Horst Neisser

Centratur I


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Lieber will ich auf der Treppe sterben."

      „Lieber“, wiederholte sie, „du bist nicht feige. Der Schmerz ist wirklich fürchterlich. Aber gemeinsam können wir ihn ertragen. Wir haben keine andere Wahl."

      Marc nickte tapfer und folgte geduckt dem Mädchen, so als erwartete er jeden Augenblick neue Schläge. Langsam und furchtsam schritten sie auf die rote Linie zu. Akandra überquerte sie ohne Innehalten und schrie auf. Auch Marc hob ein Bein, blieb dann aber stehen. Seine Muskeln waren gelähmt, sein Körper unterwarf sich seinem Geist nicht mehr. Akandra blickte sich um und eilte zurück. Sie ergriff seine ausgestreckte Hand und zog ihn in das Leiden. Sofort peitschte der Schmerz auf ihn ein, und die Stimme brüllte in seinem Kopf: „Weicht zurück! Ihr seid im Licht, und das Licht wird euch verwandeln. Weicht zurück!"

      Schritt für Schritt, sich gegen ein unsichtbares Hindernis stemmend, quälten sie sich auf das Lichttor zu, bis sie zusammenbrachen. Akandra gab nicht auf und kroch weiter. Schon hatte sich halb zwischen den Säulen hindurch geschleppt, da bemerkte sie, dass ihr Begleiter draußen geblieben war. Halb von Sinnen kämpfte sie sich zu ihm zurück, fasste seine Hand und zog ihn, der sich ohnmächtig in Schmerzen wandte, mit sich. Er versuchte, sie zu unterstützen. Seine Füße glitten kraft- und haltlos über den glatten Boden. Zoll um Zoll näherten sie sich unter unsäglichen Anstrengungen und Leiden dem Ziel. Die Stimme war so unerträglich laut, dass ihnen die Augen aus den Höhlungen traten. Zu dem Schrei in ihrem Kopf und dem Schmerz gesellte sich nun auch noch das Trommeln, das sie schon kannten. Ein nicht enden wollender Paukenwirbel warf ihre Leiber in Zuckungen hin und her.

      Die Kräfte Akandras schienen unerschöpflich. Trotz aller Pein gab sie nicht auf. Sie schleppte sich und Marc durch das Tor. Schlagartig verstummten die Stimme und das Trommeln und das Licht wurde schwächer. Die Schmerzen verebbten. Sie blieben liegen, wo sie waren, und verfielen in einen erschöpften Dämmerzustand.

      Die Älteren

      Lange lagen sie so ohne Bewusstsein. Es schien, als wollte es ihnen fernbleiben, damit sie nicht an die überstandene Tortur erinnert würden. Endlich nahmen die durchgestandenen Qualen die Form eines bösen Traumes an, und sie konnten es wagen, die Augen zu öffnen und ihre Köpfe vorsichtig zu heben.

      „Ich glaube, wir haben es geschafft“, flüsterte Akandra.

      „Du hast es geschafft“, berichtigte sie Marc.

      „Wir sind beide hier, das allein zählt."

      Gedämpftes Licht, das den Augen wohltat, dessen Ursprung sie aber nicht erkennen konnten, erleuchtete einen kreisrunden Raum, aus dem sieben Türen abzweigten. Eine Flöte spielte eine einfache, aber wundersame Melodie. Sie war so schön, dass es den Erits bei ihrem Klang wohl wurde. Sie ließ die überstandenen Schmerzen und Leiden verheilen. Die Töne drangen aus der mittleren Tür. Ohne nachzudenken gingen sie darauf zu und öffneten sie.

      Ein Saal mit einem spitz zulaufenden Gewölbe tat sich auf. Aus hohen Säulen wuchsen schlanke Rippen. Sie trugen die Decke. Die Säulenkapitelle waren als Blumenornamente geformt. Durch spitzbogige Fenster an beiden Seiten der Halle flutete Licht. Dennoch brannten Kerzen auf eisernen Leuchtern, die im Kreis aufgestellt waren. Dort saßen sechs Leute ganz aufrecht auf Stühlen mit hohen Lehnen. Ruhig betrachteten sie die jungen Leute.

      „Mutter“, sagte Akandra erstaunt.

      „Mutter, du hier?" rief Marc.

      „Vater, wo kommst du her?" die junge Frau war ganz aufgeregt.

      Auch der junge Erit sah seinen Vater. Die beiden wollten auf die vertrauten Eltern zugehen, sich ihnen zu Füßen werfen, aber sie wurden von einer unsichtbaren Kraft zurückgehalten. Eine Stimme, die von allen sechs Personen gleichzeitig kam, sprach: „Willkommen im Herzen der Welt. Der Weg zu uns ist weit und er ist eine Prüfung. Nur wenigen ist es seit langer Zeit gelungen, zu uns vorzudringen. Ihr musstet sterben, um geboren zu werden."

      Marc fragte mit großem Ernst: „Weshalb ist uns gelungen, was so vielen misslang?"

      „Es war euer aufrechter Wunsch zu helfen, der euch die Treppe bestehen ließ."

      Nun konnte Akandra nicht mehr länger an sich halten. „Aber liebe, schöne Mutter, lieber Vater, wie kommt ihr hierher?"

      Eine der Frauen antwortete: „Ich bin nicht deine Mutter, und doch bin ich deine Mutter." Und einer der Männer antwortete: „Ich bin nicht dein Vater, und doch bin ich dein Vater."

      Verständnislos sahen die jungen Leute sich an.

      Da sprach der Mann, der ganz außen saß und bisher geschwiegen hatte: „Ich bin euer aller Vater und Mutter. Wisset, hier ist die Wiege und das Ende der Welt."

      Dann sprach die Frau, die bisher geschwiegen hatte und außen saß: „Weil wenig Zeit ist, und es so vieles zu bereden gilt, müssen wir uns Zeit lassen. Deshalb werdet ihr erst einmal schlafen und essen."

      Sie stand auf, schritt auf die Besucher zu und ergriff deren Hände. Gemeinsam durchmaßen sie die Halle in ihrer ganzen Länge und schritten durch eine niedere Tür. Dahinter verbarg sich ein kleines Zimmer.

      „Das ist ja beinahe wie in Gutruh“, rief Marc aus.

      Und Akandra sagte: „Nein, es erinnert mich an Waldlust!"

      „Ihr sollt euch wohl fühlen“, lächelte die Frau und verließ sie.

      Akandra und Marc sahen sich um. Da standen weiche Betten, so wie Erits sie gerne haben, eine Kommode, ein Schrank, Tisch und Stühle. An den Wänden hingen Bilder, die Bäume, Sträucher und eine wunderschöne untergehende Sonne zeigten. Müde ließen sie sich auf die Betten fallen und waren schon nach wenigen Sekunden eingeschlafen.

      Als Marc nach vielen Stunden wiedererwachte, blickte er auf das Bild über seinem Bett, das vor dem Einschlafen eine untergehende Sonne gezeigt hatte. Nun erkannte er, dass er sich geirrt hatte. Nicht die Sonne, die der Nacht weicht, war dargestellt, sondern der Zeitpunkt des Sonnenaufgangs. Auch Akandra reckte sich, gähnte und rieb sich die Augen. Helles Licht fiel durch die runden Fenster des Zimmers. In der Ecke standen eine Schüssel und ein Krug mit Wasser. Dort wuschen sie sich. Auf dem Tisch fanden sie eine Kanne mit dampfendem Tee, Brot, Butter und Früchten. Ausgehungert ließen sie sich das Frühstück schmecken. Als sie sich endlich satt zurücklehnten, öffnete sich die Tür, und zwei Frauen traten herein.

      „Mutter?" riefen die jungen Leute gleichzeitig.

      Die Frauen lächelten nur, nahmen sie an der Hand und führten sie zurück in die hohe Halle. Dort waren zwei bequeme Stühle für sie bereitgestellt. Wieder bildeten die Alten einen Halbkreis um ihre jungen Gäste. Die alten Frauen und Männer sprachen abwechselnd, aber wie mit einer Stimme.

      „Nun ist die Zeit für Fragen und die Zeit für Erklärungen. Stellt nicht zu viele Fragen, aber stellt die richtigen."

      Sofort fragte Akandra: „Wer seid Ihr? Ihr seht aus wie unsere Eltern, aber ihr seid es nicht."

      „Ich bin eure Eltern, und ich bin es nicht. Ich bin alle und keiner."

      „So nennt wenigstens Eure Namen!" forderte Marc.

      „Ich habe keine Namen mehr."

      „Hattet ihr einmal Namen?"

      „Alles wurde einmal benannt."

      „Wenn schon jeder einzelne von euch keinen Namen hat, wie heißt ihr alle zusammen?"

      „Ich bin der oder die Ältere."

      „Was ist eure Aufgabe?" wollte Akandra wissen.

      „Ich bin! Und ich wache!"

      „Seid ihr mächtig?"

      „Was ist das, Macht?"

      „Könnt ihr uns, die wir da oben leben, helfen?"

      „Ja und nein. Ihr seid hier, weil wir helfen und ihr werdet gehen, weil wir nicht helfen können."

      „Ihr sprecht in Rätseln“, rief Marc ärgerlich.

      „Ich