Andreas Zenner

GMO


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gar nicht über die Familie, denn sie waren vorrangig damit beschäftigt, den gemeinsamen Alltag zu bewältigen. Er erinnerte sich lückenhaft an eine glückliche Kindheit, mit der Mutter. An die windschiefe Schaukel am weit ausladenden Ast der Eiche im Garten des Hauses in Coronado. Der kleine Heinrich schaukelte stundenlang, manchmal angeschubst von der Mutter, meist jedoch alleine. Die alte Schaukel hing noch immer da. Er müsste das Sitzbrett erneuern, vielleicht die Seile, aber damit wollte er warten bis ihm ein Sohn geboren würde. Alte, fast vergessene Bilder tauchten auf. Er sah die Mutter lächelnd auf der Terrasse sitzen im großen weißen Schaukelstuhl, der heute noch in einer Ecke der Veranda lehnte. Cielo wiegte sich gerne darin. Es sah ihr dabei zu und die warmen Gefühle zu seiner Mutter mischten sich in seinem Herzen mit der Liebe, die er für Cielo empfand. Die Bilder der beiden Frauen, flossen ineinander, wie Tusche in einem Wasserglas. Er seufzte lautlos.

      „Darf ich Ihnen etwas anbieten“, riss ihn eine, blond gelockte Stewardess mit betont fröhlicher Stimme aus seinen Erinnerungen.

      „Vielleicht eine Cola“, brummte er unwillig. Das kalte süße Getränk tat gut in der stickigen Luft des Fliegers. Die Turbinen summten gleichmäßig und ohne größere Turbulenzen bahnte sich das Flugzeug seinen Weg durch die Lüfte. Gedankenverloren lutschte Heinrich einen Eiswürfel. Er erinnerte ihn an die Zitronenlimonade, die seine Mutter ihm im Sommer, wenn er von der Schule kam, anbot. Auch darin schwammen immer einige Eiswürfel, damit die Limonade schön kalt blieb. Eine wunderbare Frau, seine Mutter, sanft und zärtlich, immer für ihn da. Abends las sie ihm aus vergilbten deutschen Märchenbüchern vor, sprach auch meist Deutsch mit ihm. In der Schule tat sich Heinrich leicht mit dieser Sprache. Sein behütetes Glück währte nur wenige Jahre. Zu kurz für eine Kinderseele. Die Mutter wurde zunehmend unpässlicher. Oft saß sie mit rot verweinten Augen und Heinrich fragte sich beklommen, ob er etwas angestellt habe, auch wenn er sich keiner Schuld bewusst war. Der Vater lief mit besorgtem Gesicht herum. Mit seinen zwei linken Händen versuchte er der Mutter im Haushalt zu helfen, doch er war so ungeschickt, dass die Mutter ihn mit einem gequälten Lächeln aus der Küche schob. Zu tollpatschig stellte er sich an und Kochen war schon gar nicht seine Stärke. Er hatte es ein paar Mal versucht, doch das Ergebnis seiner Bemühungen schmeckte so abscheulich, dass sie das Essen in die Mülltonne kippen mussten. Mutter weinte ein wenig, sie hatte sich auf ihr Lieblingsessen, den bayerischen Schwärtelbraten gefreut. Meist machten sie dann eine Dose Ravioli auf. Der Vater beschränkte sich in seiner unbeholfenen Art darauf, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen, den Tisch zu decken, eventuell die Töpfe abzutrocknen. Eines Morgens wurde die Mutter vom Sanitätswagen ins Krankenhaus gefahren. Auf Heinrichs bange Frage antwortete der Vater nur: das verstünde er noch nicht. Er sah ihn lange und traurig an. Da ahnte Heinrich, etwas Furchtbares musste geschehen sein. Er durfte die Mutter nur wenige Male besuchen. Kam er, lag sie blass in den hoch aufgetürmten weißen Kissen. Sie strich ihm zärtlich über das krause Haar, ein paar Tränen kullerten über ihre Wangen. Seine Frage wann die Mutter wieder nachhause käme, wurde mit einem ausweichenden „bald“ beantwortet. Allein Heinrich sah zweifelnd auf die vielen Schläuche von denen zwei in Mutters Nase verschwanden und die anderen sich unter das geblümte Nachthemd ringelten. Ein mulmiges Gefühl ängstigte ihn. Verlegen hielt er die Hand der Mutter, wusste nichts zu sagen.

      In dieser Zeit lernte Heinrich Krankenhäuser zu hassen und er hatte es bis heute geschafft, keines mehr zu betreten. War einer seiner Freunde krank, erfand er rasch eine Ausrede, um ihn nicht im Hospital besuchen zu müssen.

      Keiner wollte ihm sagen was seiner Mutter fehlte. Bis zu jenem Abend, als er ein Telefongespräch des Vaters belauschte. Sein Vater dachte, er läge längst im Bett und schliefe, doch Heinrich konnte nicht schlafen, wie so oft in den vergangenen Wochen. Er stand heimlich auf, um sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Als er im Dunklen die Treppe hinunter tappte, hörte er aus dem düsteren Wohnzimmer die Stimme seines Vaters. Er wusste nicht mit wem er telefonierte, konnte auch nur einige wenige Brocken verstehen. Was er hörte, jagte ihm kalte Schauer über den Rücken.

      „Brustkrebs“, hörte er die Diagnose, mit der er damals nichts anfangen konnte.

      „Totaloperation, rechts.“

      „Nein, die Achsellymphknoten sind auch befallen. Ja, sie bekommt Chemotherapie, aber die schlägt nicht an.“

      Die erstickte Stimme des Vaters wurde undeutlich und so sehr sich Heinrich anstrengte, er konnte von dem Gespräch nichts mehr aufschnappen. Als der Vater später mit schweren Schritten die Treppe hinauf stapfte, fand er Heinrich weinend auf dem Treppenabsatz sitzend, das Gesicht in den Händen vergraben. Der Junge schluchzte, doch kein Laut kam über seine bebenden Lippen. Erschrocken setzte sich der Vater neben den schmächtigen Sohn, legte den Arm um seine Schultern. Sie saßen in der Dunkelheit, schwiegen in ihrer Trauer und keiner vermochte den anderen zu trösten.

      „Stirbt Mutter?“, flüsterte Heinrich schließlich. Der Vater zuckte hilflos mit den Schultern.

      „Ich weiß es nicht“, krächzte er heiser. Heinrich ahnte, seine schlimmsten Befürchtungen würden wahr werden.

      „Warum?“ Auf diese Frage gab es keine Antwort.

      „Du musst jetzt sehr stark sein, Heinrich“, flüsterte der Vater unter Tränen. Heinrich barg den Kopf an der Brust des Vaters und beide hielten sich, weinend, eng umschlungen. Nach einer endlosen Zeit des Schweigens, des Weinens, nahm der Vater Heinrich sanft auf den Arm und trug ihn zurück in sein Bett.

      „Du musst schlafen“, meinte er. „Ich bleibe bei dir bist du eingeschlafen bist.“ Erst weit nach Mitternacht fielen Heinrich die Augen zu. Lautlos schlich der Vater aus dem Raum, schlurfte ins Wohnzimmer und goss sich einen Bourbon ein. Mit dem randvollen Glas in der Hand saß er im Lehnstuhl, starrte in die furchterregende Dunkelheit. In dieser Zeit fing der Vater an zu trinken.

      Mutter kam nicht mehr nach Hause. Das letzte Mal als Heinrich sie besuchen durfte, lag sie, bis auf die Knochen abgemagert, in den weißen Kissen. Ihr seltsam kahler Kopf glänzte in der Sonne, die Augen noch größer als sonst, schon ermattet, blickten liebevoll auf ihr Kind. Ihr Atem ging schwer, ihre Brust hob und senkte sich unter Anstrengungen. Der Arm, der kraftlos neben ihr auf dem Bett lag, übersät von blauen Flecken. Die Schläuche waren gezogen. Ab und zu nahm die Mutter etwas Sauerstoff aus einer Maske, die über die Nase gespannt war. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Stimme war zu schwach. Eine Schwester kam, nahm Heinrich an der Hand, führte ihn aus dem Zimmer und brachte ihn in die Wachstation, wo sie ihm einen Orangensaft anbot.

      „Lass deinen Vater ein wenig mit deiner Mutter alleine“, sagte sie begütigend. „Er kommt gleich.“

      „Ich will zu meiner Mutter“, weinte Heinrich leise.

      „Das geht nicht.“

      Sie lockte den Jungen mit einem Lutscher. Er bedankte sich artig, doch er rührte die Schleckerei nicht an. Hilflos vertiefte sich die Frau in ihren Krankenakten.

      Im Lauf der nächsten Woche kam eine dicke Mexikanerin ins Haus, Dolores. Sie hatte ein breites freundliches Gesicht und gute fleischige Hände. Sie kümmerte sich um die Küche und putzte das Haus. Sie passte auf Heinrich auf, wenn er nach der Schule mit dem Mountainbike nach Hause geradelt kam. Ab und zu drückte sie ihn an ihren gewaltigen Busen, seufzte und radebrechte in schlechtem Englisch:

      „Armes Jungchen, komm ich mach dir was Leckeres zu essen.“

      Jeden Abend nahm sie die Fähre zum Broadway Pier, stieg am America Plaza in die Straßenbahn und fuhr zurück nach Tijuana, wo ihre Familie wohnte. Ein oder zweimal schleifte sie Heinrich mit, doch der fühlte sich zwischen den vielen quirligen Kindern nicht wohl, kam sich wie ein Fremdkörper vor in der lauten und fröhlichen Familie. Dolores unternahm keinen weiteren Versuch, den Jungen aus seinem trostlosen Umfeld herauszureißen.

      Das Siechtum der Mutter zog sich hin. Der Vater war nicht mehr ansprechbar. Schweigend mit gesenktem Kopf ging er morgens zur Arbeit, schweigend kehrte er abends aus den Flugzeugwerken zurück, in denen er als Ingenieur an der Entwicklung neuer Düsenflugzeuge arbeitete. Stumm nahmen sie das Nachtmahl ein. Über die Mutter sprachen sie nie, zu sehr steckte die Angst in ihnen. Mit knappen stockenden Worten berichtete der Vater von seinen täglichen Besuchen im Krankenhaus.