Jörg Müller

Meier im Quadrat


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Hamburg war noch eisiger als der Dezemberwind. Da bekam Harry unerwartet Unterstützung von dem 85-jährigen Familienoberhaupt Conrad Kaufmann, dem Urgroßvater der kleinen Klara. Harry hatte ihn als Tyrannen übelster Sorte in Erinnerung. Gerade in dem Moment, als Harry die Tür geöffnet wurde, kam Conrad Kaufmann die Treppe herunter. Seine Neugier war sofort geweckt.

      „Was will dieser Nichtsnutz, der mir mein Lieblingsenkelkind weggenommen hat, hier in meinem Haus?“

      Harry blieb ganz ruhig. Ohne darauf einzugehen, betrat er das Haus und schritt, seine kleine Tochter auf dem Arm haltend, auf den alten Mann zu. Ohne ein Wort zu sagen, legte Harry ihm das Mädchen vorsichtig in den Arm.

      Harrys Schwiegermutter stockte der Atem. Ihr Schwiegervater hatte noch nie ein kleines Kind auf dem Arm gehalten. Aber der Alte schlug sich tapfer. Er hielt die Kleine fest und stand ganz still. Die kleine Klara lachte ihn an. Da veränderte sich der grimmige Gesichtsausdruck des alten Mannes. Er drückte die kleine Klara ganz fest an sich und fing an zu weinen. Dann dreht er sich um und ging langsam in das Wohnzimmer, wo er sich auf seinen Lieblingssessel setzte. Das Mädchen schien sich in den Armen ihres Urgroßvaters sehr wohl zu fühlen und sah ihn neugierig an. Harry und seine Schwiegereltern folgten dem Alten neugierig ins Nachbarzimmer. Conrad hob den Kopf und strahlte in Harrys Richtung.

      „Bitte setz dich zu mir und erzähl mir alles über die Kleine.“

      „Da gibt es nicht viel zu berichten. Nach dem Tod deiner Enkelin Klara wollte ich meine Tochter in die Obhut meiner Tante geben, die schon meine Schwester an Mutter statt aufgezogen hat. Aber meine Tante war dazu aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in Lage. Dann habe ich meine ledige Schwester gebeten, die Erziehung meiner Tochter zu übernehmen. Aber meine Schwester eignete sich überhaupt nicht für diese anspruchsvolle und anstrengende Aufgabe. Sie fühlt sich eher in den Ballsälen und Opernhäusern dieser Welt als in einem Kinderzimmer zu Hause. Und ich habe nicht das Geschick und die Zeit, Klara die Mutter zu ersetzen.“

      Wieder wurden die Augen des alten Mannes feucht.

      „Und weiter?“

      „Ihr könnt euch vorstellen, dass es mir nicht leichtgefallen ist, nach Hamburg zu kommen. Euer Verhalten gegenüber meiner Frau war unter aller Würde. Sie hat sehr darunter gelitten, dass sie von euch verstoßen wurde. Aber jetzt geht es nicht um mich, sondern um die Zukunft der kleinen Klara. Könnt ihr sie aufnehmen und euch um sie kümmern? Ich komme auch in jeder freien Minute, um euch zu unterstützen.“

      Harrys Schwiegermutter wollte gerade ihrer Empörung über diesen unglaublichen Vorschlag Luft machen, als sie durch eine Handbewegung ihres Schwiegervaters zum Schweigen gebracht wurde. Er wandte sich wieder Harry zu.

      „Mein lieber Harry, leider können wir unser unmögliches Verhalten deiner Frau und dir gegenüber nicht wieder gut machen. Aber mit der Anwesenheit deiner kleinen Tochter hier in meinem Haus gibt mir der liebe Gott ein Zeichen und eine zweite Chance. Dafür bin ich ihm und dir sehr dankbar. Wir werden uns um die kleine Klara kümmern und umgehend das beste Kindermädchen engagieren, damit sich Klara bei uns wohl fühlt. Und du bist uns natürlich jederzeit in unserem Haus willkommen. Möchtest du über Weihnachten bleiben?“

      Harry wollte.

      Die kleine Klara entwickelte sich prächtig und Harry besuchte sie in Hamburg so oft er konnte. Als das Mädchen sechs Jahre alt war, verstarb Conrad Kaufmann nach kurzer und schwerer Krankheit. Harrys Schwiegereltern brauchten nun auf den Alten keine Rücksicht mehr zu nehmen und schickten das Mädchen gegen Harrys anfänglichen Widerstand auf ein Edelinternat in die Schweiz. Dort entwickelte sich Klara ganz im Sinn ihrer Großeltern in eine ganz andere Richtung. Der Umgang mit dem Nachwuchs der Reichen und Schönen dieser Welt prägte sie. Bei jedem Besuch in der Schweiz musste Harry zu seinem Leidwesen feststellen, dass sich seine Tochter immer mehr von ihm distanzierte. Harrys Schwester Adele beobachtete die Entwicklung ihrer Nichte mit großem Interesse. Das Mädchen und ihr Umgang entsprachen jetzt genau ihren Vorstellungen, und so beschloss sie, den Kontakt mit ihrer Nichte zu intensivieren.

      Harry hatte nicht die Kraft und die Zeit, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen und resignierte. Für ihn gab es seitdem nur noch zwei Dinge, die seinen Alltag bestimmten: Die Arbeit und die Jagd. Letztere wurde immer mehr zur Sucht.

      „Lieber Herr Meier, Sie haben sicher auch schon davon gehört, dass mich die Entwicklung meiner jetzt acht Jahre alten Tochter sehr betrübt. Ich verkrieche mich in der Arbeit, verbringe jede freie Minute im meinem Jagdrevier und spüre immer deutlicher, dass ich mit meinen Kräften am Ende bin. Natürlich weiß ich, dass sich in der Maschbau GmbH etwas ändern muss, aber ich schaffe es nicht allein. Setzen Sie sich mit Ihrem Namensvetter zusammen und entwickeln Sie schnell ein Konzept. Meinen Segen haben Sie.“

      Nachdenklich verließ Hans das Büro und machte sich auf den Weg zu seinem Freund Heinz. Eine Woche später saßen die beiden Meier im Büro ihres Chefs. Das Konzept, das die beiden Freunde präsentierten, war nachvollziehbar und erfolgversprechend. Nach zwei Stunden stand ein merklich entspannter Harry Menzel auf, ging zu seinem Schrank, holte seinen Mantel heraus, zog ihn an und ging auf die beiden zu.

      „Meine Herren, ich bin von Ihrem Konzept begeistert und lege die Geschicke der Maschbau GmbH für die nächste Zeit versuchsweise in Ihre Hände. Ich fahre jetzt erst einmal für längere Zeit in die Schweiz, um die Entwicklung meiner Tochter zu beobachten und meiner Schwester auf die Finger zu schauen. Wir sehen dann weiter.“

      Die beiden Meier bedankten sich für das ihnen entgegengebrachte Vertrauen und machten sich an die Arbeit.

      Hans reiste von Kunde zu Kunde, um das neue Geschäftsfeld der Maschbau GmbH vorzustellen. Mit seiner offenen und kompetenten Art weckte er das Interesse seiner Kunden. Parallel zu seinen Kundenbesuchen versammelte er im Beisein seines Freundes Heinz alle Techniker um sich und erläuterte ihnen die neue Strategie der Firma. Die Mitarbeiter zogen begeistert mit. Es dauerte nicht lange und die Maschbau GmbH bot ihren Kunden die ersten Optimierungskonzepte an, die auch sofort zu Aufträgen führten. Dieser Erfolg sprach sich schnell herum und lockte junge Ingenieure und Kaufleute an, so dass Hans und Heinz personell aus dem Vollen schöpfen konnten. Die beiden legten großen Wert darauf, dass es nicht zu Reibungsverlusten in der engen Zusammenarbeit zwischen Kaufleuten und Technikern kam. Und da Hans und Heinz Meier mit gutem Beispiel vorangingen, war das gesamte Team mit großem Eifer und Spaß bei der Sache. Das neue Geschäftsfeld entwickelte sich so positiv, dass die Maschbau GmbH schon bald wieder schwarze Zahlen schrieb. Harry Menzel war begeistert und ernannte die beiden Meier zu Prokuristen. Er selbst widmete sich in den nächsten Jahren fast ausschließlich seinem Hobby, der Jagd.

      Neue Geschäftskontakte

      Die Qualität der Beratungsleistungen der Maschbau GmbH sprach sich schnell herum, und so gingen bald Anfragen aus ganz Deutschland ein, die in fast allen Fällen zu Aufträgen führten. Eines Tages meldete sich der Geschäftsführer einer Firma aus dem Sauerland bei Hans Meier und bat um ein Gespräch:

      „Herr Meier, ich habe schon viel Gutes von der Maschbau GmbH gehört. Wir haben in England einen Konkurrenten übernommen und sehen dort vor allen Dingen bei der Analyse der technischen Abläufe großen Beratungs- und Optimierungsbedarf. Haben Sie Interesse, diesen Auftrag anzunehmen?“ Hans freute sich auf diese neue Herausforderung, denn schon vor Monaten war den beiden Meier bewusst geworden, dass Deutschland mittelfristig für die Kapazitäten, die die Maschbau GmbH mittlerweile vorhielt, zu klein war.

      „Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und schlage vor, dass ich kurzfristig nach England fahre, um mir vor Ort einen Überblick über den Ist-Zustand der englischen Firma zu verschaffen und, darauf aufbauend, eine Analyse und ein Angebot zu erarbeiten.“

      Der Geschäftsführer stimmte Hans‘ Vorschlag zu, und so machte sich Hans auf den Weg in eine dünnbesiedelte Region Mittelenglands. Es war sein erster Besuch auf der Insel. Er war schon immer ein Freund des englischen Humors und deshalb gespannt auf Land und Leute. Von Bekannten hatte er gehört, dass sich in England auf dem Land ein wichtiger Teil des sozialen Lebens in den Pubs abspielte. Und so beschloss Hans, am Abend