schlief im tiefen Gras im Schatten eines goldenen Busches. Pareira, so hieß die schöne Frauengestalt, näherte sich dem Schlafenden, setzte sich zu ihm und strich ihm sanft über das Haar. Sie war nackt, damit sie sich von den Rutanern nicht unterschied. Ihre Schöpfer hatten inzwischen gelernt, dass sie nur mit Anpassung etwas erreichen konnten. Als der König erwachte, beugte sie sich über ihn und sah ihm tief in die Augen. Kein Mensch, kein Zwerg und auch kein Erit hätte diesem Blick widerstehen können. Jeder hätte sich und sein Herz sofort an dieses Weib ausgeliefert."
„Ich nicht!" sagte Marc noch einmal zu sich, und wieder lächelte die Frau.
„Nicht so der Herrscher der Rutaner. Er sprang auf, stieß sie von sich und rief: 'Du bist kein Geschöpf meines Landes. Noch nie habe ich etwas so Künstliches gesehen wie dich. Du befleckst diese reine Lichtung. Dein Anblick beleidigt die Bäume und das Gras, die Tiere und die Vögel.'
Dann ließ er sie fesseln und über die Grenze nach Vespucci zurückbringen."
Die Erzähler machten eine Pause und alle hörten, wie Marc bewundernd zwischen den Zähnen herauspresste: „Was für ein Mann!"
Da lachten die alten Männer und auch die alten Frauen laut und herzlich, und am lautesten lachte Akandra. Sie gluckste immer noch vor Vergnügen, als ein heller Lichtstrahl durch den Raum zog. Dann nahmen die Älteren den Bericht wieder auf.
„Die Vespucci waren über den Misserfolg ihrer Mission wütend und enttäuscht, aber sie gaben nicht auf. Sie versuchten es nun mit der Zauberei. Die weisesten und mächtigsten Männer des Landes zogen sich für ein ganzes Jahr in den Haupttempel im Innern der Hauptstadt zurück. Dort schufen sie unter Einhaltung seltsamer Riten und Zeremonien mit vereinten Kräften eine Halskette. Ja, an einer Halskette aus Perlen und Edelsteinen arbeiteten die besten Männer des Landes ein ganzes Jahr. Aber es war eine besondere Kette. Sie nahm unwiderstehlichen Einfluss auf ihren Träger. Hatte er sie einmal angezogen, so war er unfähig, sie wieder abzulegen und verfiel in tiefste Liebe zu dem ersten weiblichen Wesen, das er erblickte.
Die Weisen der Vespucci übergaben die Kette den besten Kriegern des Landes. Sie sollten sie im Königspalast der Rutaner so auslegen, dass sie der Herrscher finden musste. Mit den Kriegern ging Pareira. Ich kann hier nicht berichten, welche Abenteuer die vier bei der Erfüllung ihres Auftrages erlebten. Es war ein weiter und gefährlicher Weg ins Herz von Rutan. Die Menschen dort und alle Tiere des Landes hatten nämlich inzwischen erkannt, dass die Feinde von jenseits der Grenze ihrem König nachstellten. Sein Schutz war die zentrale Aufgabe eines jeden Einheimischen geworden. Kein Fremder sollte mehr in den Palast eindringen können. Die Abordnung der Vespucci aber meisterte den schweren Gang. So viel ist von ihrer Mission überliefert: Alle Krieger starben auf dem Weg, und nur Pareira und die Kette erreichten das Ziel.
Ich will es kurz machen. Pareira streifte mit einer List die Kette über den Kopf des jungen Königs. Dann fiel sein Blick auf Pareira und wie beabsichtigt war ihr vom gleichen Moment an verfallen. Seit dieser Zeit ist das Reich der Rutaner in der Hand der Vespucci."
„Das ist schade“, sagte Marc enttäuscht. „Gibt es denn keine Rettung für die Rutaner?"
„Die Sage verheißt, dass das Königreich nur gerettet werden kann, wenn es jemandem gelingt, dem König die Kette wieder abzustreifen. Dies ist aber so gut wie unmöglich. Er wird von seinen eigenen Landsleuten und natürlich von den Vespucci streng bewacht, und er tötet jeden ohne Zögern, der seiner Kette zu nahekommt. Außerdem ist da noch Pareira, die mit ihm lebt und ebenfalls aufpasst."
„Eine traurige Geschichte“, meinte Akandra, „doch warum habt ihr sie uns erzählt?"
„Weil ihr davon betroffen seid! Weil deine Mutter wegen dieser Geschichte gestorben ist!"
Ungläubig und verwirrt starrte das Mädchen die alten Leute an, sagte aber nichts. Lange herrschte Schweigen, bis die Älteren fortfuhren: „Die Vespucci sind mit ihrem Sieg über die Rutaner nicht zufrieden. Sie möchten die ganze Welt beherrschen. Schon viele Jahrhunderte blicken sie begehrlich auf andere Länder und Kontinente. Nur ihre Kriege mit den Rutanern hatten sie bis dahin abgehalten, die ganze Welt zu erobern. Nun, nachdem die Nachbarn in ihrer Gewalt sind, hindert sie niemand mehr, ihre Pläne zu verwirklichen."
„Was gehen die Vespucci die anderen Länder an?" fragte Marc erstaunt. „Und was haben wir mit diesem seltsamen Volk zu schaffen?"
„Ich habe schon gesagt, die Vespucci sind der Meinung, dass ihre Art zu leben die einzig richtige ist. Deshalb, so glauben sie, sei es ihre heilige Pflicht, als besonders erwähltes Volk, die Erde zu befreien. Und natürlich wollen sie auch, dies sollte man nicht unerwähnt lassen, den anderen Völkern, wenn sie unterworfen sind, ihre künstlichen Waren verkaufen. Diese geraten dann, um alles bezahlen zu können, in eine Art Sklaverei zu den Vespucci. Dies ist eine völlig neue Form der Weltherrschaft.
Da diese Ziele ihrer Meinung nach große und ehrenvolle Aufgaben sind, dürfen sie auch jedes Mittel dafür einsetzen. Es gibt nichts Verwerfliches, keine Grausamkeit, keine Heimtücke, die sie nicht anwenden würden. Alles rechtfertigen sie mit dem Satz: Es ist im Interesse und dient dem Wohl von Vespucci."
„Diese Vespucci öden mich an!" Akandra stieß die Worte wütend hervor. „Ich will nichts mehr von ihnen hören."
„Du wirst dich aber mit ihnen beschäftigen müssen. Der Einfluss der Vespucci ist überall. Seit vielen Jahren senden sie Agenten rund um den Erdball. Mit ihrer Hilfe lenken sie schon weitgehend die Geschicke der anderen Völker. Ormor ist ein Agent dieses Volkes, und sein Reich eine vorgeschobene Bastion. Dies hat damals im Großen Krieg niemand begriffen. Auch Aramar sah die Wahrheit nicht. Aber wie sollte er auch!"
„Erzählt uns etwas über den Zauberer“, unterbrach Marc an dieser Stelle die Alten. Diese weit ausholende Erzählung begann ihn zu langweilen. Was kümmerten ihn Länder fern von seinem Heimland! Er wollte konkrete Dinge hören, die ihn und seine Heimat betrafen. Für Geschichten war keine Zeit. Dass Vespucci-Agenten die Geschicke in Centratur lenken sollten, schien ihm an den Haaren herbeigezogen.
Die Alten erklärten: „Aramar war lange vor euch und kam lange nach mir. Er weiß viel und weiß doch nichts, aber er weiß wenigstens, wie wenig er weiß. Dies macht ihn weise. Ohne ihn und seine schützende Hand wäre Centratur längst verloren. Er hat sein Leben den guten Wesen dieser Länder gewidmet und nie viel Aufhebens davon gemacht. Ob er euch jetzt retten kann, muss sich erst noch weisen. Alleine wird es ihm sicher nicht gelingen. Bist du zufrieden mit meiner Antwort?"
Enttäuscht schüttelte Marc den Kopf, aber er sagte nichts, und die Gastgeber fuhren fort: „Ormor sollte Centratur für eine Übernahme durch die Vespucci vorbereiten. Aber das wusste er selbst nicht. Er glaubte, seine eigenen Interessen zu verfolgen und war doch nur eine Schachfigur, die andere zogen. Das ferne Volk benutzte ihn und seine Machtgier. Aber, wie ihr wisst, konnte dieser Angriff damals abgeschlagen werden. Ormor verlor damals, weil alle guten und vernünftigen Leute zusammengehalten haben, und weil sich Til und Marcs Vater so wacker geschlagen haben. Mit den kleinen Erits hatten weder die Vespucci noch ihr Diener gerechnet.
Zurzeit machen die Vespucci wieder einen Versuch, in Centratur Fuß zu fassen. Sie haben Ormor wieder befreit, dessen Machtstreben sie hemmungslos benutzen, und er weiß es nicht einmal. Es ist jemand, der alle an Bosheit, Heimtücke und Grausamkeit übertrifft. Er gebietet über Zauberkräfte von großem Ausmaß, und ihm haben sich alle Taugenichtse und finsteren Geschöpfe angeschlossen. Wie Exkremente die Schmeißfliegen so zieht er alles an, was grausam und gemein ist. Die Orokòr habt ihr selbst schon erlebt. Er hat schon den Vorfahren der Menschen und Achajern das Leben schwergemacht.
Immer wieder hat er die Länder mit Krieg überzogen und alle Lebewesen tyrannisiert. Bis er von Erits besiegt und von den Achajern in einen Berg gebannt werden konnte. Man konnte ihn leider nicht töten. Dort wartete er auf seine Zeit. Die Habbas waren mit der Wache des Berges betraut. Derweil saß der furchtbare Alte an einem steinernen Tisch und sein weißer Bart wurde länger und länger. Mit ihm im Fels in völliger Finsternis, halb schlafend, halb wachend, tot und gleichzeitig höchst lebendig, wartete sein gesamtes Heer. Dieses Heer ist das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann. Wie gesagt, man glaubte diese dunkle und böse