Jürgen Brandt

Ein Flüstern der Vergangenheit


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wehrt. Ansonsten hätte sie mir sicherlich schon längst eine gehörige Abreibung verpasst.

      4. Viel, viel früher!

      Anmerkung des Autors: Da es keine schriftlichen Überlieferungen aus der Bronzezeit Mitteleuropas gibt, ist der Großteil der dortigen Handlung reine Fiktion. Ich habe versucht, mich weitestgehend an die bisher ermittelten Fakten zu halten, aber trotzdem habe ich natürlich sehr, sehr viele schriftstellerische Freiheiten genutzt.

      (Viel, viel früher!)

      Alisha rennt aufgeregt und laut vor Glück schreiend aus dem Wohnstallhaus, um ihn zu begrüßen. Ihre langen, lockigen Haare wehen dabei lustig im Wind. Gerade noch hat sie ihre kleinen Zicklein gefüttert, als sie von draußen das unverkennbare Quietschen des Wagens gehört hat. Nach mehreren Monden ist er endlich wieder zurückgekehrt. Ihr geliebter Vater!

      Stolz sitzt er auf seinem Ochsenkarren, während dieser holpernd über die ungepflasterten Wege in das kleine Dorf einfährt. Die Ansiedlung ist in den letzten Sommern enorm gewachsen. Inzwischen sind es ganze dreißig Wohnstallhäuser, in denen zusammengenommen zehn Familien mit über achtzig Personen leben.

      Im Dorf und dessen Umgebung herrscht wie immer geschäftiges Treiben. Die Männer befinden sich großteils auf den Feldern und pflügen diese für die nächste Aussaat. Die Frauen haben sich vor den Häusern versammelt und mahlen das Getreide. Andere wiederum backen frisches Brot, dessen Duft verlockend über den zentralen Versammlungsplatz schwebt. Im gesamten Dorf schallt das gleichmäßige, eintönige Hämmern des Schmiedes. Es ist stets etwas Neues zu erschaffen oder Beschädigtes zu reparieren. Am Dorfrand ist das gleichmäßige Summen der vielen Bienenvölker trotz allem gut zu hören.

      Ein ganz normaler Tag in einer längst vergangenen Zeit. Das erst seit kurzem domestizierte Vieh streunt nach frischer Nahrung suchend durch die nähere Umgebung. Es äst grüne Gräser oder andere wohlschmeckende Knospen kleiner Pflanzen. Besonders junge Triebe stehen auf seiner Speisekarte. Durch den massiven Verbiss an den vielen Bäumen werden die bisher schier undurchdringlichen Buchen- und Eichenwälder in der Umgebung immer lichter. Umso leichter kann sich das Dorf immer weiter ausbreiten und die Bewohner neue Ackerflächen für die schnell wachsende Bevölkerungszahl erschließen.

      Aber all das interessiert Alisha in diesem Moment nicht im Geringsten. Überglücklich fällt das fast zwölf Sommer alte Mädchen ihrem Vater um den Hals. Endlich hat sie ihn wieder. Wie sehr hat sie ihn die letzten Monde über vermisst. Liebevoll streicht er seiner Kleinen durch die struwwelige Lockenpracht.

      „Oh, Jachon, wo warst du nur so lange? Du wolltest doch zwei Monde früher zurückkehren. Ich hatte solche Angst um dich!“, wird er auch von seiner geliebten Frau begrüßt.

      Sekunden später findet er sich umschlungen von Alisha, seiner Tochter und Gaya, seiner Frau. Dies ist der Grund, warum er immer wieder so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren möchte. Wie sehr vermisste er die beiden geliebten Menschen all die Monde über. Aber seine langen Handelsfahrten bringen seiner kleinen Familie nicht unerheblichen Wohlstand. Sie dürfte inzwischen die reichste Familie des gesamten Dorfes sein. Und sein Ansehen reicht unterdessen weit über die Grenzen des Dorfes hinaus. Er, der sich vom Bauernsohn zum ehrenwerten und geachteten Fernhändler hochgearbeitet hat. Dank ihm ist das Dorf eines der angesehensten und reichsten in der gesamten Region.

      Aber es wurde ihm auch viel abverlangt und er musste sehr viel Leid ertragen und Opfer erleiden. Alle Geschwister von Alisha sind bereits in sehr jungen Jahren verstorben. Die Götter haben sie zu sich gerufen. Sie starben an Krankheiten, die ihm von den allmächtigen Weltenschöpfern auferlegt wurden. Oder waren es die diabolischen Dämonen, gegen die selbst der Dorfdruide machtlos ist? Aber zumindest Alisha ist ihm geblieben. Umso mehr liebt er sein einziges Kind. Seine kleine Tochter.

      „Wo warst du?“, wiederholt seine Frau ihre Frage. „Hast du uns denn gar nicht vermisst?“

      „Doch, aber ich hatte immer meinen Talisman, die Bronzepuppe meiner Tochter, dabei. Jeden Abend habe ich sie mir vor dem Schlafengehen angeschaut und an euch gedacht. Und ich habe zu den Göttern für euch gebetet.“

      Alisha hatte diese kleine, aber recht grob verarbeitete Figur ihrem geliebten Vater mitgegeben, damit er auf Reisen nicht ganz so alleine ist und immer an sie denkt. All ihre Liebe hat sie in dieses metallene Püppchen fließen lassen.

      „Ich war weiter fort, als ich es mir jemals erträumt hatte“, berichtet Jachon. „Und leider auch länger von euch getrennt, als geplant. Ich gestehe. Aber ich habe fantastische, unvorstellbare Wunder gesehen, die sich hier, in diesem kleinen Dorf niemand vorstellen kann. Es war einfach unglaublich!“

      „Erzähl Vater. Bitte, bitte!“, quengelt Alisha sofort los. Sie ist unendlich neugierig und würde am liebsten jede Handlungsreise ihres Vaters begleiten.

      „Ich habe Landschaften ohne Berge gesehen. Es war einfach alles flach, soweit man sehen konnte. Als hätten die Götter sich dort hingelegt und mit ihren gewaltigen Körpern alle Berge und Hügel plattgedrückt. Keine Erhebung soweit das Auge reicht. Könnt ihr euch ein Land ohne Erhebungen vorstellen?“

      „Jetzt übertreibst du aber ein wenig“, wendet Gaya ein. „Es gibt überall Berge. Sieh dir nur unser kleines Dorf in diesem wunderschönen Tal an. Auch dahinter gibt es Berge. Berg und Tal, daraus besteht doch die Welt!“

      „Aber das ist noch lange nicht alles. Dort befindet sich das Ende unserer Erde. Ich habe es selber gesehen! Ihr könnt es mir wirklich glauben! Dahinter gibt es nur noch Wasser bis zum Weltenrand. Und die Dämonen haben dieses Wasser verflucht, denn es ist so salzig, dass man es nicht trinken kann. Außerdem branden mehr als mannshohe Wellen an das Ufer.“

      „Du meinst, es gibt dort viel mehr Wasser, als an diesem gewaltigen Fluss hier in der Nähe?“, fragt Alisha staunend und mit großen Augen.

      Ihr Vater hatte sie einmal für eine Tagestour auf seinem vollgeladenen Karren mitgenommen. Sie kannte bisher nur die beiden Bäche, aus denen sie ihr Wasser entnehmen. Nach einer, zumindest für ihre Begriffe langen Reise, hatte sie eine unüberwindliche Wasserbarriere vorgefunden. Der breite Fluss schien die Welt in zwei Teile zu trennen.

      „Siehst du die Flöße auf dem Wasser? Diese kleinen Wunder menschlichen Könnens, die aus mehreren Holzstämmen zusammengebunden sind?“, fragte ihr Vater.

      „Ja, was machen die da?“

      „Sie transportieren Waren und Personen von einem Ufer zum anderen. Und ich liefere ihnen heute neue Stämme aus unseren Wäldern, damit sie ein weiteres Floß bauen können.“

      Alishas Gedanken kehren in die Gegenwart zurück. „Wieviel Wasser? Fahren dort auch Flöße zur anderen Seite?“

      „Es gibt gewaltige Flöße, dort nennt man sie Boote, die aber nur an der einen Seite des Ufers entlangfahren“

      „Warum fahren sie nicht zur anderen Seite? Sind da böse Menschen? Oder böse Tiere?“, bohrt Alisha weiter.

      „Es gibt keine andere Seite. Da ist nur noch Wasser und sonst nichts.“

      „Ach, du erzählst heute mal wieder einige wirklich merkwürdige Geschichten. Was geschieht denn deiner Meinung nach mit all dem Wasser am Weltenrand, wenn es kein anderes Ufer gibt?“, bemerkt Gaya zweifelnd.

      „Ich vermute, es fällt in einem gewaltigen Wasserfall hinunter. Hinab in die dunkle Unterwelt“, versucht Jachon zu erklären. „Aber wer weiß, wie es den Göttern und Dämonen gefällt.“

      Bevor er noch weiter versuchen muss, das schier Unerklärbare zu erklären, kramt er tief in einem Stoffsack. Nach kurzer Suche präsentiert er zwei atemberaubende Mitbringsel für die beiden Menschen, die er am meisten liebt!

      „Dieses Armband aus blauen Glasperlen ist für dich, mein kleiner Sonnenschein“, erklärt er, während er Alisha sanft ein wunderschönes Armband übergibt.

      Und dieses hier ist für mein holdes, über alles geliebte Weib. Ein Schatz vom Ende unseres gesegneten Landes. Angespült vom salzigen Wasser des Weltenrandes.“

      Es