Horst Neisser

Centratur I


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erhob er sich und begann zwischen den Bäumen nach einem Werkzeug zu suchen. Mit einem großen Holzprügel kam er zurück. So fest er konnte, schlug er damit gegen das Tor. Wie Glockenschläge hallte es dumpf über die Lichtung. Aber alle Anstrengungen waren fruchtlos. Es zeigte sich nicht einmal ein Kratzer in dem Metall. Nur die geduldige Natur hatte im Lauf der Jahrtausende den Schimmer ein wenig zu trüben vermocht.

      „Was können wir noch tun?" klagte der junge Mann, als er endlich kraftlos den Stock fallen ließ.

      „Ich habe in alten Büchern von geheimnisvollen Türen gelesen. Jede hat einen anderen Öffnungsmechanismus, reagiert auf ein anderes Zauberwort. Keine gleicht der anderen." Akandras Stimme klang resigniert.

      „Willst du damit sagen, dass wir die Tür nicht aus eigener Kraft aufbekommen?"

      „Wenn der Zufall uns nicht zu Hilfe kommt, sind alle unsere Anstrengungen umsonst."

      „Aber ROM hat doch gesagt, wir würden den Eingang finden. Sollen wir ihn vielleicht rufen?"

      „Auf keinen Fall werden wir noch einmal ROM belästigen. Wenn er uns helfen will, kommt er von selbst, wenn er nicht kommt, hat dies seine Gründe."

      „Wenn es um ROM geht, zeigst du eine seltsame Nachsicht, die ich nicht verstehe."

      „Du verstehst vieles nicht, Marc. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass dies wohl an deiner Erziehung liegt. Ich weiß nicht, ob sich das jemals ändern wird, ob sich irgendwann dein Horizont erweitert. Bisher ist dieser Zeitpunkt jedenfalls nicht abzusehen."

      „Ach, spiel dich doch nicht so auf. Dein blasiertes Gerede macht mich schon seit Jahren wütend."

      „Und warum bist du dann immer wieder nach Waldmar gekommen, um dir mein Gerede anzuhören? Warum hast du mich und meine Familie Jahr für Jahr belästigt?"

      „Weil ich kommen musste. Dein Vater, als mein Pate, hat darauf bestanden. Ja, glaubst du denn, es hat mir Spaß gemacht, mich von euch allen als einen Menschen zweiter Klasse behandeln zu lassen und mir die blöden Ratschläge von deinem Vater anzuhören?"

      „Meinen Vater lasse ich nicht beleidigen“, herrschte ihn Akandra an, „und schon gar nicht von so einem Tölpel wie dir. Du hast nicht einmal das Recht, ihm die Hand zu geben. Schließlich hat er das Heimland und sogar Centratur gerettet."

      „Vielleicht geholfen, aber nicht gerettet! Du vergisst meinen Vater! Weißt du überhaupt, was mein Vater getan hat? Was glaubst du, hätten alle Bemühungen deines Vaters genutzt, wenn mein Vater nicht ins Lager von Ormor gezogen wäre? Ohne meinen Vater wäre dein Vater nicht einmal Graf geworden."

      Akandra sprang auf, lief empört zu Marc und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Blut spritzte aus seiner Nase, und dieses Blut brachte sie wieder zu sich.

      „Es tut mir leid“, sagte das Mädchen einlenkend. „Es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns streiten. Mit Hader öffnen wir dieses Tor nicht und wir retten auch nicht die Heimländer."

      Sie setzten sich wieder ins Gras, und Marc tupfte das Blut ab.

      „Sieh mal, wie schön das Tor in der Nachmittagssonne glänzt“, sagte Akandra. „Man muss es einfach anfassen."

      Sie ging hinüber und strich vorsichtig mit den Handflächen über das glatte Metall. Dann legte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, ihre Wange dagegen und küsste die Tür. Erschreckt sprang sie zurück, als die Flügel daraufhin lautlos nach innen schwangen und eine schwarze Höhlung freigaben. Auf ihren Schrei hin eilte Marc herbei. Gemeinsam starrten sie ins Dunkel. Im schwächer werdenden Licht des Tages konnten sie Treppenstufen sehen, die in undurchdringliche Finsternis führten.

      „Sollen wir etwa da hinein?" fragte der Junge bestürzt.

      Das Mädchen nickte schwach und mit bleichem Gesicht.

      „Aber wir sehen doch nichts. Wir haben keine Lampen und keine Kerzen. Wer weiß, was da drinnen auf uns lauert!"

      „Verdammt noch mal“, sagte sie mit verzweifeltem Zorn, „die ganze Zeit redest du davon, dass wir etwas zur Rettung des Heimlands unternehmen müssen. Du beleidigst sogar ROM. Und nun willst du kneifen? Aber du kannst draußen bleiben. Ich werde ohne dich hinuntersteigen."

      Als Marc unschlüssig stehen blieb und sich nicht bewegte, schrie sie ihn an: „So geh doch endlich! Ich kann dich nicht mehr sehen. Verschwinde! Mach dich aus dem Staub! Lass mich allein! Ich muss mich schließlich vorbereiten."

      „Was willst du denn vorbereiten?"

      „Was weiß ich! Fackeln sammeln und so..."

      „Glaubst du nicht, es wäre besser, wir würden zusammenhalten, als uns ständig zu streiten?"

      Sie antwortete nicht, aber beide gingen sie und suchten nach Holz. Dann untersuchte Marc seinen Rucksack. Er fand noch einen Kanten Brot und ein paar weiche, zerdrückte Äpfel. Zuunterst entdeckte er sein Messer, das er nun befriedigt in den Gürtel steckte. Akandra hatte ihre Habseligkeiten, die sie aus Waldlust gerettet hatte, bei der Flucht vor den Orokòr weggeworfen. Sie besaß nichts mehr, außer dem, was sie auf dem Leib trug.

      „Für eine schwierige und gefährliche Expedition sind wir nicht gerade gut ausgerüstet“, spottete der junge Erit. „Aber was soll's? Was uns fehlt, machen wir mit Unbekümmertheit, Missachtung der Gefahren und gutem Willen wett. Damit müsste es gehen. Komm jetzt! Es dunkelt schon. Wenn wir noch länger warten, können wir keinen Unterschied mehr zwischen drinnen und draußen erkennen. Zögern verbessert unsere Lage auch nicht."

      Sie sah ihn erstaunt an und fragte verwundert: „Du kommst also mit?"

      „Was dachtest du denn? Ich hatte nie vor, dich allein zu lassen. Aber man darf doch noch an die Gefahr erinnern, in die man sich begibt."

      Akandra kniff den Mund zu einem schmalen Spalt zusammen, aber man sah ihr an, dass sie sehr erleichtert war.

      Beiden schlug das Herz bis zum Hals, als sie sich an der Hand nahmen und gemeinsam in die furchtbare Dunkelheit schritten. Die Stufen waren aus Stein, drei Hand breit und eine Hand hoch. Vorsichtig mit den Füßen tastend stiegen die jungen Leute Stufe für Stufe nach unten. Noch verband sie der matte Lichtschein, der durch das Tor fiel, mit der Welt, die sie soeben verlassen hatten. Doch ganz plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, schwangen die beiden Türflügel lautlos zu. Nun erleuchtete nicht einmal mehr ein Lichtschimmer ihren Weg. Tiefste Dunkelheit umgab die Eindringlinge.

      Hastig riss Marc Feuerstein und Zunder aus seiner Hosentasche und schlug Funken. Bald brannte einer der Äste, die sie mitgebracht hatten. Die Treppe hatte sich nach beiden Seiten erweitert, so dass sie ihre Begrenzung links und rechts nicht mehr sehen konnten. Als das Holz beinahe verbrannt war, warf es der Junge, soweit er konnte von sich. Die Fackel flog tiefer und tiefer, bis sie irgendwann weit unten erlosch.

      „Die Treppe hört ja nie auf“, keuchte das Mädchen und setzte sich auf die Stufen. „Wenn wir hier ausgleiten und stürzten, fallen wir ins Bodenlose."

      „Wir können nicht zurück, sondern müssen vorsichtig weitergehen. Es wird uns schon nichts passieren."

      Er setzte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern. Sie zitterte am ganzen Körper.

      „Du brauchst keine Angst zu haben. Gemeinsam stehen wir das durch!"

      Marc versuchte, tapfer zu sein und seine Angst nicht zu zeigen, um Akandra nicht noch mehr zu beunruhigen. Aber auch er zitterte, und seine Hände waren nass von Schweiß. Nach einer Weile machten sie sich wieder auf den Weg und waren nun noch vorsichtiger als bisher.

      „Ich glaube, bei Licht könnte man diese Treppe gar nicht hinuntersteigen. Wenn man sie in ihrer vollen Länge sehen könnte, würde einem schwindelig, und man hätte viel zu viel Angst." Akandra hatte sich wieder in der Gewalt und übernahm die Führung.

      Sie stiegen und stiegen. Bald begannen ihre Beine zu schmerzen. Marc bekam einen Wadenkrampf. Aufschreiend ließ er sich nieder. Eilig massierte Akandra die schmerzenden Muskeln, bis sich der Krampf gelöst hatte. Stöhnend lag ihr Begleiter