ihr Haar weiß. Keine jungen Leute fanden sich, die ihre Reihen ergänzt hätten. Der Berg war nun zwar nicht ungeschützt, denn noch immer blieben sie im Vergleich mit anderen Menschen mächtige Krieger, aber er wurde anfälliger."
„Wie wurde dieser Mächtige aus dem Berg befreit?" fragte Marc atemlos. „Ich nehme doch an, dass dies geschehen ist."
„Ja, genauso verhält es sich. Während Pareira noch den König der Rutaner umgarnte, waren die Agenten der Vespucci schon unterwegs. Sie suchten die sechs tüchtigsten, aber auch skrupellosesten Kämpfer der Welt und sandten sie zu dem Berg. Die alten Wächter verteidigten sich verbissen und mit großer Tapferkeit, aber sie hatten keine Chance. Zuletzt wurde das Ungeheuer befreit. Als erstes kehrte es auf sein Dunkles Schloss zurück. Dann warf es seine finsteren Netze über Centratur. Damit begann der Untergang."
Die Gesichter der alten Frauen und Männer waren ernst und von tiefer Sorge erfüllt. Auch die jungen Leute schwiegen betroffen. Natürlich hatten sie von dem Zauberkönig gehört. Er war in den alten Sagen vorgekommen. Sein Name rief bei allen Geschöpfen stets tiefes Entsetzen hervor, obgleich jeder seine Existenz bisher für ein schauerliches Märchen gehalten hatte. Diese grauenvolle Gestalt sollte Wirklichkeit sein, sollte hinter dem Überfall auf das Heimland stecken? Die Sage materialisierte zu einem Teil der Gegenwart. Damit mussten die beiden Erits erst einmal fertig werden. Die alten Leute schenkten ihnen ihre Geduld und die dazu nötige Zeit.
Schließlich fasste sich Marc: „Wenn ich euch richtig verstanden habe, so steht hinter dem Zauberkönig ein anderer Wille. Er wurde im Auftrag der Vespucci befreit, damit er Centratur mit Krieg und Unheil überzieht. Später wollen sie, so vermute ich, selbst die Herrschaft übernehmen. Der Zauberkönig ahnt wahrscheinlich gar nicht, dass er nur den Weg bereiten soll. Die eigentlichen Drahtzieher sind demnach die Leute von der anderen Seite der Erde. Kann man ihnen denn nicht Einhalt gebieten?"
„Niemand kann sie aufhalten." Die Stimme des alten Mannes klang dumpf. „Die einzigen, die diesem fürchterlichen Volk bisher ebenbürtig waren, sind die Rutaner. Aber durch Pareira haben die Vespucci sie in ihrer Gewalt. Nun steht niemand mehr zwischen den Vespucci und der Weltherrschaft, und die wird fürchterlich werden."
An dieser Stelle machten die Greise wieder eine lange Pause. Endlich sagte eine der Frauen: „Ich habe lange gesprochen. Nun ist es Zeit zum Essen und zum Ruhen."
„Dazu haben wir keine Zeit“, antwortete Marc hastig. „Wir müssen etwas unternehmen. Es muss etwas geschehen!"
„Es wird etwas geschehen! Doch wisset, alles hat seine Zeit, und jetzt ist die Zeit der Ruhe!"
Die Älteren erhoben sich wie auf einen gemeinsamen Befehl und ihre Gäste taten es ihnen nach. Die Prozession bewegte sich durch die Mitte der hohen Halle. Voraus gingen die Männer, hinterher kamen die Frauen und die Weltkinder liefen in der Mitte. An der Schmalseite des Raumes war ein zweiflügeliges Tor. Es stand offen und gewährte den Blick auf hellen Kerzenschein. Neugierig schritten Akandra und Marc in ein Zimmer mit offenem Kamin. In der Mitte stand ein langer, gedeckter Tisch. Jetzt bemerkten die Erits auch ihren Hunger. Das Frühstück lag schon lang zurück.
Man nahm Platz und alle sprachen dem Wein und den Speisen kräftig zu. Geredet wurde während des Essens wenig. Einmal wollte Marc mit einer Frage das Gespräch aus der großen Halle wiederaufnehmen, aber man gebot ihm Schweigen. Hier werde über diese Dinge nicht gesprochen, sagte man. Die Heiterkeit dieses Ortes dürfe nicht beeinträchtigt werden.
„Ich dachte nicht, dass die Unterwelt heiter sein kann“, warf Akandra ein.
Man entgegnete dem kecken Einwurf mit der ernsten Frage: „Warum sollte sie es nicht sein?"
„Nun, vielleicht wegen all die schlimmen Ereignisse, die oben in der Welt geschehen? Oder seid ihr etwa heiter, weil ihr von all den Gemeinheiten und Grausamkeiten, mit denen wir uns plagen müssen, nicht betroffen seid?" Marcs Stimme war plötzlich wieder voller Vorwürfe.
„Ich sage es dir noch einmal“, wurde ihm geduldig geantwortet, „ich bin kein Zyniker, und natürlich ist das Leid der Lebewesen in der Oberwelt auch mein Leid. Glaubst du, das Elend meiner Kinder würde mich nicht berühren? Ganz besonders schmerzt es mich, dass die Vespucci, die natürlich auch von mir abstammen, sich so weit von meinem Geist entfernt haben. Und selbst wenn es sich nicht um meine Kinder handelte, so wäre ich doch betroffen, denn niemand ist ganz für sich allein. Jeder ist Teil des Ganzen. Wenn deiner Mutter, Akandra, etwas so Furchtbares zustößt, so trifft es auch mich. Es trifft mich mehr, als ihr ahnen könnt. Größe aber liegt darin, die Heiterkeit nicht zu verlieren. Es hat lange gedauert, bis ich so weit war."
Tränen traten Akandra in die Augen, und bitter antwortete ihr Begleiter: „Wenn ich so weit vom Ort des Geschehens entfernt wäre wie ihr, dann könnte ich mir auch eure Abgeklärtheit und Würde leisten."
Stille breitete sich nach diesen bösen Worten über der Tafel aus. Dann sagte die Frau, die rechts neben Marc saß: „Mitleid und feste Gesinnung schließen einander nicht aus."
So etwas Ähnliches, überlegte Akandra, hatte sie vor nicht allzu langer Zeit schon einmal gehört.
Man begab sich in einen Nebenraum, in dem bequeme Stühle standen. Während sich alle niederließen, ergriff einer der Männer eine Flöte. Das klare, helle Lied blieb gleichsam im Raum stehen, und Marc, der Musik hauptsächlich vom Singen und Pfeifen kannte, war ganz ergriffen. Diese Musik klang so ganz anders als die Trompeten und Trommeln, die auf den Volksfesten im Heimland die trunkenen Erits unterhielten.
Plötzlich stand Akandra auf und sang. Sie sang ein einfaches Lied, das ihr Vater sie einst gelehrt hatte. Es war so schlicht, dass sie sich ein wenig schämte, es hier vor den Älteren vorzutragen. Aber irgendetwas drängte sie, und sie gab diesem Drängen nach.
Es war ein Lied aus ihrer Kindheit. Ihr Vater, Marrham von Hagen, hatte es ihr oft vorgesungen. Er selbst hatte die Weise einst in Whyten gehört. Dort hatten die Menschen das Lied in der Nacht vor der großen Schlacht gegen die Heere des Herrschers von Darken angestimmt. Sie hatten damit ihren furchtsamen Herzen Mut gemacht, und Marrham war sein Leben lang von der Macht dieses schlichten Gesangs fasziniert geblieben.
„Die Nacht, sie muss nicht dunkel sein,
der große Schmerz vergeht.
Ist auch mein Mut bis jetzt noch klein,
mein Wille dennoch steht!
Der Baum, der biegt sich auch im Wind;
selbst wenn ein Ast ihm bricht,
er bleibt doch fest und hält es aus,
und Furcht, die kennt er nicht.
Der Sturm, der wird vorübergehn,
dann steht der Baum noch da,
so prachtvoll, schön und ungebeugt,
so wie er immer war."
Marc sah die Gefährtin verwundert an. Sie hatte ihn in den vergangenen Tagen mehrfach verblüfft. Und mit einem Mal liebte er sie. So muss es im Himmel sein, dachte er sich, und saß ganz still. Später kehrten sie gemeinsam in die große, zentrale Halle dieser Unterwelt zurück. Alle nahmen wieder auf ihren Stühlen Platz, und die Beratung ging weiter. Sofort verdrängte das drohende Unheil die heitere Gelassenheit, die für einige Zeit die kleine Gesellschaft abgelenkt hatte.
Marc nahm als erster den Faden wieder auf: „Gibt es eine Chance, dass die Rutaner sich dem Einfluss der Vespucci wieder entziehen können? Sie würden dann, wenn ich alles richtig verstanden habe, dieses machtbesessene Volk aufhalten, und die Welt wäre gerettet."
„Die Rutaner wären sicher starke Verbündete für die Völker der Erde. Ihre Befreiung wäre eine große Hoffnung."
„Was können wir Erits dabei tun? Warum habt ihr uns dies alles erzählt?" Akandra war verwirrt. „Rutan und Vespucci sind so weit weg und doch so nah. Es klingt wie eine Geschichte aus dem Märchenbuch meiner Kindheit und lässt mich vor Angst dennoch schaudern. Wir reden hier über die Rettung der Welt und schämen uns nicht ob dieser Vermessenheit."