Horst Neisser

Centratur I


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sie sich größte Mühe geben. Aber wenn sie schon zu ihrem Kummer noch Essen und Trinken müssen, so wollen sie doch beim Essen nicht daran erinnert werden, dass die Nahrung in ihrem Ursprung natürlich ist. Es kommen keine gebratenen Hühnchen und keine knackigen Äpfel auf den Tisch. Vielmehr bearbeiten sie die Nahrung so lange, bis alle Erinnerung an ihr ehemaliges Aussehen verschwunden ist. Sie wird zu Würfeln oder Kugeln geformt und dann serviert. Wenn die Vespucci dann endlich essen, können sie nicht mehr erkennen, woraus ihre Nahrung einst bestanden hat, und woraus sie hergestellt worden ist.“

      „Aber Tiere gibt es doch noch?“

      „Ja, aber sie sind in eisernen Käfigen zusammengepfercht und sehen nie das Tageslicht. Sie leben einzig und allein zu dem Zweck geschlachtet zu werden. Und ich glaube, der Tod ist für sie eine Erlösung. Gemüse und Obst pflanzen sie in fremden Ländern an, die sie erobert haben. Sie wollen keine Pflanzen in ihrem Land Vespucci dulden.

      Die Vespucci haben, wie ihr seht, große Angst vor dem Natürlichen, aber sie sind wahre Meister im Erfinden. Sie haben zum Beispiel unterschiedliche Metalle zusammengefügt, und der entstandene Stoff ist härter als alles, was ihr euch vorstellen könnt. So leben sie im Wohlstand und müssen sich nicht für ihren Lebensunterhalt mühen. Sie sind umgeben von schönen Dingen und größter Bequemlichkeit. Alles ist ihnen wohlgeraten. Aber ihre Herzen sind ohne Mitleid, und sie sind stets bestrebt, ihr Reich auszudehnen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, die übrige Welt nach dem Vorbild ihres Landes zu formen. In grausamen Kriegen haben sie alle Nachbarn unterworfen. Nur so, wie sie selbst leben, so meinen sie, wäre das Leben lebenswert. Deshalb sagen sie, wenn sie andere Länder versklaven, dass sie ihnen die Freiheit bringen. Die Vespucci versprechen allen Völkern Glück und Reichtum und ein bequemes Leben, wenn sie nur ihre Herrschaft und die Art des Vespucci-Lebens anerkennen.

      Ein Land jedoch, und ausgerechnet mit ihm teilen sich die Vespucci eine Grenze, hatte ihnen lange widerstanden. Es liegt noch weiter im Osten und wird von einem König regiert. Seine Bewohner nennen es Rutan. Sie sind hochgewachsen und haben ebenmäßige Züge. Das Land der Rutaner unterscheidet sich von dem der Vespucci wie Feuer von Wasser. Ist dort alles künstlich, so ist hier alles natürlich. Wird dort alles Natürliche vernichtet und umgestaltet, so wird hier die Natur völlig sich selbst überlassen. Menschenwerk gilt als unanständig, ja manchmal sogar als Verbrechen. Alle Pflanzen wuchern, ohne dass menschliche Hände sie zähmen. Ein Eingriff in die Natur oder gar ihre Lenkung ist bei Strafe verboten. Dein Vater, Marc, wäre als Gärtner dort ein großer Verbrecher.

      Zusammenfassend kann man sagen: Das eine Volk verehrt die tote Materie und betet sie an. Für die anderen ist das Lebendige heilig und darf nicht beeinträchtigt werden."

      „Dann sind die Rutaner also ein sehr friedliches Volk, das im wahrsten Sinne des Wortes keiner Fliege etwas zu leide tut“, ließ sich Akandra vernehmen.

      „Täusche dich nicht! Die Fliegen lassen sie sicher in Ruhe, aber bei ihren Feinden sind die Rutaner gefürchtet. Sie gelten als grausam und unbarmherzig im Krieg. Von einem friedlichen Volk kann keine Rede sein."

      „Das verstehe ich nicht. Das widerspricht sich doch?"

      „Alles Lebendige ist widersprüchlich. Widerspruch ist ein Wesenszug des Lebens. Doch hört weiter. Das Land Rutan ist wie ein riesiger Dschungel voller wilder Tiere. Auch die Pflanzen sind ungebändigt und gefährlich. Aber Tiere und Pflanzen leben mit den Einwohnern in Frieden. Die Rutaner haben nichts von ihnen zu befürchten, obgleich sie sich nicht einmal gegen die Angriffe der Tiere und Pflanzen wehren würden. Aber wehe, wenn jemand von außerhalb die Grenzen überschreitet. Dann fallen alle zusammen, Menschen, Pflanzen und Tiere über ihn her, und er überlebt nicht lange.

      Die Rutaner werden von einem König regiert. Dieser König spielt eine ganz besondere Rolle. Alle Rutaner sind nämlich miteinander geistig verbunden. Sie bilden eine große Einheit und der König ist ihr Kristallisationspunkt. So wie der König fühlen und denken mit einer Ausnahme alle Rutaner."

      „Wer ist diese Ausnahme?“ fragte Akandra.

      „Die Hohepriesterin. Sie ist verantwortlich für das geistige Heil des Volkes und ist gleichzeitig unabhängig von der Welt des Königs. Aber alle anderen sind dem König unterworfen. Es ist eine Welt, in der es keine Einzelwesen gibt, sondern nur ein großes Ganzes.“

      „Dort möchte ich nicht leben", sagte Marc.

      „Das kann ich dir nicht verdenken", antwortete eine der Älteren. „Aber nur die Rutaner können die Vespucci in Schach halten. Sie haben deren Expansionsdrang lange Zeit widerstanden. Zwar gab es in der Vergangenheit viele kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den beiden Völkern, die mit Härte und Unerbittlichkeit geführt wurden. Aber niemals gab es einen wirklichen Sieger. Am Ende der Kämpfe, nach dem Zählen der Toten, mussten beide Seiten stets feststellen, dass sie verloren hatten. Es waren eben zwei gleich starke Gegner, die sich nicht besiegen konnten. Trotz aller Anstrengungen der Vespucci war diese Situation nicht zu überwinden. Es dauerte lange bis die feindlichen Nachbarn dies eingesehen hatten, und es kostete viel Blut und viel Leid. Erst vor einem Menschenalter haben sie die sinnlosen Kämpfe eingestellt. Dies heißt jedoch nicht, dass die Völker nun auch in Frieden miteinander leben wollten, dazu waren ihre Lebensweisen und Vorstellungen vom Glück viel zu verschieden.

      Besonders die Vespucci reizte die Existenz des Erbfeindes jenseits ihrer Grenzen zu immer neuen Wutausbrüchen, die das ganze Volk erfassten. Für ihren Ehrgeiz und ihr Selbstwertgefühl bedeutete die bloße Existenz der Rutaner schon eine Herausforderung. Sie konnten sich mit dem Waffenstillstand nicht zufriedengeben, wollten aber auch keine neuen Blutopfer bringen. Außerdem konnten sie, solange die Rutaner unbezwungen neben ihnen lebten, ihren großen Plan nicht weiterverfolgen."

      „Was ist das für ein Plan?" fragte Marc sofort.

      „Das werdet ihr noch früh genug erfahren. Hört genau zu, es ist wichtig für euch. Die Vespucci überlegten und berieten Tag und Nacht, wie es wohl möglich wäre, die Rutaner ohne Krieg zu unterwerfen. Alle Frauen, Männer und sogar Kinder konnten an nichts Anderes mehr denken. Schließlich fanden sie nach langem Forschen die richtige, die tödliche Waffe: die Liebe."

      „Das kann doch nicht sein!" rief Marc entsetzt. „Die Liebe verhindert doch das Böse. Sie ist die einzige Waffe gegen den Tod in der Welt."

      „Wenn du zuhörtest, Marc, dann würdest du dich nicht so erregen." Der sanfte Tadel ließ den jungen Mann verstummen, und die Älteren fuhren fort: „Es war den feindlichen Vespucci klar, dass dem König der Rutaner sein gesamtes Volk folgen würde, wenn er seinen Widerstand aufgäbe. Dieser Herrscher wurde deshalb zum Angriffsziel der Vespucci.

      Sie versuchten ihn in die Fänge schöner Frauen zu locken, um ihn gefügig zu machen. Doch diese Unterfangen waren müßig. Wenn es den Frauen nämlich tatsächlich gelang, das feindliche Land der Rutaner zu durchqueren und den König zu sehen, so fand dieser sie so künstlich und so hässlich, dass er sich empört von ihnen abwandte. Dass dieser Plan nicht aufgehen konnte, hätten sich die Angreifer denken können.

      Als ihre Tücke nicht gelingen wollte, griffen die Vespucci zu einem ihrer bewährtesten Mittel, nämlich der Kunst. Sie stellten eine Frau künstlich her. Sie wurde das schönste Wesen der Welt. Sie war so schön, dass kein sterblicher Mann sie ansehen konnte, ohne in wahnsinnige Liebe zu ihr zu verfallen. Ihre Schöpfer wagten sich selbst nur mit verbundenen Augen in ihre Nähe."

      „Mir könnte so ein Geschöpf nichts anhaben“, dachte sich Marc. „Diese Frau würde mich völlig kalt lassen. Ich verstehe nicht, weshalb sich andere Männer so leicht den Kopf verdrehen lassen."

      Aber diese Gedanken sprach er nicht laut aus, sondern hörte dem Bericht gespannt weiter zu. Die alte Frau, die rechts außen saß, schien seine Gedanken erraten zu haben, denn sie lächelte versonnen und schüttelte leicht den Kopf.

      „Diese, man könnte beinahe sagen, überirdische Frau schmuggelten die Vespucci heimlich über die Grenze nach Rutan. Sie hatte den Auftrag, sich unbemerkt an den jungen König heranzuschleichen und ihn zu umgarnen. Getreulich führte sie den Befehl ihrer Schöpfer aus. Und so fand sie eines Tages den König der Rutaner auf einer Lichtung im tiefen Wald. Die seltsamsten