Annah Fehlauer

Worte wie wir


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ich kenne so etwas gut. Früher ging es mir sehr viel häufiger so. Als ich Kind war, war es noch sehr oft, später hat es deutlich nachgelassen. Aber doch, ja, hin und wieder geht es mir auch noch so.“

      „Wütend oder traurig?“

      „Ich kenne beides. Zum Glück hat die Wut wirklich ziemlich stark nachgelassen. Aber ich verstehe dieses Gefühl, dass du dich dann selbst nicht ausstehen kannst.“

      „Und was machst du dann also?“

      „Also früher habe ich es so ähnlich gemacht wie du. Da hatte ich, wenn ich wütend war, richtige Tobsuchtsanfälle. Damals war ich allerdings noch ziemlich klein.“

      Marie sah Catharina erstaunt und auch ein bisschen ungläubig an.

      „Später, als ich schon erwachsen war, bin ich dann eine Zeit lang, wenn ich merkte, dass ich wütend werde, entweder an die frische Luft gegangen oder, noch besser, habe Sport gemacht. Das hat meistens geholfen. Gegen die Wut jeden­falls. Bei Traurigkeit habe ich versucht, an etwas Schönes zu denken. Aber das ist natürlich gar nicht so einfach, je nach­dem doll man traurig ist.“

      „Und wie machst du es jetzt?“

      „Wie gesagt, heutzutage passiert mir das zum Glück nur noch selten. Aber wenn, dann bitte ich die Lieben da oben, mich wieder zur Ruhe kommen zu lassen.“

      „Gott?“

      „Ja, den lieben großen Schöpfergott und all die Helfer, die er hat.“

      Marie schwieg eine Weile, während sie mit ihrem Zeigefinger die Musterung des Küchentischs nachfuhr. Als Catharina ge­rade dachte, für Marie sei die Unterhaltung an dieser Stelle be­endet, hörte sie wieder die ihr so vertraute kleine Stimme.

      „Glaubst du wirklich, dass es Gott gibt?“

      „Ja, meine Süße, ich bin überzeugt davon, dass es den lieben großen Schöpfergott gibt.“

      „Meine Mama glaubt nicht an Gott. Sie sagt, das ist alles Blödsinn und nur was für Dummköpfe. Und Papa glaubt auch nicht an Gott.“ Marie klang nun beinahe ein wenig abweisend.

      „Viele Menschen glauben nicht an Gott. Nun, ich schon. Ich denke allerdings, dass er ganz anders ist, als die Kirchen, Pfarrer und Priester uns erzählen.“

      „Wie denn?“

      „Viel gütiger und barmherziger. Voller Licht und Liebe. Ich bin mir sicher, es ist auch ganz egal, ob wir ihn Gott nennen oder ein­fach Liebe. Über die Liebe haben wir ja schon gesprochen, meine Süße. Liebe ist einfacher zu begreifen, meine ich.“

      „Und hilft dir das dann, wenn du betest?

      „Meistens schon. Ich versuche dann, das Negative, das, was mich belastet, abzugeben nach oben und bitte darum, dass es ver­wan­delt wird in etwas Positives.“

      „Meinst du, ich kann das auch machen, auch wenn ich nicht an Gott glaube?“ Marie strich Jule, die sich in der Zwischenzeit zu ihnen in die Küche gesellt hatte, gedankenverloren über den Kopf.

      „Jeder kann das tun. Aber es gibt auch noch andere hilfreiche Möglichkeiten, mit Wut und Traurigkeit umzugehen.“

      „Welche denn? Kannst du mir noch mehr sagen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich mit Gott reden will, wenn es den doch vielleicht gar nicht gibt. Und Mama fände das sicher auch doof.“

      „Oft hilft es mir auch, wenn ich mich selbst von der Wut oder der Traurigkeit dadurch ablenke, dass ich etwas tue, von dem ich weiß, dass es eine beruhigende Wirkung auf mich hat. Zum Beispiel versuche ich dann manchmal, Klavier oder Cello zu spielen oder etwas zu malen. Manchmal hilft es mir auch, hinaus in die Natur zu gehen, in den Himmel zu sehen oder mir die Bäume im Park einmal ganz genau anzuschauen.

      Catharina spürte, wie das Sprechen über Wut und Trau­rig­keit Erinnerungen in ihr aufsteigen ließ, die sie lange Zeit ver­drängt hatte. Es war nicht ganz so, wie sie es Marie erzählt hatte. Es hatte durchaus eine Zeit gegeben, als sie schon längst er­wachsen war, als sie noch einmal Phasen hatte, die stark geprägt waren von diesen Gefühlen und Gefühls­aus­brüchen. Allzu lange war diese Zeit gar nicht her. Doch Catharina schien es, als gehörte diese Zeit zu einem anderen als zu dem Leben, das sie jetzt führte.

      Es war in der Zeit nach der Trennung gewesen, dass Catharina immer wieder überwältigt wurde von Wut und Trauer. Trauer, weil sie Mariella verloren hatte. Wut auf sich selbst, weil sie es war, die dies zu verantworten hatte.

      Elf Jahre.

      Elf Jahre, zwei Monate und fünf Tage war es her, dass sie Mariella das letzte Mal gesehen, das letzte Mal gesprochen, das letzte Mal geküsst hatte.

      Und zwölf Jahre, dass sie sie das erste Mal geküsst hatte.

      Wie schnell dieses Jahr damals vorüber gegangen war. Und gleich­zeitig schien damals die Welt stillzustehen, schien sich auf­zu­lösen in einen einzigen, wundervollen Moment.

      Während um sie herum damals das ganze Land dramatische, wenn­gleich begrüßenswerte, Veränderungen durchlebte, bebte auch ihr eigenes, ganz privates Leben unter der Wucht der Ver­än­de­rung, die mit der Liebe Einzug in ihr Leben hielt.

      Catharina hielt den Wasserkocher unter den Hahn, ließ genügend Wasser hineinlaufen und stellte ihn an. Marie hatte inzwischen ihre Malsachen aus dem Arbeitszimmer geholt und war dabei, sie auf dem Küchentisch bereit zu legen.

      Catharina spürte, wie die Wut und die Traurigkeit, die in diesen Tagen meist so weit weg schienen, irgendwo tief in ihr nach­hallten. Sie wollte sich ihnen nicht hingeben, doch die Erinnerung an die Trennung war nun geweckt und damit auch das dumpfe Echo.

      Es war, als spüre sie die Gefühle von damals wie durch einen Schleier oder als sei sie leicht betäubt und nehme den Schmerz nicht in seiner ganzen Gewaltigkeit wahr, sondern nur einen dumpfen Nachhall davon.

      Das Wasser kochte, und Catharina setzte eine frische Kanne Tee auf. Glückstee. Eine Biokräutermischung, die ihr gut bekam und die sie allein schon des Namens wegen gerne trank.

      „Möchtest du mit mir Tee trinken oder magst du einen Kakao haben oder irgendetwas anderes?“

      „Mmm?“

      „Ob du auch einen Tee möchtest oder lieber etwas anderes?“

      Catharina stand vor dem Schrank, in dem sie die Tassen auf­bewahrte und wartete geduldig auf die Antwort.

      „Tee ist gut.“ Marie klang hoch konzentriert. Sie war gerade dabei, ihre Holzmalstifte der Größe nach zu sortieren.

      Catharina wollte die friedvolle, liebevolle Stimmung nicht ver­derben, die in der Küche herrschte, indem sie den hoch­kommenden Erinnerungen und Gefühlen freien Lauf ließ. Sie ver­suchte, sich auf den gegenwärtigen Augenblick zu kon­zen­trieren und sich darin wiederzufinden.

      „Und manchmal schreibe ich dann auch etwas.“

      „Was schreibst du denn dann?“

      „Vielleicht erinnerst du dich daran, ich habe doch angefangen, ein „Lexikon der positiven Botschaften“ zu schreiben. Da füge ich dann manchmal neue Einträge hinzu. Oder ich versuche, mir neue Glücksnachrichten auszudenken.“

      „Was sind denn Glücksnachrichten? Wenn Leute im Lotto gewinnen, solche Sachen?“

      „Das wäre auch möglich, ja. Aber meistens schreibe ich dann eine andere Sorte Glücksnachrichten.“

      „Und was für eine Sorte?“ Maries Neugier schien geweckt zu sein.

      „Ich schneide aus der echten Zeitung einzelne Wörter aus und füge sie zu neuen Nachrichten zusammen, die nicht in der Zeitung stehen. Zum Beispiel, dass berechtigte Hoffnung besteht, dass das Ozonloch wieder kleiner wird.“

      „Was ist das Ozonloch?“

      „Unsere Erde ist umgeben von einer Art Schutzschild. Das schützt uns zum Beispiel vor zu starker Sonneneinstrahlung.“