Andreas Zenner

GMO


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dort, eingeschlafen, den Kopf auf der eichenen Schreibtischplatte liegend, daneben umgekippt die leere Flasche Bourbon. Ein dünner eingetrockneter Speichelfaden hing in seinem Mundwinkel.

      An einem Dezembermorgen gegen 5:00 Uhr schrillte das Telefon. Heinrich schrak hoch, tappte schlaftrunken zum Apparat, hob ab. Es war das Krankenhaus.

      „Kann ich deinen Vater sprechen?“, fragte eine männliche Stimme. Heinrich rüttelte den Vater an der Schulter, bekam ihn kaum wach.

      „Das Krankenhaus“, rief er wieder und wieder voller Panik. Schließlich zerrte er den Benommenen ans Telefon. Endlich öffnete der Vater die Augen, sah ihn mit glasigem Blick an.

      „Ich komme“, lallte er mit gebrochener Stimme in den Hörer. Fahrig schlüpfte er in seine Hose. Heinrich stand zitternd daneben. Angst umkrampfte sein kleines Herz.

      „Du musst heute nicht in die Schule“, krächzte der Vater. „Warte auf mich.“

      Heinrich hörte die Tür ins Schloss fallen, hörte den Motor des Wagens aufheulen, dann war er alleine. So alleine wie noch nie in seinem Leben. Betäubt stand er im Flur, unfähig auch nur ein Glied zu rühren. Nicht einmal Tränen hatte er mehr, die waren alle geweint.

      Nun war es also geschehen, dachte er. Seine Mutter war tot. Er hatte es erwartet, wie sein Vater und trotzdem konnte und wollte er es nicht glauben, klammerte sich bis zuletzt an das kümmerliche Fünkchen Hoffnung. Gleichzeitig, und er schämte sich es einzugestehen, war er erleichtert. Erleichtert, dass die Qual ein Ende gefunden hatte. Zu grauenvoll war die Anspannung der letzten Wochen für ihn. Das Wechselbad zwischen Hoffnung und tiefster Verzweiflung. Jedes Mal, wenn es der Mutter ein wenig besser ging, hatten sie gebangt: endlich, endlich sei alles überstanden, war die teuflische Krankheit besiegt. Nur um am nächsten Tag umso mutloser einen erneuten Rückfall beobachten zu müssen. Eine zu große Last für einen kleinen Jungen. Der Vater konnte ihm keine Hilfe sein, der vergrub sich in seinem Schmerz, sah den Sohn schon lange nicht mehr. Heinrich setzte sich, im Schlafanzug, mit bloßen Füßen auf die Fließen im Gang und wartete. Im Haus Totenstille. Der Lärm des anbrechenden Tages drang nicht zu ihm. Nicht einmal weinen konnte er und das erschreckte ihn am meisten. Dolores hatte sich heute frei genommen, so dass der Junge in seiner brennenden Einsamkeit gefangen blieb, aus der ihn niemand retten konnte. Irgendwann hörte er auf zu denken, saß nur da, betäubt, sprachlos, traurig und vor Kälte zitternd. Die Zeit stand still. Er versuchte sich die Mutter vorzustellen und bemerkte erschreckt, ihr Bild begann sich bereits aufzulösen. Er konnte sich nicht mehr klar an sie erinnern. Ihre Gesichtszüge wurden unscharf, die Gesten, die Stimme, alles verschwamm im blutigen Nebel seines Schmerzes. Er fühlte sich schuldig, schwor sich sie nie, nie zu vergessen. In seiner Herzensangst floh er ins Schlafzimmer der Mutter, warf sich auf das gemachte Bett. Es war immer gemacht, obwohl die Mutter schon lange nicht mehr darin lag. Das Bettzeug duftete schwach nach der Mutter. Da kamen ihm, mit der Erinnerung die Tränen. Aus der Tiefe seines gequälten Herzens strömten sie aus ihm heraus. Endlos schien ihr Fluss. Er schämte sich nicht, spürte nicht wie das Laken feucht wurde. Es blieb still im Haus, totenstill. Schatten wanderten durch das Schlafzimmer, ein leichter Wind blähte die Vorhänge. Heinrich fror obwohl es draußen warm war, er fühlte es nicht. Seine Einsamkeit wurde grenzenlos und sie würde es bleiben, lange Zeit. Gerne hätte er nach der Mutter gerufen, doch er erkannte die Nutzlosigkeit dieses Versuchs. Er setzte flüsternd an, allein das Wort „Mutter“ kam ihm nicht über die Lippen. Er faltete die Hände zum Gebet, doch auch ein Gebet fiel ihm nicht ein. Nur ein Kindervers, den die Mutter vor dem Einschlafen mit ihm gesprochen hatte.

      Ich bin klein

      Mein Herz ist rein

      Soll niemand drin

      Wohnen als du allein

      Gegen Mittag verspürte er Durst in der ausgetrockneten Kehle. Halb von Sinnen wankte er in die Küche, öffnete den Kühlschrank, wollte sich ein Glas Milch nehmen. Es gab keine Milch, außer ein paar aufgeweichten Tortillas starrte ihn nur gähnende Leere an. Nicht einmal einen Apfel konnte er finden. Er nahm einen Schluck aus der Wasserleitung, benetzte das verweinte Gesicht. Die Stunden vergingen und Heinrich wartete. Einmal tönte der Türgong, der Junge öffnete nicht. Erstarrt saß er, wartete und wartete.

      Gegen Abend kam der Vater. Sein Gesicht aschgrau und eingefallen, der Gang schleppend und schwer.

      „Ist sie tot?“

      Der Vater nickte stumm, schloss den Sohn in die Arme. Sie hatten keine Tränen mehr, pressten sich aneinander und fanden darin keinen Trost. Die Nacht dämmerte herauf, hüllte das Haus in blaue Schatten, als sich der Vater los machte.

      „Hast du etwas gegessen?“ Heinrich schüttelte den Kopf. Der Vater öffnete eine Dose Hot Dogs. Sie aßen sie kalt. Dann brachte der Vater ihn ins Bett.

      „Wir müssen jetzt stark sein, mein armer Junge.“

      Er saß bei ihm, zusammengefallen, bis Heinrich eingeschlafen war. Irgendwann in der Nacht hörte er den Vater im Arbeitszimmer schluchzen. Er fand nicht die Kraft zu ihm zu gehen. Wie hätte er ihn auch trösten können, wo er doch selbst Trost so nötig gehabt hätte.

      In dieser Nacht begann er, immer wenn er sich einsam und verlassen fühlte, den Daumen in den Mund zu stecken und daran zu saugen. Und er war oft alleine. Diese Angewohnheit hatte er bis heute beibehalten. Als der Vater es später einmal entdeckte, nannte er Heinrichs Daumen belustigt: Trösterchen.

      Die Beerdigung fand an einem nassgrauen Montag statt. Dicke Regenwolken hingen über der Bay, aus denen ein leichter, durchdringender kalter Nieselregen auf die Trauernden fiel. Heinrich klammerte sich an die Hand des Vaters. Stumm schritten sie hinter dem einfachen Fichtenholzsarg her. Die Rosen und die weißen Lilien des Bouquets hingen vom Regen schwer herab. Ab und zu tropften ein paar dicke Wasserperlen aus den Blütenkelchen, dann wippten die Lilien leicht mit den Köpfen. Der Pfarrer sprach ein paar Worte, segnete den Leichnam und der schlichte Sarg tauchte in das schwarze Loch aus feucht schimmernder Erde. Vater und Sohn traten an das offene Grab, warfen Margerittensträußchen ins Dunkel, eine Schaufel Erde, die auf den Deckel des Sarges prasselte. Die wenigen Trauergäste drückten ihnen still die Hand ehe sie im Schutz der aufgespannten Regenschirme zurück ins Trockene ihrer Autos flüchteten. Eine Frau, die Heinrich nicht kannte, grell geschminkt, drückte ihn an ihren Busen. Er mochte sie nicht. Sie trug ein aufdringliches Parfüm. Dann war alles vorüber.

      „Wir verlassen jetzt unsere Reiseflughöhe und setzten zur Landung in Dallas an“, tönte es blechern aus dem Bordlautsprecher.

      „Bitte schnallen Sie sich an und klappen Sie die Tische hoch. Bringen Sie Ihre Sitze in eine aufrechte Position.“

      Heinrich barg das Bild der Eltern in seiner Brusttasche. Die junge Stewardess mit dem berufsmäßigen Lächeln schritt durch die Reihen, kontrollierte die Anschnallgurte.

      „Geht es Ihnen gut?“, erkundigte sie sich zu Heinrich gewandt.

      „Alles in Ordnung“, antwortete er mit gepresster Stimme, voll quälender Erinnerungen.

      Auf dem Airport herrschte hektisches Treiben. Menschen hasteten durch die weiten Gänge, schwere Rollkoffer hinter sich her ziehend. Lautsprecheransagen quäkten durch die Hallen. An den Check-in-Schaltern lange Schlangen ungeduldiger Reisender. Heinrich konnte sich Zeit lassen. Sein Anschlussflug würde erst morgen in aller Frühe aufgerufen. Die ganze Nacht im Wartesaal zu verbringen, dazu verspürte er nicht die geringste Lust, also nahm er ein Zimmer im Flughafenhotel. Wenigstens ein paar Stunden Schlaf wollte er sich gönnen. Er kaufte bei Burger King einen Whopper, kaute lustlos darauf herum und spülte mit einer Pepsi nach. Das war nicht nach seinem Geschmack. Er dachte an die Garnelen, die Cielo heute bereiten wollte. Die rote klebrige Sauce tropfte ihm über die Finger. Es war laut und zugig in der Halle, von draußen schwappte das Dröhnen der startenden und landenden Maschinen herein. Zwischen all den hin und her hetzenden Menschen fühlte sich Heinrich alleine, sehr alleine. Er rief seinen Halbbruder an, teilte ihm kurz seine Ankunftszeit am nächsten Morgen mit. In Montgomery plante er einen Mietwagen zu nehmen, um unabhängig zu bleiben, sich eine Fluchtmöglichkeit offen zu halten, sollte es gar zu unerträglich werden. Was könnte so schauderhaft werden, fragte er sich