Horst Neisser

Centratur I


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verstehe nichts“, Marc klang ungehalten.

      „Ruhig, mein Junge! Es gibt keinen Grund für Ärger. Ich werde von der Vergangenheit erzählen, dann werdet ihr mehr verstehen.

      Ich bin schon sehr lange in der Welt und habe alles gesehen. Bevor ich kam, war alles Leben im Wasser. Später verließen die Geschöpfe die Ozeane. Die Pflanzen und Tiere trennten sich und wurden verschieden. Dann wurden aus kleinen Lebewesen große, und das Zeitalter der schrecklichen Echsen begann. Nichts war vor ihnen sicher. Manche waren groß wie Berge und fraßen ganze Landstriche kahl. Andere wiederum waren blutgierige Räuber, die alles zerfleischten, was sie zwischen ihre spitzen Zähne bekamen. Es schien, als würden diese Bestien auf immer die Welt beherrschen. Doch nichts ist ewig. Irgendwann überwand die Erde diese Tyrannei, und die Echsen starben aus. Nun war endlich Platz für neue Tiere. Land und Meer wurden überschwemmt von neuen Arten. Dies war der Zeitpunkt, zu dem auch ich geschaffen wurde.

      Zuerst war ich nur eine, dann wurde ich viele. Ich wanderte durch die Welt und befruchtete sie. Jahrhunderte war ich nur mit Zeugen beschäftigt. Überall sprossen Kinder von mir empor. Sie waren zuerst noch unvollkommen, hatten lange Arme, mit denen sie sich auf dem Boden abstützten. Auch ihr Gemüt war von schlichter Natur. Doch mit der Zeit wurden meine Kinder vollkommener und klüger. Sie lernten es, Werkzeuge zu schaffen, das Feuer zu zähmen, Häuser zu bauen und den Boden zu bestellen.

      Aber einige meiner Nachkommen verbündeten sich mit bösen Mächten, weil sie sich davon Vorteile erhofften. Ich war verzweifelt und versuchte, sie zu warnen, zurückzuhalten. Sie hörten nicht auf mich. Sie begannen, Kriege zu führen und ohne Not zu töten. Am Ende bedrohten sie sogar mich, ihre Eltern. Deshalb schuf ich mir dieses Refugium tief im Herzen der Erde.

      Damals gab es den Wilden Wald dort oben noch nicht. Nur ein paar Bäume wuchsen, die mein Sohn ROM pflegte. Das Tor oben stand zu dieser Zeit noch für jedermann offen, und die große Treppe war hell erleuchtet. Ihre Stufen waren zu dieser Zeit niemals leer. Ströme von Menschen, Achajern und anderen Geschöpfen wanderten die Treppe nach unten und nach oben. Sie, die zu mir kamen, hatten noch keine Angst vor dem Fall in die Tiefe. Diese Angst entstand erst, als ihr Geist sich verdunkelte, und sie deshalb an sich selbst zweifeln mussten. Damals herrschte Selbstvertrauen, und der Weg über die Treppe war ein Fest. Meine Kinder waren viele Tage und Wochen unterwegs, und wenn sie die Stufen hinauf- und hinunterstiegen, so sangen sie und waren fröhlich. Am Rand der Treppe, das konntet ihr nicht sehen, gibt es Möglichkeiten, um zu rasten. Dort konnte man sich erquicken und schlafen. Alle, die sich dem Bösen noch nicht verschrieben hatten, gingen im Lauf ihres Lebens mindestens einmal über die Treppe. Sie kamen zu mir, zu Mutter und Vater. Wenn man nämlich zur Erkenntnis über sich selbst gelangen will, muss man zu den Ursprüngen zurück. Ich habe mich über jedes Kind gefreut, das mich besucht hat. Sie bekamen von mir alles, was ich hatte, und sie brachten mir Geschenke, die ich noch heute hüte.

      Derweil wuchs der Wald unter der Fürsorge von ROM. Damals waren die Bäume noch nicht böse und verbittert. Sie ließen prächtige Wege für meine Besucher offen und nährten sie. Doch in den Jahrhunderten nahm die Macht des Bösen zu. Sie schlug immer mehr von meinen Kindern in ihren Bann. Dies ging langsam und schleichend vor sich. Doch damit die Geschöpfe der Welt der finsteren Macht völlig ausgeliefert waren, mussten sie ihre Herkunft vergessen. Erst wenn meine Nachkommen nichts mehr von mir wussten, hatten meine Gegner ihr Ziel erreicht. Schließlich war das Furchtbare vollbracht, meine Kinder hatten mich vergessen. Sie waren damit verloren und wussten es nicht.

      Die Besuche bei mir wurden immer seltener. Ich blieb allein zurück. Das Licht auf der großen Treppe erlosch. Zwischen dem Wilden Wald und den Menschen brach Feindschaft aus. Die Bäume sollten nun gegen deren Willen genutzt werden. Das bedeutete Rodung, Ausbeutung, Versklavung, und schließlich Vernichtung. Die Menschen gingen auch mit sich selbst nicht freundlich um und noch weniger mit den Bäumen. So wie der Mensch im anderen Menschen nur noch ein Ding sah, das ihm nützlich oder weniger nützlich sein konnte, so sah er in den Bäumen keine Lebewesen mehr, sondern nur noch Bau- oder Brennholz. ROM und sein Wald begannen sich zur Wehr zu setzen, und sie haben mit meiner Unterstützung den Kampf bis jetzt gewonnen. Seit damals schützt der Wilde Wald auch den Zugang zu mir. Nur sehr selten, alle paar Jahrhunderte einmal, lässt ROM jemand zu dem Tor vordringen. Ihr gehört zu den Wenigen, die der Wald seit langer Zeit akzeptiert hat.

      Aber wenn ihr glaubt, dass ich, seit ich in Vergessenheit geraten bin, geruht hätte, so irrt ihr euch. Viele meiner Teile sandte ich immer wieder in die Welt, in der Hoffnung etwas zu retten. Leider bewirkten sie nur wenig und starben. Dadurch wurde ich schwächer und nahm mehr und mehr ab. Zwar bin ich nach euren Maßstäben noch immer mächtig und kann so manches Geschick im Verborgenen lenken. Aber den eingeschlagenen Weg meiner Kinder kann ich nicht korrigieren. Ich kann ihnen nicht mehr helfen, sie nicht vor dem Bösen retten. Einer ist heute des Anderen Feind. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie mich dieser Kampf, diese Bosheiten, diese Gemeinheiten unter meinen Kindern erbittern und quälen."

      „Ihr resigniert also? Ist das der Grund, warum ihr nicht eingreift, um das Böse auf Erden zu verhindert? Soll das etwa die Erklärung dafür sein, warum ihr zulasst, dass brave Erits abgeschlachtet werden?" Marc hatte mit scharfem Ton in der Stimme gefragt.

      Sofort fiel ihm Akandra ungehalten ins Wort: „Fängst du schon wieder an? Hat dir der Streit mit ROM nicht gereicht? Immer suchst du nach Mächten, die ihre schützende Hand über dich halten sollen. Und wenn sie nicht so wollen, wie du es erwartest, machst du ihnen Vorwürfe. Unsere Probleme müssen wir zu allererst selbst lösen. Wenn uns dabei jemand unterstützt, so ist dies hilfreich, aber wir können es nicht einklagen. Du bist wie ein Kind, das von seinen Eltern ständig fordert, ihm die Steine aus dem Weg zu räumen. Wir Erits müssen endlich erwachsen werden!"

      „Es gibt Probleme, die können wir nicht alleine bewältigen." Auch Marc war nun wütend. Ihre Gastgeber hatten die beiden Erits bei ihrem Streit vergessen. „Bist du etwa nicht vor den Orokòr weggelaufen? Warum hast du dich ihnen nicht gestellt und dein Problem selbst gelöst, so wie du es nun forderst?"

      „Flucht ist keine Feigheit. Wenn ich im Augenblick zu schwach bin, um gegen einen übermächtigen Feind anzutreten, heißt dies noch lange nicht, dass ich mich unterwerfe oder auf Hilfe warte."

      „Du bist ja größenwahnsinnig, wenn du annimmst, du könntest einen Feind wie die Orokòr bekämpfen. Ich will dir etwas sagen: Du bist deinem Schicksal hilflos ausgeliefert, wenn du nicht jemanden findest, der ebenso mächtig ist wie dein Feind, und der dir zu Hilfe kommt."

      „Aus dir spricht eine Mutlosigkeit, über die ich vor Wut schreien möchte. Es gibt doch noch andere Waffen als Körperstärke und Übung im Kriegshandwerk. Vielleicht sind wir kleinen Erits den Orokòr an Schlauheit und Kriegstaktik überlegen? Und wenn wir es nicht sind, so müssen wir diese Fähigkeiten eben entwickeln. Dies erreichen wir jedoch nicht, wenn wir stets und überall um Hilfe betteln."

      „Wo waren denn deine ach so tollen Waffen, als die Orokòr Waldmar überfielen? All deine Schlauheit und Taktik haben deiner Mutter nicht geholfen. Warum bist du überhaupt hier, wenn du keine Hilfe suchst?"

      Marc war in seinem Zorn zu weit gegangen, das begriff er, als plötzlich dicke Tränen über Akandras Gesicht rollten.

      „Ich bin hier“, flüsterte sie, „weil ich Waffen suche, mit denen ich die Orokòr bekämpfen kann. Ich will meine schöne Mutter rächen."

      „Ruhig, meine Kinder“, lächelte eine der Alten begütigend. „Ihr habt beide recht. Akandra hat Recht, wenn sie fordert, die Sterblichen sollen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Niemand entbindet sie nämlich von der Verantwortung für sich selbst. Und Marc hat Recht, wenn er auf ihre Schwächen hinweist. Kein Sterblicher könnte nämlich ohne die Unterstützung der höheren Mächte existieren.

      Eure Situation ist so ähnlich, als würdet ihr in einer Kutsche sitzen, deren Pferde durchgegangen sind. Ihr könnt die Pferde nicht bändigen, ihr könnt den Wagen nicht zum Stehen bringen, und ihr könnt den Pferden keine Richtung befehlen. Dies liegt einzig im Willen der Unsterblichen. Was ihr aber könnt, das ist, die Zügel festhalten, die Räder um Unebenheiten der Straße herum lenken und verhindern, dass der Wagen in den Abgrund fährt. Was ihr aber