Jürgen Brandt

Ein Flüstern der Vergangenheit


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nächstes heraus.

      „Der oder die Einbrecher erbeuteten immer nur Kleinkram, während hingegen wertvolle Gegenstände meist liegengelassen wurden. Die Häuser lagen oft nicht an verkehrsgünstigen Stellen. Welcher vernünftige Dieb bricht am Ende einer verkehrsberuhigten Sackgasse in ein altes, heruntergekommenes Haus eines Arbeitslosen ein? Außerdem geht der Dieb stets mit brachialer Gewalt vor. Meist hat er schlicht eine Balkon- oder Terrassentür oder ein Fenster mit einem Ziegelstein eingeschlagen und ist dort hinein.“

      „Und? Das bedeutet?“, frage ich ratlos.

      „Keine Ahnung“, ist Jo' s schlichte Antwort.

      3. Zu spät!

      Dieses Ding mit den Einbrüchen ist zugegeben ein Rätsel. Über die ganze Umgebung verteilt erfolgen derlei merkwürdige, stümperhafte Diebstähle. Gemeldet wurden bisher unter anderem Vorfälle in Quentel, St. Ottilien, Liebenau, Wellerode, Wattenbach und Eiterhagen. Aber einen Zusammenhang konnten wir bisher nicht feststellen. Die Opfer arbeiten in unterschiedlichen Firmen und gehören verschiedenen gesellschaftlichen Schichten an, vom Arbeitslosen, der keinen Euro besitzt, bis hin zum CIO eines großen, lokalen Unternehmens. Und selbst bei den reichsten Opfern wurden meist wenige Dinge gestohlen. Mal ein einfaches Handy oder ein alter Laptop, bei anderen eine hässliche Vase oder eine Statue. Und das, obwohl weitere, teilweise extrem wertvolle Dinge offen herumlagen. Einmal hatten die Räuber sogar eine prall gefüllte Geldbörse schlicht liegen lassen.

      Irgendwie muss ich Jo' s Intuition Recht geben. Etwas ist hier faul und entspricht keiner unserer Erfahrungen. Aber einen Ansatz finden wir trotz allem nicht. Wir arbeiten uns einen ganzen Tag durch sämtliche Fallakten. Gemeinsam schauen wir uns hunderte von Tatortfotos an. Sogar eine stichprobenartige, telefonische Befragung der Opfer ergibt nichts Neues.

      Auch forensisch war und ist nichts zu holen. Keinerlei Fingerabdrücke, aber welcher Täter arbeitet heutzutage noch ohne Handschuhe? DNA und Haarproben wurden meist nicht genommen. Warum auch? Simple Einbrüche, bei denen nur Gegenstände im Wert einiger Euro gestohlen wurden, werden meist nicht so intensiv untersucht.

      „Es gibt Leute, die keine Ahnung davon haben, dass sie keine Ahnung haben“, ist Georgs einziger Kommentar und nur einer seiner blöden Sprüche. Andere sind: „Ich habe keine Ahnung, aber davon eine Menge.“ oder „Wer nichts ahnt, hat auch vom Nichts wenig Ahnung.“ Allesamt sehr bedeutsam, aber trotzdem absolut nutzlos.

      Auch heute Morgen sitzen wir wieder an unseren Schreibtischen und versuchen, einen neuen Ansatz zu finden. Gemütlich schlürfen wir unseren Kaffee und drehen uns mit unseren Gedanken im Kreis. Vielleicht ist Georgs Ansatz, dass alles nur eine dämliche Diebesbande war, doch der richtige. Zumal seit über einer Woche kein neuer, derartiger Fall gemeldet wurde. Sicherlich ist die Bande zu neuen Jagdgründen in einer anderen Stadt aufgebrochen.

      „Jo, vielleicht solltest du dich mit dem Gedanken anfreunden, dass die Einbrüche doch schlicht Einbrüche sind. Ohne irgendwelche sonstige Beweggründe“, beginne ich sanft auf Jo einzuwirken.

      „Niemals!“, ist ihre einzige Reaktion.

      „Aber es gab keine weiteren Einbrüche.“

      „Na und?“

      Jo kann so trotzig wie meine Tochter während ihrer Pubertät sein. Aber wir vergeuden hier nur unsere Zeit. Wir haben zwar nach wie vor keinen anderen Fall, aber trotzdem.

      „Wir sollten hier abbrechen. Wir haben sowieso keinen weiteren Ansatz“, spreche ich meine Gedanken laut aus.

      „Nein!“

      „Doch.“

      „Nein!“

      Ich kenne Jo inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie dieses Spiel im Notfall den ganzen Tag durchziehen kann. Also schlage ich einen Kompromiss vor. Hierauf hatte ich von Anfang an abgezielt: „Wir ziehen das noch bis zum Ende der Woche durch, danach hören wir auf. Einverstanden?“

      „Naja.“

      „Einverstanden?“, hake ich nach.

      „Nur unter der Bedingung, dass wir bis dahin keine einzige neue Information erhalten.“

      „Das hört sich vernünftig an. Also abgemacht.“

      Gewonnen. Somit können wir uns ab nächster Woche auf einen neuen Fall stürzen. Zumindest sofern es einen geben sollte. Ansonsten ergeben wir uns wieder der Langeweile. Denn warum sollte es in diesem Fall jetzt noch entscheidende Neuigkeiten geben?

      „Es gibt entscheidende Neuigkeiten in diesem Fall!“, stürmt unsere Chefin höchstpersönlich ins Zimmer. Ihr Kleid raschelt, ihre vielen Ketten und Armreifen klimpern und eine unglaublich penetrante Duftwolke Parfum umgibt sie. Ihr Gestank, pardon „Duft“, und ihre schrille, quietschende Stimme müssen meine Sinne vernebelt haben. Hat sie tatsächlich etwas von -entscheidenden Neuigkeiten- gesagt? Das kann doch nicht sein. Ratlos sinke ich in meinen Stuhl zurück.

      Jo hingegen springt auf und ist vollkommen aus dem Häuschen: „Was für Spuren gibt es? Fingerabdrücke? DNA? Videos einer Kameraüberwachung? Augenzeugen?“

      „Leider nein“, entgegnet unsere Kommissariatsleiterin. „Es ist dramatischer. Bei einem heute begangenen Einbruch war der Hausbesitzer zu Hause. Er hat anscheinend den bzw. die Einbrecher überrascht und wurde getötet.“

      „Tot?“, haucht Jo ungläubig und sackt blass in ihren Stuhl zurück. „Zu spät. Ich bin zu spät. Schon wieder.“

      „Wieso schon wieder?“, frage ich etwas ratlos.

      „Wie in Berlin…“

      „Was war in Berlin?“

      Aber Jo schaut nur noch mit glasigem Blick an die Decke. Als ich zu meiner Chefin schaue, erkenne ich an ihren Augen, dass sie mehr darüber weiß. Aber ich bin mir auch ebenso sicher, dass sie keine Information über Jo' s Verhalten und ihre Hintergründe preisgeben wird. Was verbirgt sich in Jo' s Vergangenheit so Dramatisches? Aber bevor ich weiter ins Grübeln gerate, holt mich die durchdringende Stimme meiner Chefin in die Gegenwart zurück.

      „Die Spurensicherung und der Gerichtsmediziner sind bereits informiert. Und Sie machen sich auch sofort auf den Weg.“

      „Haben Sie die Adresse?“, frage ich nach.

      „Es wird Ihnen nicht gefallen, aber der Mord geschah in Ihrem Heimatort Wellerode.“

      Schon wieder ein Schwerverbrechen dort. Dabei ist dies so ein süßes, kleines, verwunschenes Dorf in der Mitte Deutschlands.

      „Und jetzt Abmarsch!“, keift sie uns an.

      Klare Ansagen sind schon immer ihr Ding gewesen. Also los. Georg und ich schnappen unsere Sachen, während Jo in Gedanken versunken weiterhin auf ihrem Stuhl kauert. Dann machen wir uns eben zu zweit auf den Weg - wie früher. Wir wollen beide gerade an unserer Chefin vorbei aus dem Büro, als sie uns schrill anfährt.

      „Wollen Sie nicht Ihr gesamtes Team mitnehmen, ehrenwerter Herr Hauptkommissar Steingraf?“

      Wenn sie jemanden direkt mit -ehrenwerter Herr- anspricht, ist Vorsicht geboten. Außerdem betont sie jede Silbe meines Titels und meines Namens wie einen Peitschenhieb. Sie ist zwar bekannt für ihre herrische Art, aber dies ist trotzdem sehr ungewöhnlich. In all den Jahren unserer Zusammenarbeit habe ich sie nur sehr selten so aufbrausend gesehen. Aber dann bemerke ich ihre, wenn auch nur Sekundenbruchteile andauernden, besorgten Blicke in Richtung Jo. Jedes Mal huscht eine Spur von Traurigkeit über ihr Gesicht. Für einen Laien wahrscheinlich unsichtbar, aber für einen erfahrenen Profi wie mich doch zu erkennen. Was verbindet die beiden? Wieso hängt das Wohl und Weh unserer Chefin so sehr mit Jo' s Wohlbefinden zusammen?

      Aber bevor ich weiter grübeln kann, erhalte ich einen tadelnden Blick von ihr. Und das ist sehr harmlos formuliert. Ihre sonst immer etwas lethargisch dreinschauenden Augen verwandeln sich schlagartig in zwei unergründlich tiefe, schwarze Schlünde, aus denen eisige Strahlen in meine Richtung gnadenlos zu schießen scheinen.

      Kurzerhand