Andreas Zenner

GMO


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Begegnung klebte Heinrich noch immer im Gedächtnis wie ein ausgelutschter Kaugummi. Sie waren im Streit auseinandergegangen, wie fast immer. Vater, der alte Choleriker, hatte einmal mehr herumgeschrien, ihn einen undankbaren, nichtsnutzigen Sohn geschimpft. Und Heinrich titulierte seinen Vater als alten Säufer, der nicht mehr im Stande sei einen klaren Gedanken zu fassen. Augenblicklich tat ihm sein unkontrollierter Wutausbruch leid. Er schaffte es nicht sich zu entschuldigen. Wortlos trennten sie sich, jeder mit seinem Groll, seiner tiefen Verletzung, die nicht das Geringste mit der auslösenden Situation zu tun hatte.

      Sein Bruder bestand darauf, ihn vom Flughafen abzuholen. Heinrich versuchte es mit einer Ausflucht, die kam irgendwie halbherzig herüber und so willigte er schließlich gequält ein. Er fühlte sich als sei er in einem Käfig gefangen aus dem es kein Entrinnen gab. Jetzt war er darauf angewiesen, mit seinem Halbbruder zu fahren, oder mit einem anderen Familienmitglied. Im Stillen hoffte er, wenigstens ein paar Augenblicke alleine mit dem Vater verbringen zu können. Ob das unter diesen Umständen möglich wäre, daran zweifelte er. Er ahnte, möglicherweise könnte dies die letzte Gelegenheit sein. Heinrich haderte mit sich. Wieder einmal hatte er nachgegeben, gegen seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse gehandelt. Warum nur passierte ihm das immer wieder? Hing es mit dem frühen Tod der Mutter zusammen? Wie sehr sie ihm fehlte, begriff er erst mit den Jahren. Doch dieses Sinnieren machte keinen Sinn. Cielo gab ihm nie das Gefühl er handle falsch. Sie war überhaupt eine wunderbare Frau. Automatisch griff er in die Tasche, fischte sein Handy heraus, um sie anzurufen. Er sehnte sich nach ihrer warmen weichen Stimme. Sie verstand es wie sonst niemand ihn mit wenigen Worten zu trösten. Da ähnelte sie der Mutter. Das Telefon läutete lange, Cielo hob nicht ab. Vielleicht hörte sie das Klingeln nicht, schlief schon, doch nein, dazu schien es zu früh. Besuchte sie eine Freundin? Oder war sie gar ins Kino gegangen? Heinrich fühlte sich mutterseelenallein. Ein Gefühl, das er verdammt gut kannte und das ihn sein Leben lang begleitete. Immer in schwierigen Situationen spülte seine Seele diese grenzenlose, dunkle und abgrundtiefe Einsamkeit nach oben. Obgleich es hierfür selten einen Anlass gab. Es lief alles reibungslos in seinem Leben. Zu glatt. Manchmal beschlich ihn eine bange Furcht, vor etwas Namenlosem, Grausamen, einem plötzlichen Schicksalsschlag. Er konnte diese Urangst nicht benennen, doch sie war da, verstärkte sich in letzter Zeit noch.

      „Was spinnst du dir wieder für einen Blödsinn zusammen“, versuchte er die düsteren Gedanken zu verscheuchen. Doch so einfach ging das nicht. Heinrich schüttelte unwillig den Kopf. Um sich abzulenken bummelte er durch die Boutiquen, stöberte im Buchladen. Er fand nichts, was ihn interessierte. Müde und unzufriedenen warf er sich auf das Bett und schaltete, um sich zu beruhigen, einen Pornokanal ein. Er brauchte Sex wie andere Menschen ihren täglichen Morgenkaffee. Den Weckdienst hatte er für 5:00 Uhr bestellt. Sein Flug nach Montgomery startete als einer der ersten. Bald fiel er in einen fiebrigen Schlaf, den Daumen im Mund. Angstträume peinigten ihn die halbe Nacht. Im Traum begegnete er der Mutter, doch jedes Mal wenn er sie ansprach, oder umarmen wollte, zerstob ihr Bild im wabernden Nebel. Mehrmals wachte er schweißgebadet auf, versuchte sich mit einem Glas kalten Wassers zu beruhigen, bevor er wieder in seinen unerfrischenden Schlaf sank. Am Morgen wälzte er sich schlaftrunken aus dem Bett. Er hatte vergessen, den Rasierapparat einzupacken und er musste unrasiert zum Frühstück. Er trödelte mit Brötchen und Kaffee so lange herum, dass er, als er sich endlich aufraffte, sich als letzter durch den Einstieg der Boeing 737 quetschte. Außer Atem ließ er sich in den Sitz fallen. Er wollte ein wenig Schlaf nachholen, doch seine Gedanken entführten ihn erneut in die Vergangenheit. Er tastete nach dem Bild in seiner Brusttasche und nahtlos knüpfte er an die Ereignisse nach dem Tod der Mutter an.

      Die Wochen und Monate nach Mutters Tod lasteten wie Blei auf Vater und Sohn. Wie ein dumpfer schwerer Schleier hing die Trauer über dem Haus, wehte durch die Räume, dämpfte jedes laute Wort, jede Fröhlichkeit. Dolores versuchte Heinrich aufzuheitern, es glückte ihr nicht. Besonders bedrückend waren die Wochenenden, wenn er mit dem Vater alleine blieb. Jeden Abend betrank sich der Vater und oft versuchte Heinrich ihn verzweifelt am nächsten Morgen wachzurütteln. Montags räumte Dolores kopfschüttelnd die leeren Bourbonflaschen in den Abfalleimer.

      „Der Kummer bringt ihn noch um, wenn er weiter so trinkt, wird seine Leber das nicht lange mitmachen“, sagte die dicke Mum eines Mittags beiläufig zu ihm. Da hatte Heinrich gerade seinen zwölften Geburtstag überstanden. Feiern konnte er das nicht nennen. Der Vater hatte seinen Jahrestag vergessen, wie schon die Jahre vorher. Am Abend machte er ein betretenes Gesicht, versprach ihm ein tolles Geschenk, auf das Heinrich vergeblich wartete. Er entschuldigte sich unter Tränen, zog sich eine halbe Stunde später wortlos in sein Arbeitszimmer zurück. Heinrich hörte, wie er eine neue Flasche entkorkte. Weinend schlich er in sein Bett, schlief unter Tränen ein. Die Bemerkung seiner Nanny schürte zusätzliche Ängste in seinem Herzen. Der Vater war der einzige Mensch auf der Welt, der ihm blieb. Was, wenn auch ihm etwas zustieße. Dann wäre er ganz alleine und er fühlte sich doch noch so klein. Manchmal auch überfiel ihn eine grenzenlose Wut und er haderte mit dem Vater und der Mutter, die ihn so früh verlassen hatte. Dann stürzte er in sein Zimmer und trat mit dem Fuß gegen die Schranktür. Dem Vater gegenüber jedoch ließ er sich nichts anmerken. Der hätte ihm möglicherweise auch noch das letzte Quentchen Liebe entzogen. Er überlebte die Jahre mit dem Mut der Verzweiflung, bemühte sich nicht über sein Elend nachzugrübeln. Für ihn gab es nur eine Chance, er musste schnell erwachsen werden, schneller als all die anderen Kinder in der Schule, schneller als die Mädchen in der Nachbarschaft. Und Heinrich wurde erwachsen, lange vor seiner Zeit. Das Gesicht mit den brennenden dunklen Augen wirkte immer eine Spur zu ernst. Seine täglichen Aufgaben bewältigte er klaglos, ja er bemühte sich ein Übriges zu tun. Bald übertrug ihm der Vater auch wichtigere Aufgaben als Abspülen und Putzen und Heinrich erledigte diese Pflichten mit großer Sorgfalt. Wenn er sich jedoch unbeobachtet fühlte, fielen seine Schultern herab und nicht selten kämpfte er mit den Tränen. Stillschweigend sorgte er für den Vater. Er achtete darauf, dass dieser wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag zu sich nahm. Mit leisem Vorwurf quittierte er es wenn der Vater sich eine neue Flasche aus dem Schrank holte. Er begann auf den Flaschen des Vaters mit wasserfestem Stift Markierungen anzubringen und er vereinbarte mit dem Vater wie viel dieser pro Nacht trinken durfte. Natürlich hielt sich dieser nicht daran, beschimpfte den Jungen unwirsch. So wurde Heinrich, ohne es zu wollen zum heimlichen Komplizen des Vaters. Da zählte er gerade einmal dreizehn Jahre. Äußerlich gab es im Haus der Gerstones nichts auszusetzen und doch hatte der frühe Tod der Mutter Heinrich die Kindheit geraubt, ihn für immer geprägt. Die Angst einen Menschen, den er liebte zu verlieren, begleitete ihn sein ganzes weiteres Leben. Er konnte diese Furcht gut verbergen, doch stets lauerte sie auf dem Grund seiner Seele, bereit bei der nächstpassenden Gelegenheit hervor zu kriechen, ihm die Kehle zuzuschnüren, ihm die Lebensfreude auszusaugen, ihn zu vernichten.

      An einem warmen Sonntagvormittag nahm der Vater ihn zur Seite.

      „Heinrich“, sagte er und starrte verlegen auf den Boden, vermied es den Sohn anzusehen, „es wird Zeit, dass wir wieder eine Mutter für dich finden.“

      Heinrich erschrak zutiefst. Was sollte diese Ankündigung, die wie eine Drohung klang? Er verstand die Welt nicht mehr. Hatte er nicht alles getan, damit es dem Vater gut ging.

      „Ich brauche keine Mutter“, stieß er heftig hervor, „ich habe eine Mutter und die ist tot. Habe ich nicht alles getan, damit du dich wohl fühlst? Sag, was muss ich noch tun?“

      Tränen standen in seinen Augen.

      „Das verstehst du nicht“, meinte der Vater und kaum hörbar fügte er hinzu, „ich glaube, ich schaffe es nicht, alleine zu sein.“

      „Aber du hast doch mich“, schluchzte Heinrich.

      „Ich liebe dich über alles, aber ich denke, es ist das Beste für dich.“

      Es schien, als sei die Entscheidung schon gefallen. Der Vater versuchte, den weinenden Jungen zu trösten, legte versöhnlich den Arm um ihn. Heinrich stieß ihn schroff von sich und stürzte blind vor Tränen in sein Zimmer, wo er sich heulend auf das Bett warf. Sie erwähnten das Thema nicht mehr. Am übernächsten Wochenende schleppte der Vater diese Weibsperson ins Haus. Sie war jung, sehr jung sogar. Heinrich erinnerte sich, die Frau auf der Beerdigung der Mutter gesehen zu haben. Sie trug dieses aufdringliche Parfüm, hatte