Elmar Zinke

Elbland


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      Das Wismerkanwesen untergliederte sich in eine Vielzahl von Gebäuden. Schiefer deckte sämtliche Dächer, ein einheitlicher Neigungswinkel zeichnete sie zudem aus. Gauben durchbrachen sie mannigfach, die Fassaden bestachen ausnahmslos in kirschrot und blütenweiß. Das Herrenhaus umfasste einen Mittelbau und vier Anbauten, zwei Flügel gingen zur Hofseite, auch die gartenseitig zwei Turmpavillons schmückten die hauseigene Postkarte. Freitreppen aus Sandstein führten zum gepflasterten Hof und zum parkähnlichen Garten. Mit dem Baumbestand von Birken und Buchen, künstlich angelegten Teichen sowie einer Vielzahl verwitterter Skulpturen weitete sich das Gelände über nahezu sechs Hektar, ein namenloser Bach markierte die längste natürliche Grenze.

      Der Fahrzeugmix der handverlesenen Gästeschar engte die Dorfstraße ein bis zu den ersten, zumeist abgeernteten Feldern, Girlanden überspannten den gesamten Schlosshof, die weißen Tischdecken der Stehtische hingen weit in die Tiefe. Wagners Aufzug erntete zu gleichen Teilen Aufmerksamkeit und Nichtbeachtung. Der Ankömmling suchte zielgerichtet den Hausherrn, schüttelte gelegentlich eine Hand, sichtete ihn im Beisein der Gattin Eleonore. Sie entstammte einem dänischen Adelsgeschlecht, nannte begrenzte Besitztümer in der alten Heimat ihr Eigen, bewirtschaftete sie in streng ökologischer Ausrichtung. Landrat Erwin Radwerk und Oberbürgermeister Burkhard Ständer vervollständigten ein Stehquartett.

      Wismerk überragte seine Gesprächspartner um mindestens eine Kopfhälfte, das Alter von fünfundsiebzig Jahren drängte nirgendwo zum Vorschein. Zum leicht ergrauten Igelschnitt gesellten sich ein unentwegt forscher Blick, extrem dunkle Augen, ein vorspringendes Kinn und eine feinporige Haut.

      Der Hausherr begrüßte Wagner mit Handschlag und Schulterklopfen, rief froh gestimmt: „Ein preußischer Offizier ist hier immer ein gern gesehener Gast. Im Gegensatz zum Franzos. Oder diesen deutschen Vaterlandsverrätern.“

      Wagner setzte die Begrüßung mit einem gehauchten Kuss auf den Glacéhandschuh der Baronin fort, die Verbliebenen am Tisch streckten Wagner mechanisch die Hände entgegen.

      „Schade, dass Sie, Verehrtester, meine Rede versäumten“, wandte sich Wismerk erneut Wagner zu. „Ich stimmte darin ein Hohelied auf Ihre Person an, auf das, was Sie mit Ihrer exzellenten Öffentlichkeitsarbeit für meine Familie leisten. Dieser ganz vorzügliche Artikel in der Frankfurter Allgemeinen vor wenigen Tagen aus gegebenem Anlass setzt Ihrer Arbeit die Krone auf. Seitdem treffen zuhauf Busladungen aus dem ganzen Bundesgebiet ein.“

      „Da klingelt die Kasse“, warf Ständer ein.

      „Wir sitzen alle im gleichen Boot“, entfuhr Wismerk beschwingt. „Möge unterm Kiel immer ausreichend Wasser fließen.“

      Wagner angelte sich vom Silbertablett einer jungen Partyserviceschönheit im weißschwarzen Dress eine Sektschale, suchte Wismerks Augen.

      „Auf welcher Treppe kam Ihr Vorfahr zu Tode?“, warf er unvermittelt ein.

      „Auf der Freitreppe in den Park. Seitdem, so die Überlieferung, finden sämtliche Lustbarkeiten unter freiem Himmel ausschließlich auf dem Hof statt.“

      „Der Aberglaube und die Geschichte, wie wahr, auch ein weites Feld zum Beackern“, sagte Wagner.

      Ständer spitzte den übergroßen Mund, warf ein: „Was sind Sie ohne die Geschichte, Doktor Wagner?“

      Wagner wertete das Gehörte auf eine wohlwollende Weise, seine Augen entzündeten sich vor Verzücktheit: „Selbstverständlich, die Familie des Barons ist mein Steckenpferd, aber auch die Republik Elbland, dieses herausragende gesellschaftliche Experiment, mit dem unsere Heimat Geschichte schrieb. Vieles lagert hier noch im Dunklen.“

      „Zum Beispiel?“, entsprang es Radwerks schmalen Lippen.

      „Zum Beispiel die historisch verbriefte Tatenarmut des preußischen Staates gegenüber diesem eigenständigen Gebilde, diesem Staat im Staate. Hier bekenne ich, dass ich zuweilen im Vagen schwimme, mehr noch, meinen Ruf gefährde, indem ich nicht Hiebfestes und nicht Stichfestes in den Rang historischer Mutmaßungen erhebe. Zum anderen der Tod von Hans Wismerk. Steht sein Ableben tatsächlich in einem direkten Zusammenhang mit dem Ausbruch der Rebellion? Anders gesagt, ohne seinen Tod kein gesellschaftliches Experiment?“

      „Trinken wir auf das Leben, auf das Hier und Heute“, mischte sich Eleonore stimmungsvoll ein, erhob ihr Gemisch von Sekt und Orangensaft.

      „Und darauf, dass unsere schöne Heimat weiter auch durch die Wismerks in die Welt strahlt“, ergänzte Radwerk.

      Dem kraftvollen Gläserklang folgte kurzes Schweigen, dem der Baron Einhalt gebot: „Nun lasset uns speisen, meine Herrschaften. Genießen Sie Eisbeinsülze, Blutwurst und Leberwurst, Tatar vom Rumpfsteak, die Kutscherpfanne, Kartoffelsuppe, Schwein am Spieß. Genießen Sie unsere geliebte preußische Hausmannkost. Das Essen spiegelt Teile unserer Tugenden. Bescheidenheit, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Heimatliebe.“

      Im gemeinsamen Marsch zum Büfett suchte Wagner unauffällig Wismerks Nähe, raunte: „Nach ein paar Happen suche ich gern stillschweigend das Weite, Herr Baron. Der Termin mit dem Professor lastet mir im Nacken.“

      „Wir verneigen uns auch vor Pünktlichkeit und Pflichtbewusstheit“, sagte der Andere und tätschelte Wagners Schulter. „Bis zum nächsten Mal, Verehrtester. Der Fahrer steht Gewehr bei Fuß.“

      Wagner verzehrte mehr als gewöhnlich zur Mittagszeit, schreckte vor einer dicken Scheibe Spanferkel nicht zurück. Das Reuegefühl schwand mit jedem Bissen und er dachte, Otto schmeckt sowas auch. Treffe ich ihn am Abend, kriegt er wenigstens Wohlfahrts Bockwurst.

      Kapitel 3

      Richter entfloh dem unmittelbar Bevorstehenden am Fenster. Der Sonnenstand inmitten der beiden Domturmspitzen lieferte ein bezauberndes Bild, der Halt der schwarzen Mercedeslimousine des Barons und Wagners Aussteigen holten Richter in die Gegenwart zurück. Die Tragik des Bevorstehenden kannte er seit drei Tagen, ließ sein Herz mehrfach ruckartig schneller schlagen. Ohne näheren Grund zog er die Vorhänge spaltbreit zu.

      Der Zweiundsechzigjährige wahrte ein maßvolles Übergewicht, die auffällige Röte im fleischigen Gesicht bestätigte sich als angeboren und unabänderbar, seiner Bartpflege schenkte er mehr Einfallsreichtum als seiner Kleiderordnung. Seit vielen Jahren trug er an jedem Wochentag immer denselben Anzug, einzig die Wahl der Krawatte drückte das Unvorhersehbare aus. Der Professor galt als unumstrittener Kenner der preußischen Gesamtgeschichte, Universitäten in Frankreich und Polen würdigten seine speziellen Verdienste um die Aufarbeitung der Stellung Preußens zu ihren Ländern mit Ehrendoktorwürden.

      „Guten Tag, Herr Kollege“, wahrte Richter den festen Klang seiner Stimme, setzte sich am Tisch Wagner gegenüber.

      Wagner legte das Notizheft vor sich, schlug im Taschenkalender die aktuelle Woche auf, hielt den hochpreisigen Füllhalter schreibbereit.

      „Ich hoffe, das Fest verlief ganz nach den Vorstellungen des Barons?“, kämpfte Richter gegen sein Unbehagen.

      „Doch, ja. Ich erlebte eine Feierlaune völlig ungetrübt.“

      Richter sammelte sich einige Atemzüge, seine Gesichtszüge entglitten ins Wehmütige.

      „Doktor Wagner, ich überbringe schlechte Kunde“, brachte er hervor. „Das Kultusministerium verlängert nicht Ihren Vertrag.“

      Wagners Augen und Gedanken irrten eine Zeit lang ohne Halt umher, wie betäubt druckste er: „Was bedeutet das?“

      „Sie erhalten drei weitere Monate Ihre Bezüge, die andere Seite bittet aber um die Rechtschaffenheit, dass Sie Ihren Schreibtisch sofort und ohne öffentlichen Aufschrei räumen.“

      Wagner bezeugte mit einem geöffneten Mund den zeitweiligen Mangel an Selbstkontrolle, stammelte: „Steht der Sparzwang im Vordergrund, also, es genügt mir durchaus weniger.“

      „Ich weiß nicht um die Gründe Ihres zwanghaften Ausscheidens. Ich weiß jedoch, welch großer Verlust Ihr Weggang für uns bedeutet. Und ehrlich gesagt, ich verstehe auch