Horst Neisser

Centratur I


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meint es nicht so. Er ist nur sehr verzweifelt."

      „Ich weiß genau, was ich sage." In Marcs Stimme lag Trotz.

      ROM lachte noch immer. „Ich nehme es ihm nicht übel. Dein Freund gefällt mir. Es macht Spaß mit ihm zu streiten." Dann wandte er sich wieder an den jungen Erit. „Nehmen wir an, ich wäre so mächtig, wie du sagst. Wenn ich in das Geschehen dieser Erde eingriffe, wenn ich Streitereien schlichten, Kämpfe verhindern und schlimme Herrscher absetzen würde. Was glaubst du, würde sich ändern? Die Welt würde um keinen Deut besser. Mit einem einmaligen Eingreifen wäre es doch nicht getan. Ich müsste immer wieder aufs Neue, ja ich müsste täglich, stündlich meine Kraft anwenden und ordnen und schlichten. Da, wo ich es nicht täte, würde man mich verfluchen und mir die Schuld am Elend geben. Irgendwann würde ich ganz allein die ganze Welt lenken. Ich wäre der Herr der Welt. Wie könnte ich so größenwahnsinnig sein wollen! Im Übrigen wäre ich ein schlechter Herrscher, denn das Recht ist nur selten eindeutig auf einer Seite. Wenn zwei Parteien sich gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen und tyrannisieren, glaubt doch jede fest, im Recht zu sein und sich nur gegen die Gemeinheiten der anderen zu wehren. Wie könnte ich Schiedsrichter spielen und für eine Gruppe Partei ergreifen?"

      „Deshalb lässt du also die Orokòr gewähren? Mit dieser fadenscheinigen Begründung siehst du dem Unheil ruhig zu?"

      „Nein, ich sehe nicht ruhig zu, aber gelassen. ‚Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest', steht in einem alten Buch geschrieben. Doch nun haben wir genug disputiert. Es ist inzwischen Mittag geworden, und es wird Zeit, dass wir gemeinsam etwas essen."

      Lachend und singend nahm er einen großen ledernen Beutel von der Schulter, setzte ihn auf den Boden und schnürte ihn auf. Dann packte er Köstlichkeiten aus, wie Ziegenkäse, Brot, Salz, Butter und Quark mit frischen Kräutern. Dies alles breitete er auf einer bunten, wollenen Decke aus und lud die jungen Leute zum Sitzen ein. Die bemerkten erst jetzt, wie hungrig sie waren. Beide hatten sie seit langem nichts mehr gegessen. Sie machten sich mit Appetit über all die guten Sachen her und auch ROM hielt kräftig mit.

      Endlich waren sie gesättigt, lagen faul auf dem Rücken und blinzelten in die Sonne. Es war schön, wie sie dalagen, und es war friedlich, so friedlich wie auf Gutruh in den guten Zeiten.

      Vor Marcs geistigem Auge tauchte ein anderes Bild auf. Gutruh verbrannt, geschunden und besudelt. Seine Mutter und sein Vater tot. Schwarze Horden zertrampeln triumphierend den sorgfältig gepflegten Garten.

      Er sprang auf und rief: „Wir haben kein Recht, hier zu liegen. Inzwischen kann das Verderben schon in Heckendorf angelangt sein. Wir müssen weiter. Wirst du uns nun helfen, ROM?"

      Auch Akandra war aufgestanden. Nur der Hüter des Waldes lag noch im Moos.

      „Fängst du schon wieder an?" fragte er schläfrig. „Noch ist in Heckendorf nichts geschehen, und es ist dort noch ein paar Tage sicher. Ich habe dir schon gesagt, dass ich euch nicht helfen kann. Was glaubt ihr, wie viel Leid und Schmerz ich all die Jahrhunderte und Jahrtausende miterleben musste, ohne dass ich eingreifen oder etwas verhindern hätte können? Glaubt ihr, das ist spurlos an mir vorübergegangen? Ich habe keine Tränen mehr und ich habe gelernt alles neu zu sehen. Seit ich verstehe, kann ich damit leben. Und ich weiß, irgendwann werdet auch ihr verstehen. Doch in einem hast du recht, Marc, ihr müsst jetzt aufbrechen."

      Er richtete sich auf und war mit einem Sprung auf den Beinen.

      „Geht in diese Richtung. Ihr werdet nach einer knappen Wegstunde auf ein Tor stoßen. Dort habt ihr die Wahl. Ihr könnt durch das Tor treten. Damit setzt ihr euch großen Gefahren aus, aber ihr gewinnt vielleicht Hilfe für euren Kampf. Oder ihr geht rechts am Tor vorbei. Ihr findet einen Pfad, der euch über kurz oder lang zur Oststraße führen wird. Bevor ihr euch aber für das Tor entscheidet, bedenkt, ihr werdet es vielleicht nicht überleben."

      Die jungen Leute sahen sich überrascht an, und bevor sie sich versahen, hatte ROM alles zusammengepackt und war lachend und singend verschwunden. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt sich zu verabschieden. Dort aber, wo er hingedeutet hatte, sahen sie einen schmalen Weg zwischen den Bäumen, dem sie sogleich folgten.

      Nach einer Weile fragte das Mädchen vorwurfsvoll: „Warum hast du so mit ROM geredet?"

      „Warum hast du mich nicht unterstützt, als ich ihn bewegen wollte, uns zu helfen?" entgegnete der Junge mit dem gleichen Tadel in der Stimme. „Wir sind in einer Lage, die es uns nicht erlaubt, höflich zu sein. Gerade du müsstest dies doch am besten wissen, nach allem, was du mitgemacht hast. Der Verzweifelte ist von der Pflicht befreit, nett zu sein."

      Akandra antwortete nicht, und als Marc aus den Augenwinkeln zu ihr hinüberblickte, liefen ihr Tränen über das Gesicht. Doch sie hatte sich rasch wieder gefangen.

      Mit fester Stimme erklärte sie: „Meine Eltern haben mir beigebracht, Haltung zu bewahren und auch in schlimmen Situationen die Regeln der Höflichkeit zu beachten. ROM gebührt Ehrfurcht. Wenn er sich uns verweigert, so hat er seine guten Gründe. Seine Einsicht geht weiter als unser Begriffsvermögen. Dies hat mich mein Vater gelehrt, und ich bin auf keinen Fall bereit, meine gute Erziehung über Bord zu werfen."

      Nach einer Weile fügte sie noch abfällig hinzu: „Selbstdisziplin ist die Grundlage eines jeden Sieges. Aber dies wirst du bei deiner Erziehung nie verstehen. Es gibt eben so mancherlei Unterschied zwischen uns."

      Marc wusste darauf nichts zu erwidern und schwieg. Aber er ärgerte sich, dass ihm nichts eingefallen war, womit er dieser Arroganz hätte begegnen können.

      Sie waren auf dem bequemen Weg rasch vorwärtsgekommen. Bald erreichten sie eine kleine Lichtung, die von riesigen Bäumen gesäumt war. Die Bäume sahen hier besonders alt und hoch aus. In der Mitte der Lichtung glitzerte im grellen Schein der Nachmittagssonne ein bronzenes Tor. Es war flankiert von zwei runden Säulen mit blumengeschmückten Kapitellen. Um die Säulen rankte sich Efeu. Dieses künstliche Bauwerk, das vor langen Zeiten von geheimnisvollen Wesen geschaffen worden war, nahm sich in diesem Urwald seltsam aus. Es war hier zwischen den Bäumen, den Blumen und dem Gras ein Fremdkörper. Das gehämmerte Metall der Torflügel glänzte noch immer, und man sah, dass die Erbauer große Baumeister gewesen waren.

      Vorsichtig und staunend gingen die Erits um das seltsame Tor herum. Das Bauwerk bestand aus großen, rechteckig behauenen Steinen, die ohne Mörtel aufeinander ruhten. Sie waren so vollkommen bearbeitet, dass man in ihre Fugen nicht ein Haar hätte schieben können. Wie ROM versprochen hatte, setzte sich der Pfad auf der anderen Seite der Lichtung in Richtung Oststraße fort.

      „Was sollen wir tun?" fragte Marc. „Du erinnerst dich sicher an die Warnung von ROM."

      „Was wir tun, weiß ich nicht“, antwortete sie ohne eine Sekunde zu zögern. „Ich kann nur für mich selbst sprechen. Ich werde das Tor durchschreiten. Wenn es eine Möglichkeit gibt, die Orokòr zu vernichten, und sei sie noch so gering und noch so gefahrvoll, so werde ich sie nutzen. Das bin ich meiner Mutter schuldig."

      „Aber vielleicht ist es besser, die Leute in Heckendorf zu warnen. Wenn uns hier etwas zustößt, wird sie niemand auf das drohende Unheil hinweisen. Dürfen wir uns unter diesen Umständen in Gefahr begeben?"

      „Was sollen deine Warnungen nützen?" sagte Akandra abfällig. „Glaubst du denn wirklich, dass sich Erits der rohen Gewalt der Orokòr widersetzen können? Den Heimländern bleibt als einzige Zukunft, sich in den großen Strom der Flüchtlinge einzureihen und heimatlos, gehasst und verachtet von Stadt zu Stadt und von Land zu Land zu ziehen. So lange bis ganz Centratur unterjocht ist, und die dunkle Macht sie dort, wo sie sich dann gerade aufhalten, eingeholt hat. Nein danke, da ziehe ich den Untergang vor! Gegenüber diesem Schicksal haben die Waldmarer beinahe noch Glück gehabt."

      Ihre Worte waren hart und bitter, und sie wandte sich ab, ohne auf eine Antwort von Marc zu warten. Sie ging auf das Tor zu und rüttelte an ihm. Vielleicht war es verschlossen, verklemmt, vielleicht waren seine Angeln auch im Lauf der Jahre eingerostet, es bewegte sich nicht einen Zoll. Zögernd kam ihr Marc zu Hilfe. Doch auch zu zweit hatten sie keinen Erfolg. Sie drückten und zogen vergeblich mit aller Kraft, die sie aufbringen konnten. Schließlich sanken sie erschöpft