Martin Wannhoff

Morality and fear


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um sechs. Um diese Zeit hatte die Tagschicht Feierabend gehabt. Man hatte sie zum Ende einer Schicht abgeklemmt und nie wieder angestellt, als ob die Zeit hier für immer stehen geblieben wäre. Der Rest des Geländes war durch eine etwa 2,50 Meter hohe Mauer von der Außenwelt abgetrennt. Lediglich ein Gleisanschluss am Nordende unterbrach sie.

      Als Stevenson das Auto einmal um das Gelände gelenkt hatte, parkten sie gegenüber vom Haupteingang. Sie schwangen sich über eine der Schranken und sahen sich drei Lagerhallen, einem ebenso großen Lokschuppen und einem Gießwerk gegenüber. Dank des durch den Regen verursachten Geräuschpegels konnten sie nicht gehört werden. Aber auch sie hörten abgesehen vom Rauschen des Regens nichts. Es brannte nirgendwo Licht. Im Verwaltungsgebäude war mit Sicherheit niemand. Dort lief das Wasser in Strömen von den Wänden. Wo sollten sie bloß anfangen zu suchen? Das ganze Areal maß etwa 600 mal 400 Meter und zwischen den großen Hauptgebäuden befanden sich noch unzählige kleinere Garagen, Schuppen und Lagerräume. Alles war außerordentlich dicht bebaut.

      „Pass auf, wir müssen uns nach Autos umsehen. Wenn wir die finden, wissen wir, in welchem Gebäude wir weitersuchen müssen.“

      schlug Nuncio vor. Sie teilten sich auf und trafen sich zehn Minuten später wieder an der Schranke. Es waren nicht die Autos, sondern ein Feuerschein im Inneren der Gusshalle, die den Aufenthaltsort der Rowdys verriet. 30 mal 250 Meter maß die Halle etwa. Drei gleich hohe Schornsteine ragten in den nächtlichen Himmel. Der Personaleingang war zugemauert worden. Die LKW-Laderampe war durch Rolltore verriegelt. Es gab noch das große, hölzerne Flügeltor für Dampfrösser am anderen Ende der Halle.

      Dieses konnte leicht aufgebrochen werden. Stevenson übte sich in seinem Fach und öffnete die Tür nach nicht einmal dreißig Sekunden. Nuncio schob sie auf. Das ganze über fünf Meter hohe Tor konnte man nur von Innen öffnen.

      Stevenson hatte lediglich eine Tür im Tor geknackt. Aber immerhin, sie waren drin und der Beweis, dass sie richtig waren stand vor ihrer Nase. Da parkten vier Autos unterschiedlicher Herkunft und Baujahre. Ein brauner F6, ein Bolt-Truck mit Ladefläche und ein Ford, vielleicht drei oder vier Jahre alt. Diesen Autos (und allen anderen jener Zeit) sah man die Verwandtschaft zur Kutsche an. Die Räder an der Außenkarosserie mit Kotflügeln umrahmt, vorne der Motorraum mit senkrecht stehendem Kühlergrill.

      Der vierte Wagen jedoch schien mit all diesen Konventionen zu brechen. Es musste Teil einer Testreihe sein. Dieser Wagen schien aus einem einzigen Guss zu bestehen. Es handelte sich um ein Coupé mit dem Namen Chrysler Airflow. Sie hatten den ersten Wagen mit aerodynamisch geformter Karosserie vor sich. Dieses Fahrzeug wirkte wie von einem anderen Stern und gehörte mit Sicherheit dem Anführer der Bande. Sie ließen die Autos stehen und machten sich auf die Suche. Durch ein angelehntes Eisentor bemerkten sie den Lichtschimmer, nach dem sie suchten. Nuncio öffnete es vorsichtig und schlüpfte hinein. Alles stand voller Gerümpel. Man hatte sich von irgendwoher ein Ölfass besorgt und in Brand gesteckt. Das war eine gute Licht – und Wärmequelle. Es stand nur eine Person am Feuer. Mit dem konnte es Nuncio locker aufnehmen. Zielstrebig kam er aus seiner Deckung hervor:

      „He Freundchen, Don Sansone lässt schön grüßen!“

      Erst war der am Feuer erschrocken, aber als er Nuncio allein kommen sah, schnappte er sich einen Schlagring und beide Männer gingen aufeinander los. Gerade wollte er ausholen, da zog Stevenson ihm so derb eine über den Rücken, dass er schreiend zusammenbrach. Doch schon konnte man mehrere Schritte vernehmen, die sich schnell näherten. Eine Lagertür wurde aufgestoßen und ein Mann rief:

       „James, was ist los?“

      Dieses Mal richtete Stevenson Sansones Grüße aus und schon schlugen die beiden Männer auf den entsetzten Kerl ein. Er war zäh und es dauerte eine Weile, bis sie ihn zu zweit niedergerungen hatten. Der Überraschungseffekt war jetzt vorbei. Nuncio und Stevenson sahen sich fünf bis an die Zähne bewaffneten Männern gegenüber. Schusswaffen waren zu ihrem Glück nicht im Spiel. Sie teilten sich auf.

      Stevenson rannte den Gang weiter hinein, während Nuncio sich Richtung brennendes Benzinfass begab. Nuncio sah, dass ihm drei Kerle mit Schlagringen, und Messern bewaffnet gefolgt waren. Er warf ihnen einen metallenen Gegenstand entgegen und traf einen am Knie, der sofort zu Boden stürzte. Der Zweite wurde von ihm gepackt und herumgeschleudert. Fast schon in Panik versuchte er irgendetwas zu fassen zu bekommen, um Nuncio wieder abzuschütteln. Unglücklicherweise stieß er das Benzinfass um, so dass sich das brennende Benzin über die Füße des Dritten ergoss. Die Hitze breitete sich fast schon explosionsartig aus. Er gab furchtbare Schreie von sich. Die Kleidung fing Feuer, der Mann stürzte zu Boden, wälzte sich aber nur im brennenden Benzin. Gerade noch rechtzeitig rettete sich Nuncio aus der größer werdenden Benzinlache. Das war keine kleine Strafaktion mehr. Heute starben hier Menschen. Mindestens drei Tote waren zu diesem Zeitpunkt bereits zu beklagen, aber Nuncio verdrängte dieses grauenhafte Bild der brennenden Personen. Mit Schrecken vernahm er einen Schuss. Es war kein 1911er Colt. Also hatte Stevenson ihn nicht abgegeben.

      Sofort rannte er zurück durch die Tür und eine Blechtreppe hinauf. Er betrat ein Zimmer, welches nur mit ein paar Stühlen und einem Tisch möbliert war. Von hier waren die fünf Kerle gekommen. Jetzt fand er jedoch den Raum leer vor. Stevenson war ja den Gang weiter nach hinten gelaufen. Zu dumm, dass Nuncio kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Die Stichflammen hatten ihn geblendet. Nur Umrisse erkennend wandelte er fast blind in einen weiteren Hallenabschnitt. Hier standen die großen Hochöfen, die in den drei Schornsteinen endeten.

      Zweifellos war das der größte umbaute Raum auf diesem Areal. Ein Blitz kam Nuncio zu Hilfe und erhellte für den Bruchteil einer Sekunde das Schmelzwerk. Er sah eine Person auf dem Boden liegen, auf den mehrere Männer eintraten, sofort machte Nuncio einen Satz nach vorn und fegte zwei Männer mit dem Baseballschläger um. Es ertönten Schreie. Dann wieder ein Schuss. Es schien sich um einen Colt Detective Special zu handeln, wie ihn Polizisten als Standardwaffe mitführten. Ob die Polizei hier etwa mitmischte? Stevenson hatte zwei weitere Kerle zu Boden geprügelt, aber er sah auf den ersten Blick im Gesicht übel zugerichtet aus.

       „Steve, woher kommen die Schüsse?“

       „Ich weiß es nicht, irgendwo von da oben, denke dich.“

      Er deutete auf den mittleren der drei Hochöfen. Eine Eisentreppe führte hinauf. Nuncio schlich leise aber flink wie eine Gazelle nach oben. Er fand sich auf einer ringförmigen Plattform wieder und abermals knallte es.

      Dieses Mal hörte er den Aufprall der Kugel. Der Schütze schoss, warum auch immer, in Richtung Dach. Der Schuss knallte weiter über ihm, also setzte er seinen Weg nach oben fort. Das Metall der Griffe, an denen er sich hoch hangelte, war ölig und kalt. Ein Anflug von Höhenangst beschlich ihn. Ein weiterer Schuss machte deutlich, dass er auf der richtigen Fährte war. Es knallte jetzt fast schon neben ihm.

      Noch leiser bewegte er sich nach oben und fand sich direkt unter dem Dach wieder. Er war von vielen Metallträgern umgeben und hatte bis zum Dach noch etwa einen halben Meter Luft. Der ganze Kesseldeckel war gewölbt. Am Rand saß der Schütze und lud seinen Colt nach. Dann ballerte er zweimal in die Dachkonstruktion über ihm. Es waren schon etliche Löcher darin und es tropfte unablässig Regenwasser auf den Kessel. Nuncio brummte:

       „Wie willst du mich denn im Dunkeln treffen, du Affe?“

      Dann schlug er zu. Es schien ein junger Bursche von vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahren zu sein, der sich hier oben versteckt hatte. Er gab einen markerschütternden Schrei von sich und fiel, ohne dass es Nuncio wollte, 25 Meter in die Tiefe. Sogleich rief Stevenson von unten: „Nuncio, bist du Ok?“

       „Ja, bin ich, mir ist nichts weiter passiert.“

      „Ich dachte für einen Moment, du hättest gerade den Abgang gemacht.“

      Mit zitternden Knien begab sich Nuncio nach unten. Er war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Sonst war die Halle leer. Auch wenn das Auto vom Stadtratssohn hier stand, hatten sie diesen noch nicht angetroffen. Als er unten war, roch Nuncio das Feuer: