Jürgen Brandt

Ein Flüstern der Vergangenheit


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quer über den gesamten Körper. Sie waren allesamt sehr brutal und nach Aussage von Dr. Truber, sicherlich extrem schmerzhaft für das gequälte Opfer. Es wurden dabei sogar einige Rippen angebrochen. Außerdem, und dies ist noch unerklärlicher, waren auch mehrere Finger brutal zertrümmert worden und mehrere Zähne ausgeschlagen.

      Dr. Truber schlägt zwei mögliche Begründungen für die vorgefundenen Spuren vor. Entweder zügellose Raserei, so eine Art von ekstatischem Blutrausch. Warum muss ich mir hierbei einen Vampir vorstellen? Oder aber eine Art von Folter. Aber warum sollte der ärmste Herr Doktor so grausam gequält werden. Beides ergibt für einen Einbruch keinen Sinn. Damit hat der Bericht diesmal leider mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Aber den Mörder zu finden, ist auch nicht Aufgabe eines Gerichtsmediziners. Auch wenn dies in etlichen Fernsehserien so dargestellt wird.

      Nach einer kurzen, aber fruchtlosen Diskussion schauen wir uns die Überwachungsvideos des Pfandleihhauses auf einem unserer Monitore an. Mehr als vier eintönige Stunden über den Alltag in einem Pfandleihhaus stehen uns bevor. Noch tausendmal langweiliger als die meisten sogenannten Realityshows im Fernsehen.

      „Könnt ihr das nicht einfach schneller vorspielen?“, fragt Jo nach. Ein erneutes Lebenszeichen von ihr und eine gute Idee. Also beschleunigen wir auf die doppelte Abspielgeschwindigkeit. Somit nur noch zwei Stunden, aber dafür wimmelt es umso hektischer auf dem kleinen Bildschirm.

      „Schneller“, schnaubt Jo.

      „Ich erkenne jetzt schon fast nichts mehr. Ein alter Mann wie ich ist doch kein D-Zug.“, bekennt Georg ehrlich. „Und ein ICE oder gar Transrapid, auch wenn er mit Kassel in direktem Zusammenhang steht, schon gar nicht.“

      „Wir dürfen schließlich nichts verpassen“, unterstütze ich meinen Partner.

      „Lass mich mal ran.“ Und schon übernimmt Jo den Computer und ehe wir uns versehen, läuft der Film mit sechzehnfacher Geschwindigkeit ab. Ich erkenne nur noch verwischte Schlieren und eine gewisse Übelkeit steigt in meinen Eingeweiden auf. Auch Georg muss den Blick schnell abwenden. Nur Jo schaut wie hypnotisiert auf den Monitor. Kann sie hier überhaupt noch Einzelheiten erkennen?

      Für Normalsterbliche und Erdenbürger ist dies garantiert absolut unmöglich! Und woran will sie den Typ überhaupt erkennen? Ihn identifizieren? Wir haben überhaupt keine Anhaltspunkte, weder sein Aussehen noch seine Kleidung. Das alles erscheint mir schlicht unmöglich. An Georgs resigniertem Blick erkenne ich, dass er derselben Meinung ist. Niemals wird sie ihn auf diese absurde Weise finden und erkennen können.

      „Da ist er!“, erklärt Jo bereits fünf Minuten später mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. Wenn sie es tatsächlich geschafft haben sollte, den Typen zu erkennen, kann sie auch stolz sein. Wir blicken alle gebannt auf das Standbild. Ein Mann mittleren Alters steht am Tresen, während etwa ein Dutzend andere Personen im Raum herumwuseln.

      „Wieso soll das unser Mann sein?“, frage ich irritiert. Was habe ich hier nicht mitbekommen?

      „Seht ihr nicht den Laptop in seiner Hand?“, fragt uns Jo selbstbewusst.

      „Ja, schon. Aber bereits am Anfang von diesem Video haben andere Personen ebenfalls Laptops abgegeben. Vielfach! Das kann kein Kriterium für die Überführung des Verkäufers von dem besagten Laptop sein!“, wage ich vorsichtig einzuwenden.

      „Das scheint sogar in diesem komischen Laden ganz normal zu sein. Und die Seriennummer kannst selbst du bestimmt nicht erkennen. Auch wenn du ein paar wenige Jahre jünger bist als wir beide!“, stichelt Georg ein wenig.

      „Das nicht. Aber seht ihr, wie der Ladenbesitzer die junge, blonde Frau mit den großen … Augen anschmachtet, während er das Geschäft abwickelt?“

      „Ihre prallen … Augen sind aber wirklich fantastisch. Einfach überwältigend! Sind die echt? Wahnsinn!“, stimmt mein ehrenwerter Partner, dieser unverbesserliche Schwerenöter, zu. Und ich hatte gehofft, dass er im Alter ein wenig ruhiger wird. Aber genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein. „Je oller, je doller!“, würde er jetzt wahrscheinlich von sich sagen.

      „Georg, wende bitte deinen Blick von ihren … Augen ab. Es ist doch wirklich ganz egal, ob sie große Augen, Ohren, Füße oder sonst etwas hat“, versuche ich seine Gedanken wieder auf das Wesentliche zu richten.

      „Große -sonst was- ist gut!“, grinst er mich allerdings nur breit an. Der Versuch ging nach hinten los. Anscheinend habe ich in all den Jahren noch immer nicht gelernt, meinen Freund einzuschätzen oder gar in den Griff zu bekommen.

      „Ihr beide seid schrecklich! Schaut den Frauen nur auf die … Augen oder … sonst was“, kritisiert uns Jo. Sie hat ja recht. Aber dann fährt sie fort: „Aber in diesem Fall stellt die Tussi ihre großen … Augen wirklich zu sehr zur Schau. Wer´s nötig hat. Aber dabei hat sie tatsächlich schöne Augen, falls es einem von euch Männern aufgefallen sein sollte.“

      „Konzentriere dich einfach auf den potthässlichen Typen am Tresen“, versuche auch ich meinen Partner wieder einzufangen. „Auf den, der den vermeintlich geraubten Laptop verhökern will. Auch wenn es dir schwerfällt. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Oder was meinst du dazu, mein Freund?“

      Kaum schaut er den jungen Mann an, verfliegt sein freches, lüsternes Grinsen. „Ist das nicht der Seppl?“, antwortet er bereits wenige Sekunden später.

      „Wer ist denn Seppl? Der Partner vom Kasperle? Und spielt die Hexe auch mit? Oder der Räuber Hotzenplotz? Ist der Räuber Hotzenplotz unser Dieb? Das wäre mal eine irre Pressemeldung. -Der Räuber Hotzenplotz und die böse Hexe brechen in Wohnungen ein-“, legt Jo nach. Der alte Schelm, beziehungsweise in ihrem Fall die junge Schelmin, kommt endlich wieder zum Vorschein.

      „Eigentlich ist sein Name Sepp“, antwortet Georg so sachlich wie möglich. Auch er, genau wie ich, muss sich ein lautes Lachen verkneifen.

      „Sepp Maier, Sepp Herberger oder Sepp Blatter? Und was hat das alles mit Fußball zu tun?“, kommt aber prompt das Kontra von unserer Jo.

      „Sepp Schuster. Sein Name ist Sepp Schuster. Ein bekannter Kleinganove aus der Gegend. Bereits öfters von uns verhaftet wegen Ladendiebstahl oder anderer Kleinigkeiten. Hin und wieder gibt er der Polizei aber auch ein paar brauchbare Tipps aus der Szene, deshalb ist er noch immer auf freiem Fuß.“

      „Bisher zumindest. Setz ihn sofort auf die Fahndungsliste. Mit Mord kommt er nicht durch!“, erkläre ich!

      6. Wachstum erleben

      (Viel, viel früher!)

      In den nächsten Jahren wächst das kleine, beschauliche Dorf stetig weiter. Immer neue Familien siedeln sich hier in den ehemals undurchdringlichen Wäldern an. Und genau diese Wälder begrenzen die Ausdehnung nun leider erheblich. Früher wurde mit unkontrollierbarer Brandrodung Platz geschaffen, aber dabei kamen oft Tiere oder sogar Menschen zu schaden. Und nicht nur einmal drehte sich der Wind und das halbe Dorf ging in Flammen auf. Inzwischen werden Bäume nur noch gezielt mit Äxten und Sägen gefällt. Dank des neuen, sehr harten Metalls ist dies möglich geworden. Dieses Metall hat einen enormen Entwicklungssprung der gesamten Menschheit verursacht.

      Seit einigen Sommern gibt es im Dorf sogar Kühe. Die schmackhafte und äußerst gesunde Milch war bereits nach kurzer Zeit sehr beliebt. Aber auch der länger haltbare Käse wurde gut angenommen.

      Die Flächen für den Ackerbau werden ebenfalls immer raumgreifender. Während Weizen und Gerste angebaut werden, um Brot herzustellen, dient Hirse als Grundlage für einen nahrhaften Getreidebrei. Möglich machte die großflächige Bearbeitung von Ackerflächen ein Pflug, der durch ein Rindergespann gezogen wurde. Und eben dieser Pflug wird ebenfalls aus demselben harten Metall gefertigt.

      Im letzten Herbst wurde die üppige Ernte schnell und elegant mit einer metallenen Sichel eingebracht. Metallene Sensen mähen Gras schnell und in großen Mengen. Das so geerntete Heu versetzt die Dorfbewohner in die Lage, größere Tierherden in der kalten Jahreszeit mit Nahrung zu versorgen. Bedingt durch immer mehr Nutztiere wurden neue Ställe benötigt und natürlich auch errichtet. Das Dorf breitet sich stetig in dem kleinen,