Horst Neisser

Centratur I


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niemand will böse handeln. Wenn er es dennoch tut, und wir alle wissen, dass ununterbrochen Unrecht begangen wird, so glaubt jeder, dass er im Recht ist. Ich, so denkt man sich, handle nur so, weil es mein gutes Recht ist, oder weil die anderen mich dazu zwingen und so weiter und so fort.

      Selbst wenn man die Vespucci besiegen könnte, wären doch Mord und Totschlag, Neid und Hader nicht aus der Welt. Den einzigen Weg in die richtige Richtung sehe ich darin, uns selbst zu verändern. Wir sollten nicht glauben, wenn wir irgendwelche Kriege führen, dann würde sich schon alles zum Besseren wenden.

      Natürlich müssen wir uns jetzt vor den Orokòr schützen. Aber was soll dieser sinnlose Marsch zu einem fernen Volk, den ihr von uns verlangt? Von mir aus haben die Vespucci die Orokòr und sogar den schrecklichen Zauberkönig aufgehetzt. Meinetwegen sind ihre Agenten überall. Dennoch muss der Kampf ums Überleben hier geführt werden.

      Ich bin zwar noch jung, aber ich habe mich, so lange ich denken kann, immer für die Vergangenheit interessiert. Wenn ich also das, was ich von der Geschichte kenne, richtig deute, dann haben alle Leute immer nach irgendeinem Feind in der Welt gesucht. Ihr ganzes Bestreben und damit ihr Glaube und ihre Hoffnung waren stets darauf ausgerichtet, diesen Feind zu vernichten. Wäre er erst ausgemerzt, so meinte man zu allen Zeiten, dann würde alles gut werden. Mit der Begründung, das so genannte Böse bekämpfen zu wollen, hat man aber zu allen Zeiten furchtbares Unheil angerichtet und Unrecht begangen. Wenn zwei sich bekämpfen, so denkt doch jeder, er verteidige sich nur gegen das Böse im anderen.

      Im Namen des Guten wird ständig böse gehandelt. Wir müssen endlich aufhören, nach dem Bösen in den Anderen zu suchen und beginnen, uns selbst zu verändern. Wir selbst sind das Böse. Einer ist des Anderen Wolf, und dieses Übel kann nur jeder selbst bei sich beenden. Ich kann nur für mich selbst beschließen, endlich kein Wolf mehr zu sein.

      Ich dachte bisher, dass nur wir Sterblichen zu töricht seien, die wirklichen Zusammenhänge zu erkennen. Doch nun höre ich diese unsinnige Argumentation von euch Unsterblichen."

      Dies war eine lange Rede gewesen. Marc war, während er gesprochen hatte, aufgestanden und hin und her gelaufen. Er hatte rote Flecken im Gesicht. Nun setzte er sich wieder, trommelte aber noch immer nervös mit seinen Fingern auf die Armlehne des Sessels. Die Älteren hatten ruhig zugehört. Ihren Gesichtern war weder Zustimmung noch Ablehnung abzulesen.

      Eine der Frauen entgegnete: „Du hast nicht unrecht. Sicher war die Suche nach dem, wie du es nennst, ‘so genannten Bösen’ häufig die Ursache für Tyrannei, Gewalt und Hass. Natürlich haben sich die Sterblichen oft gegenseitig mit dem Argument gequält, das Böse im andern zu bekämpfen. Aber warum ist das so, woher stammt diese wahnwitzige Rechtfertigung für Untaten und Unterdrückung? Weil eben das Böse in der Welt ist und sich in eure Herzen geschlichen hat. Das Böse benutzt die Furcht vor dem Bösen, um die Welt zu beherrschen. Dem gilt es Widerstand zu leisten, da hast du ganz Recht. Das Böse in jedem einzelnen muss bekämpft werden. Aber allein könnt ihr damit nicht fertig werden, dazu seid ihr zu schwach. Du kannst dich noch so leidenschaftlich dagegen wehren, das Böse in euch wird gesteuert und genährt von bösen Mächten, und die kommen von außerhalb."

      „Also wäre der einzige Weg, die Welt zu befrieden, alle Wesen umzubringen? Dann hätte das Böse keinen Nährboden mehr. Ein schöner Friede wäre das. Die Orokòr sind demnach die Heilsbringer“, warf der Erit erbittert ein.

      „Dies wäre in der Tat ein törichter Weg, obgleich schon viele mit diesem Gedanken gespielt haben."

      „Also steckt uns alle in Quarantäne!"

      „Vielleicht ist diese Welt eure Quarantäne?"

      Marc wandte sich wieder der geforderten Aufgabe zu: „Was haben mir die Vespucci getan? Ich bin sicher, dass die Vespucci selbst glauben, mit den besten Absichten zu handeln. Schließlich wollen sie der Welt doch nur eine Ordnung bringen, die sie selbst für die beste halten. Sie haben also keinerlei Unrechtsbewusstsein. Dennoch schickt ihr mich in den Kampf gegen sie. Krieg soll eurer Meinung nach geführt werden, um die Welt zu retten? Mit Kriegen werden aber keine Übel bekämpft, die Kriege sind selbst das Übel. Sogar die Taube ist ein grausames Tier, das eine unterlegene Artgenossin ohne Unterlass und ohne Erbarmen quält. Die Taube ist grausamer als der Wolf."

      Jetzt mischte sich Akandra wütend ein. Sie hatte bisher stumm zugehört und war nun mit ihrer Geduld am Ende: „Marc versucht vielleicht die böse Macht uns durch dich zu beeinflussen? Ist der Feind vielleicht schon in deiner Gestalt unter uns oder du bist ganz einfach ein Hasenfuß, der nach Ausflüchten sucht, um sich vor der Gefahr drücken zu können."

      Dann wandte sie sich an die Älteren: „Habe ich euch recht verstanden? Wenn die Vespucci besiegt sind, werden auch die Orokòr vernichtet werden?"

      Einer der Älteren antwortete ihr mit Bedacht: „Eines kann man mit Sicherheit sagen, ein endgültiger Sieg über die Orokòr ist nur möglich, wenn sie von den Vespucci nicht mehr unterstützt und dirigiert werden. Ist die Macht der Vespucci gebrochen, so ist auch der Untergang der Orokòr wahrscheinlich."

      „Dann werde ich gehen!" Die junge Frau sagte dies so bestimmt, dass alle sie verblüfft ansahen.

      Auch Marc sagte nichts mehr. Endlich meinte eine der Älteren: "Ich glaube, wir sollten später weiterreden. Ihr braucht jetzt viel Schlaf. Auch will ich euch Zeit zum Überlegen geben. Mit einer voreiligen Entscheidung ist weder mir noch euch gedient."

      Akandra wandte selbstbewusst ein: „Ich brauche keine weitere Zeit zum Überlegen."

      Doch ihre Gastgeber gingen nicht weiter darauf ein. Man erklärte den beiden Besuchern, dass sie den Abend alleine verbringen würden. Man wolle ihnen Ruhe gönnen und Zeit zum Nachdenken lassen. In einem kleinen Raum, der ganz mit dunklem Holz getäfelt war, verabschiedeten sich die Älteren. Ein massiver Tisch mit einer polierten Platte stand in der Mitte und um ihn vier Stühle. Das Abendessen wartete bereits. Es gab kräftiges Brot, Butter, Käse und Salz. Auch eine Kanne Bier stand auf dem Tisch und zwei Krüge. Schweigend und in Gedanken versunken kauten die beiden Erits das Brot und tranken das Bier. Hin und wieder versuchte Marc ein Gespräch, aber Akandra war einsilbig. Sie behandelte Marc mit Verachtung.

      Nach dem Essen waren sie noch nicht müde genug zum Schlafen. Sie waren zu aufgewühlt von dem Disput und all den Neuigkeiten, die sie erfahren hatten. Deshalb verließen sie das Zimmer und schlenderten durch die langen Gänge dieser Unterwelt. Irgendwann hielt der junge Mann die gereizte Spannung nicht mehr aus. Er fragte seine Begleiterin: "Was hast du denn?"

      Sie zischte ihn an: „Feigling! Wenn du keinen Mut hast, dann gehe ich eben allein. Aber dann stehe zu deiner Feigheit und suche nicht ständig nach faulen Ausreden."

      „Ich habe tatsächlich Angst. Und wenn du dich nicht fürchtest, so hast du die Gefahr, in die wir gehen sollen, nicht erkannt. Mut ist manchmal nur eine Form von Dummheit, und ich dachte bisher nicht, dass du zu dieser Art Helden gehörst. Du enttäuschst mich nicht weniger als ich dich."

      „Ach“, antwortete sie, „diese Taktik kenne ich inzwischen bei dir. Angriff, so meinst du, ist die beste Verteidigung. Aber mit deinem ewigen Gerede kannst du mir nicht imponieren."

      Eine Pause trat ein. Dann fuhr sie ruhiger fort: „Mit Gerede kann man die besten Pläne zerstören. Gedanken sind stets blass, und nur Taten sind das Leben. Mit Gedanken wurde die Welt nicht erschaffen und kein Acker gepflügt. Zögerliche Gedanken machen unsere besten Vorhaben und Unternehmungen von vornherein krank und schwach. Du hast doch gesehen, was die Orokòr angerichtet haben. Willst du denn keine Rache? Soll dies alles ungesühnt bleiben? Sollen diese Bestien denn weiter ungeschoren morden dürfen? Wenn es nötig ist, die Vespucci zu besiegen, um die Orokòr zu treffen, dann werden wir unsere Pflicht tun und uns zu diesem Volk auf den Weg machen. Die Vespucci sind einen Pakt mit dem Bösen eingegangen. Wir müssen die Welt von ihnen befreien!"

      „Aber selbst, wenn wir wider alle Vernunft Erfolg haben sollten und die Macht der Vespucci gebrochen wird, werden doch neue Völker kommen und versuchen, die Welt zu unterjochen. Dieser Kampf gegen das so genannte Böse ist aussichtslos. Immer wenn du gesiegt hast, kannst du ihn neu beginnen."

      „Willst du