sein Leben zu genießen und das Geld, das er nervenaufreibend verdiente, mit Genuss auszugeben. Die Tatsache, immer neue Ausreden für seine ahnungslose Frau erfinden zu müssen, die keinen Argwohn schöpfte von seinem Doppelleben, war ein lästiges, aber notwendiges Nebenprodukt seines neuen Lebens, quasi ein Kollateralschaden. Trotzdem war alles so simpel! Sie vertraute ihm blind, die Wahrheit würde sie selbst dann nicht glauben, wenn er es direkt vor ihren Augen mit Sandra treiben würde. Mit der Sandra, die ihn verrückt machte.
Oh Kirsten, wie du mich unterschätzt...
Und Sandra, die wundervolle Sandra, machte es ihm so einfach, beide Frauen in seinem Leben taten das, ein überaus glücklicher Umstand, für den er äußerst dankbar war. Und da hielten sie sich immer für das durchtriebene Geschlecht mit den sensiblen Antennen! Welch Witz! Die eine merkte nicht, wie er sie betrog und die andere glaubte doch tatsächlich, für sie würde er sein glückliches Heim opfern.
Sandra war nicht so kopflastig wie Kirsten, Sandra genoss das Leben wie er. Und bei Sandra bekam er in einer Tour, was er haben wollte. So wie gestern Abend, als sie sich im Badezimmer seines Hauses geliebt hatten, mit jeder Menge Anwesender um sie herum, mit seiner Frau in direkter Nähe! Es hatte einen speziellen Reiz gehabt, wenn er an Kirsten dachte, die währenddessen unten keinen blassen Schimmer hatte und seine Party schmiss. Es hatte ihm ihr gegenüber ein wahnsinnig erfüllendes Gefühl der Überlegenheit gegeben, endlich einmal. Ja, er war ihr beruflich überlegen, aber ansonsten gab sie immer den Ton an. Wohlhabend, attraktiv, beliebt. Früher hatte ihn häufig die Eifersucht geplagt, wenn er seiner Frau nicht das Wasser reichen konnte, heute passierte ihm das nicht mehr.
Dass Kirsten nun gerade die CD in die Hände fallen musste, die Sandra ihm geschenkt hatte, ärgerte ihn enorm.
Zufällig wohnte sie ganz in der Nähe, eigentlich musste er nur zwei Straßen überqueren und schon war er bei ihr im siebten Himmel. Ja, er war verrückt nach Sandra, er konnte bei der Arbeit kaum die Finger von ihr lassen und musste sich nur noch überlegen, wie er aus dieser vertrackten Ehe mit Kirsten wieder herauskommen würde, ohne zu viele Federn zu lassen. Den Ehevertrag hatte er wegen seiner Mutter nämlich nicht unterzeichnet.
Nun sitzt er nebenan und spielt, naja, selbst schuld. Was schenkst du ihm auch ein Spiel!
Enttäuscht blieb sie auf dem Sofa sitzen und blätterte lustlos durch die Fernsehzeitung auf der Suche nach einer brauchbaren Ablenkung. Doch es lief nichts an diesem Samstagnachmittag, was ihre Gedanken hätte auf sich ziehen können.
Der Stringtanga zwickte sowieso, die Bügel des Bhs drückten, und so kam bei ihr keine Stimmung auf, um untätig auf dem Sofa herumzuliegen. Ständig zupfte sie an ihrer Unterwäsche herum und fragte sich, was sie nun tun könnte. Eine Freundin anrufen? Samstags hatten die alle mit ihren Familien etwas vor, weil es bei ihnen so etwas wie ein Familienleben gab. Ihren Vater anrufen? Als ob er sich jemals über einen ihrer Anrufe gefreut hätte. Im Internet surfen? Keine Lust dazu. Also blieb nicht viel übrig. Da konnte sie auch gleich den Geschirrspüler ein letztes Mal ausräumen, die Gläser polieren und alles wieder einräumen. Ihr Leben war so sehr das Gegenteil von aufregend und an diesem Tag fiel ihr das besonders auf. Alle bewunderten sie und Florian, bezeichneten sie als rundum glückliches Paar, doch rundum glücklich war Kirsten schon seit langem nicht mehr. Gestern Abend hatte sie sich bei den kurzen Gesprächen mit einem völlig Unbekannten, der indiskutabel jünger war als sie, zum ersten Mal wieder lebendiger gefühlt. Ihr war klar, dass er nur hatte nett sein wollen, dass er vielleicht auch niemanden zum Reden in dem Gewühl der vielen Menschen gefunden hatte, weil Männer mit seiner Attraktivität abschreckend auf Männer und Frauen gleichzeitig wirkten, da die Männer eifersüchtig auf das Äußere und die Frauen eingeschüchtert durch das Äußere waren und sich von vorn herein als chancenlos und minderwertig betrachteten. In der Situation hatte er sich eben an die Hausfrau herangepirscht und war ihr behilflich gewesen, um selbst aus der Unbehaglichkeit zu entfliehen. Es war lachhaft, mehr in das Geschehene hereinzuinterpretieren, so sehr die Vorstellung ihr kleines Ego auch erfreute. Als wenn der Superstar einem pickeligen, kreischenden Teenager vom roten Teppich aus kurz zugelächelt hatte. Mehr bedeutete es nicht.
Und die übrigen Gäste sahen in Kirsten einfach nur das, was sie war, nämlich eine langweilige Ehefrau, die keine besonderen Qualitäten zu haben schien, und darum unterhielt sich auch sonst niemand mit ihr. Weil sie uninteressant war, gänzlich facettenlos.
Das ist nicht wahr, schalt sie sich. Du bist interessant, du hast Facetten, nur deinen Mann juckt das nicht mehr.
Plötzlich stand Florian in der Küchentür und riss sie jäh aus ihren Gedanken. Sie zuckte erschrocken zusammen, als er sie ansprach:
„Schatz, nächstes Wochenende ist Weihnachtsfeier. Du willst doch bestimmt wieder nicht mit, oder? Die Tippse muss nämlich die genaue Personenzahl beim Catering durchgeben, die tritt mir schon seit Wochen auf die Füße deswegen.“
Die Weihnachtsfeier! Ein absolut ödes Beisammensein mit einem Haufen mehr oder minder Unbekannter, die so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, dass das Buffet für Kirsten zum Interessenschwerpunkt des Abends avancierte. Meistens saß sie am Ende mit dem einem oder anderen Gläschen Alkohol zuviel intus auf einem der Besucherstühle in Florians Büro und starrte verträumt Löcher in die Luft. Das war auch der Grund für ihre Abwesenheit in den letzten zwei Jahren gewesen. Mit den anderen Frauen hatte sie sich auch nichts zu erzählen. Die meisten löcherten sie wegen ihrer Kinderlosigkeit, und sie war es leid, diesbezüglich Ausreden zu erfinden. Sie wusste ja selbst nicht so genau, warum sie heimlich immer noch die Pille nahm und Florian die Enttäuschung vorspielte, wenn sie wieder ihre Periode bekam. Wobei er schon seit Monaten nicht mehr fragte und sie das Gefühl nicht los wurde, dass ein Kind eigentlich auch in seinem Leben momentan überhaupt keinen Platz hatte. Sie zusammen mit Florian beim Ultraschall? Unvorstellbar. Florian, der ihr den wachsenden Bauch streichelte? Unvorstellbar. Florian, der ihr während der Geburt beistand? Unvorstellbar. Florian als guter Vater? Unvorstellbar.
„Kirsten, was ist denn nun? Was soll ich sagen?“, drängelte er sie in die Gegenwart zurück.
„Sag, dass ich gerne mitkomme“, antwortete sie abwesend, denn das war sie womöglich, ihre Gelegenheit. Vielleicht, altes Mädchen, winkt dir das Schicksal mit offenen Armen zu. Was hast du schon zu verlieren?
Er zog erstaunt die Stirn in Falten und schien für einen kurzen Moment die Fassung zu verlieren angesichts dieser offensichtlich unerwarteten Antwort. Dann fing er sich wieder und lächelte sie unergründlich an. „Schön“, sagte er, „dann melde ich dich mit an.“
Er machte kehrt und verließ die Küche wieder.
Kirsten polierte weiter versonnen das Glas in der Hand und empfand zum ersten Mal bei dem Gedanken an die Weihnachtsfeier eine vage Vorfreude. Sie würde Christoph wiedersehen, und sie hatte eine ganze Woche Zeit, um sich auf dieses Wiedersehen vorzubereiten.
Ihre Phantasie sponn weiter, sponn sich zusammen, dass der hübsche Jüngling tatsächlich mehr von ihr wollte als einen harmlosen Küchen-Smalltalk. Diese Gedanken daran, diese Phantasien, zählten die schon als Betrug? Nein, beruhigte sie sich, das spinnst du dir doch sowieso nur zusammen.
Was hätte ihre Mutter in einer solchen Situation wohl gedacht? Was hätte sie gefühlt, was hätte sie ihrer Tochter geraten?
In einem Anflug von Wehmut ging sie ins Wohnzimmer und kramte ihr altes Fotoalbum aus dem Schubfach hervor. Entstanden vor dem Zeitalter der digitalen Fotografie.
Sie übersprang die ganzen Kinderfotos und stieg ein in der Zeit um ihr Abitur. Sie sah sich und Ulla Arm im Arm vor den Pyramiden am Eingang des Louvre stehen, neben dem Grab von Jim Morrison und ein Foto, das Ulla von ihr und einem Verehrer namens Sören gemacht hatte, der ebenfalls seinen ersten Urlaub in Schulfreiheit in Paris verbracht hatte. Sie zog auf dem Bild mit ihm genüsslich an einer Zigarette, er hielt sie lässig im Arm und grinste selbstgefällig. Sören und wie weiter? Der Nachname blieb verschollen in ihrem alternden Langzeitgedächtnis. Irgendwann flogen halt die unwichtigen Infos über Bord, und der Nachname eines Typen, mit dem sie vor 13 Jahren in Paris einen Joint geraucht und anschließend eine erbärmliche, bekiffte Kicher-Nummer geschoben hatte, war so eine unwichtige Info.
Dann