Annah Fehlauer

Worte wie wir


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das, es gibt da die gleichen Fächer wie an meiner Schule auch, und ich kann nur die Reihenfolge der Fächer wählen?“

      „So ungefähr. Und man kann mehr auswählen, wie viel Zeit man für eine Aufgabe braucht, und es gibt auch noch ein paar weitere Dinge, die anders sind, als an deiner Schule.“

      „Und warum arbeitest du nicht an so einer Schule? Könntest du da den Kindern nicht all das beibringen, was du wichtig findest, und die Hausaufgaben weglassen?“

      „Tja, weißt du, meine Süße, ganz so leicht ist es eben doch nicht. Wie gesagt, man hat dort etwas andere Bedingungen. Aber das, was die Kinder dort lernen sollen, ist insgesamt doch recht ähnlich wie das, was die Kinder an deiner Schule lernen. Oft kann man dort ein bisschen kreativer sein, mehr spielen, mehr malen, mehr basteln und tüfteln und so weiter, aber letztlich muss man auch dort Vokabeln pauken oder Rechtschreibung. Und auch an einer solchen Schule wäre es nicht gerne gesehen, wenn ich über Dinge wie Licht und Liebe und belastende Energien mit den Kindern sprechen würde, so wie ich es mit dir tue.“

      „Und warum nicht?“

      „Weil eine ganze Menge Menschen der Meinung sind, das alles ist Blödsinn.“

      „Aber das ist es doch nicht, oder?“

      „Nein, das ist es nicht. Ich finde es sogar sehr wichtig. So wichtig eben, dass ich finde, eigentlich sollten alle Menschen etwas darüber wissen. Aber die Leute, die bestimmen, was in der Schule gelernt werden soll, sind da anderer Ansicht, die allermeisten jedenfalls.“

      „Und könnte ich nicht einfach hierher zu dir kommen, so wie ich es sowieso schon manchmal mache, nur eben öfter, und dann würdest du mir solche Sachen erzählen und ich könnte aussuchen, ob ich davon was lernen oder lieber Apfelkuchen backen oder malen möchte?“

      „Das geht leider nicht, Marie. Denn bei uns hier in Deutschland gibt es etwas, was sich Schul­pflicht nennt. Und das bedeutet, dass jedes Kind bis zu einem bestimmten Alter in die Schule gehen muss.“

      „Das finde ich total doof, ich will lieber zu dir kommen als in die Schule zu gehen.“

      „Das ehrt mich sehr, und ich finde es auch wunderbar, wenn du mich besuchen kommst. Trotzdem hat die Schulpflicht eigentlich auch etwas Gutes. Erstens bedeutet diese Pflicht ja umgekehrt auch, dass man überhaupt in die Schule gehen darf, ist also auch ein Recht, ein ganz wichtiges Recht sogar. Du weißt sicher, dass es ziemlich viele Länder auf der Erde gibt, in denen die meisten Kinder eben nicht in die Schule gehen können, entweder weil es nicht genügend Schulen gibt oder manchmal auch, weil die Eltern es ihnen verbieten. Das ist zum Beispiel in einigen Ländern vor allem bei Mädchen manchmal der Fall.

      Und zweitens würde es ansonsten wahrscheinlich auch vor­kom­men, dass Eltern ihren Kindern Dinge beibringen, die wir ganz schlimm finden. Dass es zum Beispiel in Ordnung ist, anderen mit Gewalt zu begegnen, zu lügen, zu schlagen, zu stehlen und so weiter.“

      „Gibt es diese Schulrechtspflicht also nicht in allen Ländern?“

      „Nein, in erstaunlich vielen gibt es das nicht.“

      „Und wo lernen die Kinder dort dann all die Dinge, die wir in der Schule lernen müssen?“

      „Nicht alle Kinder lernen diese Dinge überhaupt. Wie gesagt, ich habe durchaus auch so meine Bedenken, ob das, was wir unseren Kindern als wichtig beibringen, wirklich so wichtig ist. Aber soweit ich weiß, wird das, was ich für wichtig halten würde, über­haupt nur von recht wenigen Menschen für wichtig angesehen.

      Ich könnte mir vorstellen, dass es zum Beispiel in Indien ein paar Kinder gibt, denen so etwas beigebracht wird.“

      „Wieso ausgerechnet in Indien?“

      „Weil viele Menschen in Indien nicht so sehr an Dinge wie Geld und schnelle Autos und so weiter denken wie bei uns, sondern sich eher damit beschäftigen, was sonst noch ein gutes Leben aus­macht. Andererseits gibt es auch in Indien vieles, womit ich gar nicht einverstanden bin.“

      „Zum Beispiel?“ Marie pulte mit dem Zeigefinger gedanken­verloren in der Tischplatte herum.

      „Zum Beispiel, dass Mädchen dort viel weniger wert sind als Jungs. Das meinen dort jedenfalls viele Menschen.“

      Marie sah sie ungläubig an. „Wieso denn das? Das ist ja bescheuert.“

      „Ja, ich finde es auch ganz schön bescheuert. Eine andere Sache, mit der ich gar nicht einverstanden bin, ist, dass in Indien viele Menschen überhaupt der Ansicht sind, dass Menschen unter­schied­lich viel wert sind und sie in ver­schie­dene Schubladen, so genannte Kasten, einsortieren.“

      „Und dann müssen die Leute in dem einen Kasten drin bleiben, in den man sie gesteckt hat? In so einem Kasten kann man doch gar nicht richtig leben!“

      Catharina lachte auf. „Das ist nicht ganz so ein Kasten, wie du ihn dir vorstellst, meine Süße. Es heißt übrigens in diesem Fall auch „die Kaste“, nicht „der Kasten“, und damit ist gemeint, dass der Mensch zu einer bestimmten Sorte gezählt wird. Und eine dieser Sorten oder „Kasten“ nennt sich die Kaste der „Un­berühr­baren“. Das finde ich das schlimmste daran, denn die anderen Menschen sind tatsächlich der Meinung, dass sie mit diesen Menschen keinen Kontakt haben, ja sie nicht einmal berühren, sollten.“

      „Na, dann bin ich aber beruhigt.“

      Dieses Mal war es an Catharina, ihr Gegenüber fragend und ungläubig anzusehen.

      „Weil du dann bestimmt nicht nach Indien gehst, weil du nicht ein­verstanden mit den unberührbaren Kastenmenschen bist.

      Und das ist gut, weil du dann vielleicht hier bleibst.“

      Sie betrachtete betont konzentriert das kleine Loch in der Tisch­platte, in dem sie seit geraumer Zeit herumpulte.

      „Und ich dann weiterhin hier bei dir sein kann“, hörte Catharina sie sehr viel leiser als zuvor murmeln.

      „Ja, das ist natürlich wahr, meine Süße“, beruhigte sie ihre kleine Freundin und fuhr ihr liebevoll über den Kopf.

      „Aber sag mal, arbeitest du denn gar nichts mehr?“

      „Doch Marie, ich arbeite schon noch. Nicht so viel wie die meisten anderen Menschen, und zu etwas unregelmäßigeren Zeiten, aber doch, ja, ich arbeite.“

      „Was denn?“

      „Zum einen gebe ich hier zuhause privat Nachhilfe.“

      „Oh.“

      Marie sah seltsam befremdet aus.

      „Was ist los, meine Süße? Weißt du, was mit Nachhilfe gemeint ist?“

      „Ja.“ Das Mädchen malte mit dem Zeigefinger ein unsicht­bares Bild auf den Küchentisch.

      „Das ist Schule für Doofe. Das sagt Lou immer.“

      „Da hat Lou ausnahmsweise mal unrecht. Das kannst du ihr gerne ausrichten. Das hat überhaupt nichts mit Doofsein oder Dumm­heit zu tun, sondern es gibt einfach Kinder, denen das Lernen in der Schule nicht ganz so leicht fällt wie anderen, und die ein biss­chen zusätzliche Unterstützung brauchen. Manchmal ist es auch so, dass für diese Kinder einfach zu viele Kinder in einem Klassen­zimmer sitzen, dass es ihnen zu laut ist, um sich richtig kon­zentrieren zu können, oder dass sie die Lehrerin oder den Lehrer viel öfter etwas fragen können müssten, als sie das in ihrem normalen Unterricht können.“

      Marie zog die Nase kraus. Sie sah nicht völlig überzeugt aus, doch Catharina beließ es dabei. Marie fuhr fort, ihr unsichtbares Bild zu malen.

      „Und wann kommen die Nachhilfeleute?“

      „Das ist ganz unterschiedlich. Die meisten können natürlich am besten nachmittags oder am frühen Abend, weil sie vormittags ja in der Schule sind. Ich habe aber auch einen Schüler, dem ich meist am Samstag oder Sonntag helfe.“

      „Aber wenn ich bei dir bin, ist nie einer von denen hier.“