Martin Wannhoff

Morality and fear


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verließ er ihn und lebte sich hier in der Stadt ein. Bis zu seinem 19. Lebensjahr hielt er sich mit Schuhe putzen und Porträts zeichnen über Wasser. Ansonsten lebte er mehr oder weniger auf der Straße. Im Winter war das besonders hart. Über verschiedene Kontakte wurde er Hausmeister des Wohnblocks, indem sich heute Sansones Bar befand.

      „Er hat viel in seiner Kindheit durchgemacht. Wenn Sansone ihn nicht aufgenommen hätte, wäre es nicht gut für ihn ausgegangen. Wir alle sind dem Don etwas schuldig. Mir hat er nach dem Börsenkrach eine neue Existenz gegeben, nachdem mein Taxi zerstört wurde.“

      Mehr konnte und wollte er auch nicht sagen. Ihm kam das Gesetz der Mafia wieder in den Sinn, dass ihm verbot, mit Außenstehenden über das Wesen der Cosa Nostra zu sprechen. Außerdem wusste er selbst ja auch nicht allzu viel.

      Nur so viel, dass er nicht mehr wissen wollte.

      Sansone band die Leute so eng an sich, dass er kaum einen Verrat befürchten musste. Er konnte sich der Loyalität seiner Familienmitglieder sicher sein. Die Angst seine Gunst zu verlieren war allgegenwärtig. Man konnte sich nie ganz sicher sein, woran man bei ihm wirklich war. Und der Don ließ einen darüber auch im Unklaren. Stevenson jedenfalls ahnte, dass der Don keinesfalls der Engel war, für den ihn alle hielten. Er konnte auch anders. Er war in der Lage, seine besten Freunde umbringen zu lassen, wenn er es für nötig hielt.

       „So, da wären wir, komm doch rein.“

      Sie führte ihn zu einem Hauseingang in einer Nebenstraße und bat ihn hinein. Dann ging sie durch ein aufgeräumtes Treppenhaus ganz nach hinten. Marylane wohnte im Erdgeschoss und öffnete die Wohnungstür. Stevenson fühlte sich gleich wohl. Seine Wohnung in Wellington räumte er nie auf, geschweige denn machte er sie regelmäßig sauber. Welch ein einladender und ordentlicher Kontrast war da Marylanes Wohnung. Tisch, Möbel und Wände waren liebevoll mit kitschigen Accessoires dekoriert. In den Fenstern standen Blumen und auf den Schränken saßen verschiedene Stofftiere. Sie legte ihren Mantel ab und bat ihn, sich zu dem Plüschhasen aufs Bett zu setzen.

       „Mach dich frei, ich sehe mir deine Wunden mal an.“

      Sie ging in die Küche und suchte Verbandszeug zusammen.

      Mit einem Tuch und hochprozentigem Schnaps wusch sie seine Wunden aus und verband sie zügig. Dann rieb sie ihm den geschwollenen Rücken mit einer Salbe ein. Sie besaß sogar ein Grammofon und bereitwillig legte sie eine Swingplatte von Duke Ellington auf. Bei den Klängen der Musik verflog der Schmerz rasch. Sie machten sich einen gemütlichen Abend, tranken Wein und ließen ihre Füße über den Parkettfußboden fliegen. Irgendwann ließ sie sich in seine Arme fallen und ließ ihn nicht mehr los. So standen sie da und spürten den Puls des anderen… Minutenlang. Sie begannen einander zu streicheln und zu küssen. Sie ließ sich von ihm die Haarklammern entfernen, öffnete ihr Haar und ließ es die Schultern herabfallen. Schließlich sanken sie zusammen aufs Bett und gaben sich ganz der Leidenschaft hin. Für Stevenson war Mary ein Engel. Wenn er mit jemandem zusammenleben wollte, dann sollte sie dieser Jemand sein. Um um Marys Hand anhalten zu können, brauchte er allerdings Giovannis Erlaubnis. Doch die würde er ihm sicher nicht versagen.

      Am Nächsten Tag erzählte Stevenson von diesen Kerlen, die Marylane bedroht hatten. Der Don war erschüttert und ließ sofort auch Silvio und Stevensons Capo Nuncio ins Hinterzimmer kommen. Sansone, sonst ein augenscheinlich ruhiger Mensch, war an diesem Tag von nackter Wut gepackt. So wütend hatte Stevenson ihn noch nie gesehen: „Was fällt diesen Hosenscheißern ein, mein Revier zu beschmutzen? Denken diese Clowns, dass sie in einem verdammten Freizeitpark sind oder was? Wie kann man nur so irre sein, sich mit einem meiner Leute anzulegen? Und obendrein auch noch wehrlose Frauen zu belästigen!“

      Silvio mischte sich ein:

       „Da sind wir um Haaresbreite einer Katastrophe entgangen.

      Die Menschen hier bezahlen uns Schutzgeld, da sollte zumindest in unserem Gebiet die Ordnung gewährleistet sein, für die man uns schließlich bezahlt.“

      Dem pflichtete Sansone bei und fragte sich, warum Giovanni nichts gesagt hatte. Er hätte sich dieser Sache doch sofort angenommen. Nuncio meinte: „Sollen wir Mao Lii Thai besuchen? Er kann uns sicher was zu diesen Kerlen sagen.“

      Mao Lii Thai war kleiner und unauffälliger Chinese, der seine Ohren scheinbar überall hatte. Wenn irgendwo etwas passierte: Mao wusste davon. Derartige Informationen waren wertvoll. So wertvoll für Sansone, dass er ihm eine kleine Wohnung bezahlte. Vom Unternehmungsdrang getrieben boxte Nuncio in die Luft.

      „Diesen Freaks verpassen wir eine Lektion, Boss. Mit meinen eigenen Händen mache ich sie fertig.“

      Nackter Hass blitzte in Sansones Augen: „Immer mit der Ruhe, Nuncio. Niemand bringt irgendwen um, klar? Ich will keine Toten auf meinen Straßen verantworten.

      Schlagt diesen Typen das Gehirn aus ihren Schädeln und lasst sie in ihrem eigenen Blut liegen. Jeder soll sehen, was passiert, wenn man mein Revier beschmutzt. Die armen Kinder der Stadt sollen über ihre entstellten Gesichter lachen!“

      Sansone zündete sich eine Zigarre an und erklärte die Aufgabe des heutigen Tages:

      „Also Jungs, besorgt euch ein paar Schläger von Perpone. Ihr werdet nach Chinatown fahren und Mao Lii Thai befragen.

      Kennt er das Versteck von diesen Lumpen, lasst euch den Weg erklären und fahrt dahin. Bringt diesen halbstarken Lackaffen Manieren bei und ruft von der nächstgelegenen Telefonzelle aus anonym einen Krankenwagen! Wenn das erledigt ist, kommt ihr sofort wieder her.“

      Stevenson und Nuncio erhoben sich und ließen sich von Perpone die Schläger und vorsichtshalber noch zwei 1911er Colts geben. Sansone hatte ausdrücklich den Gebrauch von Schusswaffen untersagt. Aber wenn die Störenfriede auch bewaffnet waren, sah man selbst mit dem Schläger eines Ligaspielers alt aus. Stevenson fuhr durch eine späte und verregnete Nacht. Eine steile Straße hoch und dann rechts auf den großen Platz. Trotz des Regens stand Mao umringt von ein paar Männern auf dem leeren Marktplatz. Es waren Kontaktmänner, die Mao erst beruhigen musste, als sie den weinroten Falconer F8 vorfahren sahen.

      Auf diesen kleinwüchsigen Chinesen war wie immer Verlass.

      Er wusste Bescheid. Es hatten sich schon einige Leute beschwert und auch der Aufenthaltsort der Rowdies war schon zu ihm durchgesickert. Die Polizei unternahm nichts gegen die Raubzüge dieser Bande. Denn der Sohn des Stadtrates, John Oregan, war der Anführer, so hieß es. Er glaubte wohl, dass dies seine Stadt sei und er hier machen konnte, was er wollte. Mao berichtete weiter, dass es sich bei ihrem Treffpunkt um eine leer stehende Fabrikhalle im Works – Quarter handelte. Sie bedankten sich und fuhren los.

      Das Industriegebiet war in desaströsem Zustand. Viele Fabriken und Lagerhallen waren Vandalismus und Verfall preisgegeben. Das Works – Quarter war nachts eine der gefährlichsten Gebiete der Stadt, was die Neuansiedlung von Unternehmen erschwerte. Wenigstens stieg die Zahl der Arbeitslosen nicht mehr. Die Krise hatte ihren Scheitelpunkt erreicht. Seit zwei Monaten ging die Zahl der Menschen ohne Arbeit sogar wieder leicht zurück, auch wenn davon noch nicht viel zu sehen war. Mao hatte ihnen gesagt, dass sich diese Rüpel in der alten Gießerei aufhielten.

      Das war ein Hallenkomplex aus sechs großen Gebäuden.

      Der Verwaltungstrakt war im Jahre 1929 fast völlig ausgebrannt. Vom Dachstuhl war nach dem Feuer nicht viel übriggeblieben. Traurig sahen die schwarzen Fensterlöcher aus, die an eine glorreiche Zeit in Wachstum und Wohlstand erinnerten. Es goss in Strömen und ein Blitz hellte den Straßenzug auf. Das Verwaltungsgebäude der Gießerei zog sich die ganze Straße über mehr als 400 Meter hin. Das Gelände umfasste ein ganzes Karree, welches von vier Straßenzügen umrahmt wurde. Das ausgebrannte Verwaltungsgebäude nahm die gesamte Westseite in Anspruch. Bog man von dieser Straße nach links ab, stieß man auf einen großen Torbogen. Oben war mittig eine Uhr angebracht. Es mutete wie ein Grenzübergang an. Vier Schranken verschlossen das Gelände.