Annah Fehlauer

Worte wie wir


Скачать книгу

Sie sah Marie liebevoll an. „Und das fänd ich fürchterlich traurig, weil ich unsere Gespräche doch so gerne mag.“

      Bei diesen Worten fingen Maries Augen wieder an zu leuchten.

      Doch dann schien ihr schon wieder ein Gedanke zu kommen, der sie beunruhigte.

      „Aber das heißt ja, dass du an den Tagen, an denen ich hier bin, gar kein Geld verdienst. Brauchst du das denn nicht zum Leben?“

      Marie wusste genau, wie hart ihre Mutter arbeiten musste, um genügend Geld für ihrer beider Lebensunterhalt zu verdienen. Manchmal half Katja Brandner sogar am Samstag noch im Fein­kost­laden aus und nahm Marie dann dorthin mit.

      Catharina sprach nicht besonders gern über Geld. Dass sie ver­hältnismäßig reich war, wusste außer Martin kaum jemand. Das lag weniger daran, dass sie es aktiv verheimlichte, sondern viel­mehr daran, dass sie eher bescheiden lebte. Sie fuhr ein inzwischen wirklich in die Tage gekommenes Auto, gab nicht über­mäßig viel Geld für teure Kleidung aus, und machte auch keine Luxusreisen.

      Ihr großer persönlicher Luxus bestand tatsächlich darin, ihre Arbeit inzwischen nach ihren Bedürfnissen ausrichten zu können, statt umgekehrt. Ihr war vollkommen bewusst, wie privilegiert sie dadurch war. Anstatt dies jedoch an die große Glocke zu hängen und damit vielleicht noch zu prahlen, genoss sie diese Freiheit still für sich und empfand täglich tiefe Dankbarkeit dafür.

      Sie hatte bereits angefangen, Nachhilfe zu geben, als sie noch im staatlichen Schuldienst gearbeitet hatte und hatte dabei bald festgestellt, dass es ihr größere Freude bereitete, mit einzelnen Kindern zu arbeiten, als mit großen Gruppen, weil ihr dies erlaubte, viel intensiver auf die individuellen Bedürfnisse ihres jeweiligen Gegenübers einzugehen. Nachdem ihr Vater ver­storben war, war es ihr auch finanziell möglich gewesen, den Schul­dienst zu quittieren. Dann hatte sie angefangen, neben der privaten Nachhilfe, an ein oder zwei Vormittagen in einer Klinik­schule zu unterrichten. Aus Formgründen war es nicht möglich, dies ehren­amtlich zu tun, weshalb sie kurzerhand ihren Lohn direkt wieder als Spende an die Klinikschule überwies.

      Ihre dritte Arbeit aus Leidenschaft bestand darin, ein bis zweimal im Monat in einer Schule, in einem Kindergarten oder Altersheim, Geschichten zu erzählen. Sie war besonders auf alte griechische und römische Mythen spezialisiert, aber auch Märchen gehörten zu ihrem Repertoire und die ein oder andere moderne Erzählung. Und jedes Mal, wenn sie vor einer Zu­hö­rerschaft ihre Geschichte erzählt hatte, war sie aufs Neue über­wältigt von der Faszination, mit der man ihr zuhörte. Es stimmte ganz und gar nicht. Mündliches Erzählen war nicht überholt. Das Ver­langen danach, das Verlangen der Zuhörer war so groß wie eh und je – nur gab es traurigerweise inzwischen kaum noch Erzäh­lerin­nen und Erzähler. Und jedes Mal dankte sie ihrem Schicksal dafür, dass es sie in die Lage versetzte, diese Rolle einzunehmen, die ihr mindestens ebenso große Freude bereitete wie ihren Zuhörern.

      Die Idee dazu hatte sie schon gehabt, als sie noch als Lehrerin gearbeitet hatte, denn bereits damals hatte sie gemerkt, dass ihre Klassen, wann immer sie anfing, eine Geschichte zu erzählen, voll­kommen gebannt und selig zuhörten – was im sonstigen Unter­richts­geschehen Selten­heitswert hatte. Doch damals hatte ihr schlicht die Zeit und Kraft gefehlt, dies noch nebenher zu be­treiben. Das war erst nach dem Austritt aus dem Schuldienst mög­lich geworden. Manchmal musste man eben etwas Altes beenden, damit etwas Neues entstehen konnte.

      Bereits ihre Großeltern väterlicherseits waren recht betucht gewesen. Catharinas Vater war es im Laufe seines Lebens ge­lungen, das solide Familienerbe in ein nicht un­bedeutendes Ver­mögen umzuwandeln. Die Familienvilla in Heidel­berg hatte er als einziger Sohn geerbt, und bald nach seinem Wechsel nach Berlin als renommierter Herzspezialist und Chefarzt einer berühmten Privatklinik hatte er eine zweite Villa am Wannsee erworben.

      Catharina war als einzige Tochter Prof. Dr. Franz-Ferdinand Düsterwegs und seiner Gattin Viktoria Catharina übrig geblieben. Ihr älterer Bruder, in alter Tradition Ferdinand nach seinem Vater benannt, hatte sich sehr früh das Leben genommen, ein Verlust, über den Catharina nie hinweg­gekom­men war.

      Ferdinand hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Doch Catha­rina war sich sicher, dass sie das Motiv für seinen Freitod kannte. Ihr Bruder hatte sich dem Vater, beiden Eltern gegenüber, nie zur Wehr gesetzt. Er hatte die Schule mit Bestnoten absolviert, um dann ohne Diskussion dem Wunsch seines Vaters nachzukommen, Medizin zu studieren.

      Doch Ferdinand konnte kein Blut sehen, und körperliche Nähe zu anderen Menschen hatte ihm schon als Kind Unbehagen ver­ursacht. Der einzige Mensch, dessen Berührungen er ertrug, war seine jüngere Schwester. Er war ein begnadeter Vio­linist und hätte seine Leidenschaft sicherlich zum Beruf machen können, doch hatte er nie gewagt, dies auch nur in Erwägung zu ziehen.

      Das Medizinstudium kostete Ferdinand große Mühe und tag­täg­lich Überwindung, und doch gelang es ihm, mit Hilfe seines über­mensch­lichen Ehrgeizes, sich durchzubeißen und auch das Stu­dium als Bester seines Jahrgangs abzuschließen.

      Der Preis dafür war jedoch beträchtlich. Catharina war über­zeugt, ihr Bruder hatte schon Mitte Zwanzig ein ernst­zunehmendes Alkoholproblem gehabt.

      Doch sie kam nicht an ihn heran. Wann immer sie versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen, über sein Studienziel oder sein Verhältnis zu Alkohol, war er ausgewichen. „Ich habe alles im Griff, Schwesterherz, kein Grund, dich zu sorgen.“

      Doch gesorgt hatte Catharina sich, mit jedem Jahr, das verging, mehr. Denn von Jahr zu Jahr wurde er hagerer und hagerer, bis er mit Anfang Dreißig nur noch ein Schatten seiner selbst war. Er hielt noch so lange durch, bis er die Facharztprüfung ablegen konnte, in Kardiologie selbstredend.

      Dass sein Sohn in seine Fußstapfen treten würde, war für Prof. Dr. Düsterweg eine derartige Selbstverständlichkeit wie für andere Menschen die Tatsache, dass die Erde sich um die Sonne dreht.

      Catharinas Eltern, die sich zeit ihres Lebens nicht einen Fehler eingestanden hatten, blieben dabei: Ihr Sohn Ferdinand war tragisch verunglückt. Catharinas Bruder wusste genau, welch düsteres Licht es auf die Familie und damit auch auf den Ruf seines Vaters werfen würde, wenn sein Name in Verbindung mit Frei­tod gebracht würde. Noch im Abschied­nehmen verhielt er sich seinen Eltern gegenüber respektvoll und, so schien es Catha­rina, gehorchte dem stummen ehernen Familiengesetz.

      „Aufstrebender Herzspezialist stirbt bei tragischem Auto­unfall“, war damals in der Zeitung zu lesen gewesen. Dass der Wagen auf gerader Strecke bei besten Wetterbedingungen frontal und ohne Abbremsen gegen einen Baum geprallt war, blieb unerwähnt, sehr zur Erleichterung von Catharinas Eltern, die beste Beziehungen zum federführenden Reporter pflegten.

      Catharina hatte ihren älteren Bruder geliebt und darunter gelitten, ihn so unglücklich zu sehen. Wirklich verstanden hatte sie ihn allerdings nie.

      Waren sie und ihre Eltern einander schon vor Ferdinands Tod seltsam fremd gewesen, wuchs die Kluft zwischen ihnen danach ins Unermessliche.

      Catharina konnte nur mutmaßen es gewesen wäre, in einem Eltern­haus aufzuwachsen, in dem Eltern und Kinder einander liebe­voll verbunden waren. Ihren Bruder vermisste sie zutiefst. Nur ganz allmählich war der Schmerz mit den Jahren etwas ab­geebbt. Ganz verschwunden war er nie.

      Sie hatte es Ferdinand nicht nachgetragen, dass er freiwillig gegangen war. Was sie ihm lange nachgetragen hatte, war die Tat­sache, dass er sich nie gegen den stummen Druck des Eltern­hauses, die unausgesprochenen Zwänge, zur Wehr gesetzt hatte. Er hatte das Gesetz des Vaters ohne Kampf, ohne Protest, ja selbst ohne eine bloße einmalige Infragestellung eingehalten, nur um dann, Jahre später, unglücklich und alkoholabhängig zu ka­pi­tu­lieren.

      Als Catharinas Vater starb, waren ihre Mutter und sie die einzigen Erben. Die zahlreichen Geliebten ihres Vaters gingen leer aus. Seiner Meinung nach hatten sie zu seinen Lebzeiten genug von ihm bekommen, ihn „ausgenommen wie eine Weihnachts­gans“ er selbst es abschätzig ausdrückte.

      Seltsamerweise hatte Franz-Ferdinand aus seiner notorischen Untreue nie einen Hehl gemacht. Während der Freitod des eigenen Sohnes vertuscht wurde, wurden die