Annah Fehlauer

Worte wie wir


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an.

      „Ja, viel besser. Vorhin habe ich mich gefühlt wie eine dicke schwarze Gewitterwolke, aus der es gleich blitzt und donnert und hagelt.“

      „Oh, das hört sich ja wirklich ganz schön düster an. Da bin ich sehr froh zu hören, dass du dich jetzt nicht mehr so gewitterwolkig fühlst.“

      „Nee, gar nicht mehr gewitterhaft. Jetzt fühle ich mich eher so wie eine kleine weiße Wolke, so eine Schäfchenwolke, die ganz friedlich am Himmel entlangwandert und sich sonnt.“ Und tat­säch­lich erhellte sich bei diesen Worten ihr kleines, zartes Gesicht, und die großen Augen, deren Farbe je nach Licht und Stim­mung zwischen grau und blau changierten, hellten sich sicht­bar auf und blitzten Catharina strahlend blau an.

      „Na, das freut mich, dann haben wir deine schlechte Laune also vertrieben wie einen großen brummigen Bären.“ Catharina sah Marie fragend an, während sie ihre leere Teetasse hochhob.

      „Nachschub gefällig?“

      Marie nickte, schüttelte jedoch unmittelbar danach den Kopf.

      „Nachschub ja. Aber das mit dem Bär stimmt nicht.“

      „Nicht? Oh. Dann haben wir deine schlechte Laune doch noch nicht vertrieben?“

      „Doch, schon. Aber die war nicht wie ein brummiger Bär. Ich mag Bären. Meine schlechte Laune war wie ein Stinktier. Ein großes fieses Stinktier, das sich unter dem Haus versteckt.“

      Catharina musste lachen bei diesem herrlichen Vergleich, doch Marie blieb ernst.

      „Nee, das ist aber überhaupt nicht zum Lachen. Papa hat mir davon erzählt. Er war mal in Amerika, und da gab es ganz viele von diesen Stinktieren. Die Familie, bei der er gewohnt hat, musste beinahe aus ihrem Haus ausziehen, weil sich das Stinktier so gut darunter versteckt hat, dass sie es kaum wieder raus­bekommen haben, und es hat alles, wirklich alles, komplett voll­gestunken!“

      „Da können wir ja wirklich von Glück sagen, dass wir diese Stinktier-Laune gerade nochmal so vertrieben haben, bevor sie auch hier alles vollgestunken hat.“

      Catharina stand von der Küchenbank auf, um Marie noch etwas Tee nachzuschenken. Bevor sie sich wieder setzen konnte, stand auch Marie auf und lehnte sich leicht an sie. Catharina legte ihrer kleinen Freundin zart den Arm um die schmalen Schultern und beugte sich zu ihr runter, da Marie ihr bedeutete, dass sie ihr etwas ins Ohr flüstern wollte.

      „Danke“, hörte sie ein leises Flüstern. „Danke, dass du das fiese Stinktier verjagt hast“.

      Catharina flüsterte zurück: „Jederzeit wieder! Du hast ja auch prima mitgemacht bei der Jagd, da war es eigentlich ganz leicht. Das Stinktier hat quasi von allein die Flucht ergriffen.“

      Und damit richtete sie sich wieder auf, erwiderte den leichten Druck, mit dem Marie sich an sie schmiegte, und beide sahen aus dem Küchenfenster in den Herbsthimmel, über den kleine Wolken zogen, harmlose kleine Schäfchenwolken, die sich in den schwächer werdenden Sonnenstrahlen wärmten.

      ...8...

      Seit ihrem Gespräch über schlechte Laune, die wie ein Stinktier die Atmosphäre verpestet, waren einige Wochen ver­gangen. Der Früh­herbst war in den Spätherbst über­gegangen, und die Tage wur­den allmählich wieder kürzer. Hin und wieder hatte Catharina sich bei ihrer kleinen Freundin er­kun­digt, was das Stinktier mache, aber Marie hatte jedes Mal un­beküm­mert mit den Schultern gezuckt und nur knapp ge­antwortet: „Is’ nich da.“

      Tatsächlich kam es Catharina so vor, als seien die Anfälle schlech­ter Laune, die Marie hin und wieder heimsuchten, in dieser Zeit ausgeblieben. Und dennoch hatte sie das Gefühl, Marie brüte über irgendetwas. Sie schien zwar nicht schlecht gelaunt, aber sehr nachdenklich, wenn nicht sogar etwas schwer­mütig zu sein.

      Die Gelegenheit, sie darauf anzusprechen, kam eines Nachmittags im späten Oktober. Die beiden ungleichen Freun­din­nen saßen in der Küche. Neben Marie auf der Küchenbank lag die Wochen­zeitung, die Catharina bislang nur überflogen hatte. Sie be­merkte, dass Marie, die eigentlich dabei war, ein Bild zu malen, ihren Blick immer wieder zum Titelblatt der Zei­tung wandern ließ. „Die Achse des Bösen“ lautete der für diese Zeitung außer­gewöhn­lich reißerische Titel, was Catha­rina überhaupt nicht gefiel.

      Die Welt hatte sich ein Stück weit verändert seit dem un­geheuer­lichen Anschlag im September. Noch immer be­richte­ten die Medien tagtäglich über die Opfer von 9/11, spe­ku­lierten über Hin­ter­gründe, veröffentlichten Porträts über ver­unglückte Feuer­wehr­männer und Interviews mit Hinter­bliebenen.

      Die Wunden waren unverheilt.

      Wie alle anderen, war Catharina fassungslos angesichts dieser mensch­lichen Katastrophe. Mit Marie hatte sie darüber noch nicht ge­sprochen, wie ihr erst jetzt bewusst wurde. Dabei war sie sicher, dass Marie sehr wohl von den Geschehnissen mit­bekommen hatte.

      „Marie, geht es dir gut?“

      „Hmm.“ Marie hielt den Blick gesenkt.

      „Nicht so richtig, oder?“

      „Hmm.“ Marie hob ansatzweise die Schultern und ließ sie wieder fallen.

      „Möchtest du mir erzählen, was dich bedrückt?“

      Als Marie nun aufsah, bemerkte Catharina, dass ihre Augen glänzten, als bildeten sich darin gerade Tränen.

      „Ich bin so traurig, wenn ich daran denke.“

      „Woran denn, meine Süße, wenn du woran denkst?“

      „An die ganzen toten Menschen und die kaputten Häuser und die Familien, in denen jetzt jemand fehlt.“

      „Du meinst die Opfer des Anschlags in New York, richtig?“ Catha­rina sah, wie eine einzelne Träne ganz langsam Maries Wange entlang rollte, und sie setzte sich neben sie, um sie behut­sam in den Arm zu nehmen. Marie nickte stumm und schmiegte sich enger an Catharina.

      „Ich bin auch ganz tief traurig, wenn ich daran denke.“

      Catharina schluckte. Wie immer, wenn sie an die Anschläge dachte, zog sich ihr Inneres zusammen, und es bildete sich ein dicker Kloß in ihrem Hals. Wie können Menschen Menschen so etwas nur antun? Das war es, was ihr vor allem zu schaffen machte. Wenn Menschen gehen mussten, weil sie alt oder krank waren, gehörte das zum Kreislauf des Lebens. Aber sie war schon immer zutiefst betroffen gewesen, wenn sie von Mord oder Krieg gehört oder gelesen hatte. War der Mensch dem Menschen wirk­lich ein Wolf? Wenn ja, warum? Warum gelang es der Mensch­heit nicht, endlich in Frieden mit­einander zu leben?

      „Mit Mama kann ich darüber nicht sprechen. Sie sagt, sie hält das nicht aus, es macht sie krank. Und ich will nicht, dass Mama krank wird!“ Marie fing nun richtig an zu weinen. Ihre zarten Schultern bebten unter den Schluchzern, die sich Bahn brachen.

       Catharina konnte sich gut vorstellen, wie groß Maries Sorge war, ihre Mama könnte krank werden. Das Mädchen hatte im Rahmen der Trennung ihrer Eltern schon früh Verlust­erfahrungen gemacht. Ihren Vater sah sie zwar noch recht häufig, musste ihn aber oft mit ihren Halbgeschwistern teilen, was ihr offen­sichtlich schwerfiel. Und ihre Mutter war vor einigen Jahren ernst­haft krank gewesen und hatte sich einer schwierigen Ope­ra­tion unterziehen müssen. Das hatte Katja Brandner ihr ziem­lich am Anfang ihrer Bekanntschaft erzählt, als sie noch nicht sicher war, ob Marie sich alleine wohl bei Catharina fühlen würde. Marie hatte damals zwei Wochen bei ihrer Oma verbracht, die in­zwischen allerdings auch verstorben war. Da war es nur natürlich, dass sie sich um das Wohlergehen ihrer Mama sorgte.

      Eine Welle des Mitgefühls überkam Catharina. Wenn es sie als Erwachsene schon so ungeheuer mitnahm, diese Nachrichten zu sehen, wie mochte es sich dann für ein neunjähriges Kind an­fühlen? Sie erinnerte sich noch dunkel daran, wie damals, in den 1970ern und 80ern, die RAF versuchte, Angst und Schrecken zu verbreiten, doch damals war sie bereits erwachsen gewesen und hatte diese Dinge ganz anders