?" fiel Marc eifrig ein.

      „Nein, auch Aramar weiß nichts davon, und sein Wissen reicht wahrlich weit."

      „Wie habt dann ihr davon Kenntnis erlangt?" Akandra hatte mit leiser Stimme gefragt.

      „Weil ich überall bin. Aber lasst uns beginnen! Die euch bekannte Welt ist groß. Noch größer aber sind die Gebiete, von denen ihr keine Kunde habt. Sie sind so weit entfernt, dass bei euch nicht einmal ihre Namen bekannt sind. Was liegt jenseits der Wüste Soltai? Wahrscheinlich könnten diese Frage nicht einmal die Zauberer beantworten. Keiner eurer Weisen hat sich je für die Welt jenseits der Grenzen von Centratur interessiert, selbst im Weißen Rat wurde nie über sie gesprochen. Der Ferne Osten ist ein weißer Fleck auf euren Landkarten, und die meisten Atlanten weisen nicht einmal diese Flecken aus.

      Natürlich habe ich darüber nachgedacht, weshalb die Leute von Centratur sich nicht um den Osten kümmern. Weshalb für sie hinter Volan die Welt zu Ende ist. Vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung für eure Unkenntnis. Niemand hat euch bisher von diesen fernen Gegenden berichtet, denn die dort waren, schweigen. Und doch werden vom fernen Osten seit geraumer Zeit die Geschicke in eurer Heimat bestimmt."

      Die Älteren sahen die verständnislosen Augen ihrer Besucher und lächelten.

      „Die Welt, auf der ihr lebt, ist wie ein runder Ball. Wenn ihr nach Osten lauft, gelangt ihr irgendwann wieder zu der gleichen Stelle zurück, von der ihr losgegangen seid. Das Gleiche geschieht, wenn ihr nach Westen geht. Nun stellt euch vor, ihr beginnt eine lange Wanderung rund um den Erdball. Ihr kommt dabei durch viele Länder und erreicht endlich ein großes Gebiet. Es heißt Gagaia. Dort leben Menschen, die eine eigene Sprache sprechen. Ihr könntet euch mit diesen Leuten nicht verständigen.

      Die Natur hat es gut mit diesem Teil der Erde gemeint, denn dort ist es warm und schön. Nie wird es richtig Winter. Die Böden sind fett und fruchtbar. Naturkatastrophen wie Erdbeben oder wilde Stürme hat es dort bisher nicht gegeben. Seit undenklichen Zeiten siedeln auf Gagaia Leute, und es waren alle Voraussetzungen für sie gegeben, glücklich zu werden. Aber nichts ist wirklich vollkommen. Die Geschöpfe von Gagaia haben sich nämlich nicht zu einem großen Volk vereinigt und ihr geschenktes Glück genossen, sondern sich geteilt und voneinander abgesetzt. Es entstanden zwei Reiche: Rutan und Vespucci. Diese unterscheiden sich voneinander wie Feuer und Wasser, Musik und Stille, Tag und Nacht. Ihr könnt euch diesen Unterschied kaum vorstellen, deshalb muss ich ihn näher beschreiben.

      Lasst mich von dem ersten Land erzählen. Es heißt Vespucci und seine Bewohner haben große Köpfe und Hände mit langen Fingern, deren Nägel sie nie schneiden. Damit diese Fingernägel nicht abbrechen, sind sie geborgen in Futteralen aus Gold und Silber und verziert mit Edelsteinen. Von Gestalt sind diese Wesen klein mit kurzen Beinen und kurzen Armen. Auf dem Kopf haben sie keine Haare.

      Die Völker in diesem fernen Erdteil sind, wie ich schon sagte, sehr alt. Älter vielleicht als alle Geschöpfe in Centratur mit Ausnahme der Achajer und der Zauberer. Die Vorfahren der Vespucci waren die sagenhaften Gulps, die einst tief unter der Oberfläche im Innern der Erde bei den Wurzeln der Gebirge lebten. Sie gruben dort kunstvolle Gänge und Hallen und schufen Schmuck und wundersame Gegenstände."

      „So wie die Zwerge?" warf Marc ein.

      „Mit den Zwergen kannst du die Vespucci nicht vergleichen. Die Kunst der Zwergenschmiede ist zwar in Centratur unübertroffen, aber sie sind Stümper gegenüber diesem Volk. Obgleich es möglich ist, dass auch die Zwerge von den Gulps abstammen. Doch dafür fehlt bisher jeder Beweis, und die Vespucci hegen keine Zuneigung für die Zwerge. Die Gulps jedenfalls schufen nicht nur wunderbare Welten in der Tiefe, sie konnten dort unten das Dunkel sogar hell erleuchten, so als ob die Sonne schiene. Als die Berge irgendwann von Wind und Wasser und der Zeit abgetragen worden waren, kamen die Gulps ans Tageslicht und wandelten sich im Lauf von Äonen zu den Vespucci.

      Die Vespucci sind noch immer große Handwerker und Künstler. Zum Vergnügen formen sie aus Stein die wunderbarsten Bildnisse. Selbst die Häuser, in denen sie wohnen, sind Kunstwerke. Im Lauf der Jahrtausende schufen sie sich ein Reich voller Schönheit und Bequemlichkeit."

      „Dann kann die Welt doch viel von ihnen lernen“, wandte Akandra ein.

      „Auf den ersten Blick ja. Es geht tatsächlich etwas Verführerisches von diesem Volk aus. Aber dem muss man sich widersetzen. Die Vespucci sind nämlich von ihren eigenen Fertigkeiten so fasziniert, dass sie nur noch das akzeptieren und um sich dulden, was von ihnen selbst geschaffen wurde. Alles andere, auch das, was die Natur hervorbringt, haben sie ausgemerzt. Überall gibt es nur von Vespuccihand Geschaffenes. Ihr ganzes Reich ist angefüllt mit prächtigen Bauwerken, Skulpturen und anderen Produkten ihrer Kunstfertigkeit.

      Sogar das Aussehen ihrer Kinder wollen sie selbst bestimmen. Sie sind der Meinung, dass das, was schwangere Frauen sehen und erleben, die Frucht in ihrem Leib formt und gestaltet. Deshalb umgeben sie die Frauen vor der Geburt mit Bildern und Skulpturen in der Art, wie sie sich die Kinder wünschen. Eine Familie, die einen blonden Jungen begehrt, lässt die werdende Mutter nur noch blonde Jungen und Männer sehen. Die anderen wollen ein schlankes, schwarzhaariges Mädchen und verfahren ebenso. Ob diese Methode erfolgreich ist, sei dahingestellt. Aber die Vespucci halten sich streng daran.

      Die Kunst spielt in diesem Land überhaupt eine große Rolle. Es werden dort die wunderbarsten Kunstwerke geschaffen. Manche der Bilder oder Figuren sind so schön, dass man den Blick nicht mehr von ihnen abwenden kann. Verweilt man länger als ein paar Minuten, vergisst man die Welt um sich her und verfällt in eine lähmende und nicht zu lösende Verzückungsstarre. Um dem entgegenzuwirken befinden sich die Vespucci ständig in hektischer Betriebsamkeit. Niemand bleibt längere Zeit gelassen an einer Stelle. Es scheint, als haben die Leute Angst vor ihren eigenen kunstvollen Produkten.

      Am meisten aber ekeln sie sich vor der Natur. Wenn sich irgendwo ein Grashalm sehen lässt, ein Baum oder ein Strauch zu keimen beginnt, dann wird er sofort ausgerissen. In ihren Augen ist alles Natürliche hässlich und gefährlich. Schließlich beeinträchtigt die sich frei entfaltende Natur die Ordnung, die sie in ihrer Welt geschaffen haben. Es gibt einen eigenen Berufsstand bei ihnen, der ihre Welt vor dem Hervortreten von Natur bewahrt. Er ist organisiert wie ein Soldatenheer. Seine Mitglieder nennen sich Wächter und Verteidiger der Freiheit, und das sind sie auch: Sie bewachen das Land vor der Natur.

      Zwar leben die Vespucci in prächtigen marmornen Palästen, aber ihr werdet dort keine blühenden Gärten finden. Überhaupt singen in diesem Land keine Vögel und keine Hasen hoppeln über Felder. Die Tiere könnten auch dann nicht überleben, wenn man sie nicht ausgerottet hätte, denn sie fänden keine Nahrung. Die Erde ist mit einer Schicht aus Stein überzogen. Aber es ist ein besonderer Stein, denn auch er wird, wie könnte es anders sein, künstlich hergestellt. Es ist schwer, euch eine Vorstellung zu geben, wie es dort aussieht. Das Land ist so ganz anders als das Heimland. Keine Hühner laufen auf den Gassen frei herum und scharren im Boden nach Nahrung. Keine Kühe werden morgens auf die Wiesen getrieben, und keine Schweine grunzen hinter den Häusern."

      „Aber die Leute müssen doch von etwas leben? Alle Lebewesen müssen essen. Wie kann man leben, ohne