Andreas Zenner

GMO


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Er hatte keine Ahnung, spürte nur dieses flaue Gefühl im Magen. Keine leichte Reise.

      Und dann der Halbbruder mit seiner proletenhaften Familie, ganz zu schweigen von der übergriffigen Stiefmutter. Er verabscheute sie aus tiefstem Herzen, er wusste nicht warum, denn sie hatte ihm nichts getan, zugleich aber übte sie eine dunkle Anziehung auf ihn aus. Wenn er einmal davon absah, dass sie die kümmerliche Erinnerung an die Mutter in seinem Herzen zu verdrängen suchte. In seiner Kindheit empfand Heinrich die Ablehnung seiner Stiefmutter wie eine immerzu schwärende Wunde. Er seufzte tief. Der Besuch musste sein. Es ging um seinen Vater und vielleicht müsste er nicht lange bleiben. Er könnte wichtige Arbeiten vorschieben und sich bald wieder aus dem Staub machen. Irgendwie feige, schoss es ihm durch den Kopf. Andererseits hatte er nie das Gefühl zur neuen Familie des Vaters zu gehören.

      „Soll ich im Internet nach Flügen suchen?“, bot sich Cielo fürsorglich an.

      „Danke, das mache ich schon.“

      Er erhob sich schwerfällig, streifte mit einem abwesenden Kuss das seidige Haar seiner Frau und schlurfte ins Arbeitszimmer. Es war nicht einfach, einen Flug nach Montgomery zu bekommen. Heinrich musste für die schnellste Verbindung in Dallas umsteigen und darauf kam es an. Von Montgomery, Alabama aus konnte er sich einen Mietwagen nehmen. Selma, sein Ziel, lag knapp 50 Meilen vom Flughafen entfernt.

      „Warum musstest du auch so weit weg ziehen“, fluchte er leise. Sein Vater lebte auf der Farm der Stiefmutter, dort residierten sie in einer alten Südstaatenvilla, umgeben von schattigen Parkanlagen und endlosen Baumwollfeldern. Das entsprach dem Geschmack des alten Herrn, der gerne die Dienstboten herumkommandierte. Heinrich selbst besuchte die Familie nur wenige Male und er betrachtete die Fotos abschätzig, die von Zeit zu Zeit mit der Post auf seinen Schreibtisch flatterten, seinen Vater mit der Stiefmutter und den Enkeln zeigten.

      „Ich habe einen Flug“, rief er Cielo zu, „spätestens um 15:00 Uhr muss ich einchecken.“

      „Ich helfe dir packen.“

      „Lass nur, das schaffe ich alleine.“ Seine Frau ließ sich nicht abhalten, ihm zur Hand zu gehen. Im Wohnzimmer löste Cielo das verblichene Hochzeitsfoto seiner Eltern aus dem Rahmen und steckte es in Heinrichs Jackett. Für gewöhnlich lehnte das Portrait auf dem Kaminsims versteckt zwischen anderen alten Erinnerungsfotos. Der Anlass schien ihr passend, ihm den vergilbten Abzug mitzugeben. Heinrich bemerkte es und runzelte die Stirn.

      „Wozu das Bild?“, fragte er argwöhnisch.

      „Vielleicht tröstet es dich. Wenn es zu schlimm wird, kannst du dich an die Zeiten erinnern, in denen deine Eltern glücklich miteinander waren. Dann wird es leichter.“ Heinrich schluckte, ihre liebevolle Geste rührte ihn. Er ließ sich nichts anmerken.

      „Ich fahre dich zum Flughafen. Mit dem kleinen Wagen geht es schneller und du brauchst keinen Parkplatz.“ Dankbar nickte er. Es tröstete ihn, den schweren Weg nicht alleine antreten zu müssen.

      „Ich friere die Garnelen ein, wir essen sie, wenn du wiederkommst.“

      Kurz nach Mittag fuhren sie zum Flughafen. Die Straßen am Sonntag wie ausgestorben, sie mussten nicht fürchten in einen der werktäglichen Staus zu geraten. Sie sprachen kaum, hingen ihren Gedanken nach. Viel zu früh rollten sie auf den Flughafenzubringer. Cielo suchte einen Kurzparkplatz, begleitete ihren Mann zum Check-in. Bis zum Abflug blieb ihnen eine gute Stunde.

      „Möchtest du etwas trinken?“, erkundigte er sich.

      „Ein Kaffee wäre nicht schlecht.“

      „Und für mich einen Cognac.“

      Sie setzten sich an die Bar, tranken Kaffee und Cognac. Leise Spannung hing in der Luft. Sie nahm seine Hand, sah ihn forschend an.

      „Hast du Angst?“

      „Einfach ist es nicht. Ich habe meinen Vater lange nicht mehr gesehen. Ob er sich sehr verändert hat?“

      „Es wird schon gehen“, munterte sie ihn auf. „Es ist ja nur für einen kurzen Besuch. In ein paar Tagen bist du wieder da.“

      Er spürte, seine Frau fehlte ihm schon jetzt. Zärtlichkeit wehte durch sein zerrissenes Herz.

      „Jetzt wollte ich doch, du könntest mitkommen“, seufzte er. Sie schüttelte den Kopf.

      „Das ist keine gute Idee, glaube ich. Sicher darf er sich nicht aufregen.“

      Natürlich hatte sie recht. Trotzdem wünschte er sich nichts sehnlicher als Vaters Segen für sich und seine Frau. Er fühlte sich sehr alleine. Merkwürdig, dachte er und er kam sich wie der kleine Junge vor, der schuldbewusst vor dem Vater stand, weil er etwas ausgefressen hatte. Vielleicht ist es immer so, wenn man den Eltern gegenübertreten muss, schoss es ihm durch den Kopf. Ob das jemals aufhörte? Sein Flug wurde aufgerufen. Er umarmte Cielo einen langen, langen Augenblick, drückte sie fest an sich, als wäre es ein Abschied für immer. Sie zu küssen scheute er sich vor den vielen Menschen.

      „Es ist nur für kurze Zeit“, flüsterte sie und knabberte zärtlich an seinem Ohrläppchen. Er nickte, mit dem Verstand hatte er das begriffen, doch sein Herz dachte anders. Sie machte sich los, gab ihm einen kleinen Schubs.

      „Nun geh schon, sonst fliegt die Maschine ohne dich ab.“

      Da ging er, drehte sich nur einmal kurz um und winkte ihr zu. Wenig später saß er im Flugzeug. Er hörte das Aufheulen der Düsen, spürte wie die Maschine abhob, ihn in die Polster presste und wenige Augenblicke später im blassblauen Himmel verschwand. Auf dem Flug quälten Heinrich trübe Erinnerungen.

      Das gleichmäßige Dröhnen der Turbinen schläferte ihn ein. Ein Buch mitzunehmen hatte er in der Eile vergessen und die Wochenendzeitung kannte er schon. Da piekste ihn, als sein Kopf auf die Brust sank, ein spitzes Papierstück unangenehm. Halb verärgert zog er das Foto seiner Eltern, Sara und Klaus aus der Brusttasche. In der Hektik des Aufbruchs war ihm entfallen, dass Cielo ihm das Bild zugesteckt hatte. Vorsichtig glättete er die gestauchte Ecke mit dem Nagel des Zeigefingers. Sein Blick blieb am Gesicht der Mutter hängen. Wie glücklich sah sie aus, in ihrem weißen Hochzeitskleid, ein kleines Kränzchen aus weißen Margeriten durchflochten von filigranem Schleierkraut im dunklen Haar. In der Hand hielt sie einen Strauß aus rosa Zwergrosen und weißen Lilien. Er glaubte das kleine Bäuchlein der Mutter zu erahnen. Wie ihm der Vater später erzählte, war die Mutter im dritten Monat schwanger, als die beiden endlich heirateten. Sie wirkte glücklich, strahlte von innen heraus. Sein Vater machte einen ernsten, verschlossenen Eindruck, in seinem altmodisch geschnittenen schwarzen Zweireiher. Vielleicht glaubte er sich zu jung für die Ehe, fühlte sich aber genötigt zu heiraten, jetzt da seine Geliebte ein Kind von ihm erwartete. Heinrich konnte nur erahnen, wie seinem Vater zumute war, die Eltern hatten nie darüber gesprochen. Das Baby, ein Mädchen, war kurz nach der Trauung abgegangen. Der Verlust traf die Mutter schwer und von diesem Zeitpunkt an verstärkten sich die Kummerfalten um ihren Mund. So jedenfalls hatte es der Vater berichtet. Sie lachte nur noch selten, nicht einmal die Geburt Heinrichs, zwei Jahre später, vermochte sie aus ihrer Depression zu reißen. Jahre später erzählte ihm der Vater, seine Mutter wäre jüdischer Abstammung. Saras Großeltern und ihr Vater wurden im Dritten Reich im KZ Birkenau ermordet. Die Großmutter, damals mit Sara schwanger, war nur durch einen fast unglaublichen, glücklichen Umstand dem Tod in den Gaskammern entronnen. Wie, darüber schwieg sie bis zu ihrem Tode beharrlich. Nach dem Krieg folgte sie einem GI nach Amerika, hoffte so dem Tag und Nacht allgegenwärtigen Grauen zu entkommen. Das schreckliche Schicksal der Großmutter warf schon früh einen Schatten auf das Leben der Mutter, der sie nie mehr ganz los lassen sollte. Sein Vater hatte ihm andeutungsweise einmal davon erzählt, als er wieder, wie oft, zu viel getrunken hatte. Das musste um die Zeit seines sechzehnten Geburtstags gewesen sein. Bis heute verstand er nicht, warum sein Vater aus dieser tragischen Geschichte ein Geheimnis machte. Heinrich spürte damals nur, es wäre besser nicht in den Vater zu dringen. Etwas lastete offenbar wie ein Stein auf seiner Seele. Was das war hatte Heinrich auch später nie erfahren und er hütete sich, das Thema erneut anzusprechen. Nach dem Tod der Mutter scheuten sich die zwei erst recht das Geheimnis zu berühren, sie fürchteten beide den mühsam verborgenen Schmerz