Elmar Zinke

Elbland


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hundertjährige Jubiläum des Geschäftes hin, ein Werbeaufsteller vor dem Schaufenster pries die Sonderangebote des Tages. Gonglaute verkündeten Wagners Eintritt in den kundenleeren Laden.

      „Guten Morgen, Herr Doktor“, begrüßte ihn Hartmut Wohlfahrt im blitzsauberen Fleischerhemd hinter der Theke. „Wie immer?“

      „Bedaure, heute nur für mich eine Bockwurst.“

      Wohlfahrt krümmte den gedrungenen Körper, bis sich eine Sichtachse zu Wagners Füßen einstellte.

      „Lief Ihnen Otto schon wieder weg?“

      „Ich hoffe nicht“, drückte Wagner seine Kümmernis mit Zuversicht aus.

      Wohlfahrt wickelte die Rindsbockwurst in knisterndes Papier, tütete sie werbeneutral ein, zögerte das Kommende etwas hinaus: „Heute Nacht pisste jemand gegen die Ladentür. Das war nicht Ihr Kumpan. Das waren die Hunde aus dem Asylantenheim, die sich hier Tag und Nacht herumtreiben. Der kürzeste Weg vom Domplatz zum Nachtlager geht leider Gottes geradewegs bei mir vorbei.“

      „Wenn Otto der Schuldige ist“, beeilte sich Wagner zu sagen, „trage ich selbstverständlich die Unkosten der Reinigung“.

      Wohlfahrt lächelte gezwungen: „Dieser Tage trat ich frühmorgens beinahe in einen Scheißhaufen. Den drückte unter Garantie der Arsch eines Zweibeiners auf den Bürgersteig.“

      Wagner schwieg im Unwohlen, Wohlfahrt versteifte sich auf eine Mutmaßung: „Der Haufen und heute Nacht die Pisse, das kommt nicht von ungefähr, Herr Doktor. Damit drücken die Asylanten ihre wahre Gesinnung aus. Sie scheißen und schiffen auf uns Deutsche.“

      Wagner wiegte in gleichbleibender Gemütslage den Kopf, vollstreckte seine Meinung: „Die Worte, die Worte, Herr Wohlfahrt“.

      Wohlfahrt wandte sich allerlei Handgriffen zu, Wagners Augen schweiften zum Blickfang des pieksauberen und halbhoch weiß gefliesten Ladens ab. Oberhalb gerahmter Meisterurkunden hing ein Zaum aus dunklem Leder, den helle Karius-muscheln belegten. Wohlfahrt fertigte ihn in aufwändiger Handarbeit nach historischem Vorbild und in Teamarbeit mit seiner Tochter Janine. Mit ihrer Ausbildung als Gärtnerin fand sie keine Arbeit, ab dem späten Vormittag machte sie sich im Geschäft der Eltern nützlich. Nach Dienstschluss kaufte Wagner im Geschäft mehrmals pro Woche vier Wurstscheiben in ewiggleicher Sortenwahl als Abendbrot, zu diesem Zeitpunkt bediente die junge Frau allein im Laden. In Wagners Gegenwart errötete das kluge und hilflose Gesicht vor schamhafter Verliebtheit, bislang gab kein Wort ihre Gefühlslage preis.

      Wagners ausgestreckte Hand wies zur Irrtumsvorbeuge auf den Wandbehang, er lobte: „Wie schön“.

      Wohlfahrts Gesicht durcheilte eine Verwandlung ins Hochgestimmte: „Das Halfter im Original trugen seinerzeit die Pferde der Offiziere im zweiten Leibhusarenregiment Königin Victoria von Preußen“.

      Wagner kannte die Geschichte aus dem Effeff, nickte wohlgefällig, fragte mit ernsthaftem Interesse: „Wie viele Mitglieder zählt inzwischen ihr Traditionsverband?“

      „Zweiundsechzig, aber…“

      Wagners Augen weiteten sich in Gemeinschaft eines milden Lächelns: „Aber?“

      Wohlfahrt überreichte Wagner die Bockwurst, strich die abgezählten Münzen ein, senkte die Stimme, obwohl sonst niemand im Raum verweilte: „Aber wir werden mehr und mehr, weil wir unser Aufgabenfeld aufstocken. Wechseln gar unseren Namen. Aber egal, welchen Namen das Kind am Ende trägt. Wir sind wild entschlossen. Wir gründen eine Bürgerwehr.“

      „Oh“, rutschte Wagner ohne Absicht heraus.

      „Wir Bürger setzen uns zur Wehr. Gegen alles, was unser schönes Leben zur Sau macht. Wir schaffen Ordnung, die Einhaltung von Prinzipien und eine Sicherheit, die jeder Bürger hochgradig fühlt. Und Sie, Herr Doktor, laden wir herzlich für diese Zukunft ein. Als geistigmoralische Speerspitze unserer Wertegemeinschaft. Sozusagen.“

      Der Augenblick überforderte Wagner. Betreten schaute er zur Seite, rettete sich alsbald in einen Blick zu seiner Armbanduhr.

      „Oh, gleich neun. Ich muss und möchte“, lächelte er gezwungen, probte einen Scherz: „Sonst entlässt mich der Herr Direktor in die Qualen des Nichtstuns.“

      Wagner steckte die Kaufware in die Aktentasche, die eine Flasche Mineralwasser barg sowie eine Laufmappe mit befristeten Leihgaben, die wertvollen Originalbriefe entstammten dem Wismerk-museum in Potsdam. Trotz fortgeschrittener Zeit wahrte der mittelgroß gewachsene, drahtige Mann mit den haselnussbraunen Augen, aufrechten Schultern und dem geradlinigen Seitenscheitel im volldunklen Haar das Spaziergängerartige. Fragen über das gerade Gehörte bedrängten ihn nicht, indessen plagte ihn seit Tagen die Problemstellung, ob seine bisherigen Erkenntnisse über das zwischenmenschliche Sündenregister im Wismerk-geschlecht einen größeren Artikel lohnt oder gar genug Stoff für eine Artikelserie bietet.

      Nach dem Schwenk in die Haupteinkaufsstraße postierte sich die Sonne grell vor ihm. Ihm schoss das Wort Himmelswächter in den Sinn, beschwingt dachte er, der Bote Gottes, was er uns täglich an irdischer Lebensfreude überbringt. Der Anblick dreier herumalberner Mädchen wärmte Wagner ebenso, zudem das Draufloslaufen eines Kleinkindes in Richtung eines älteren Mannes, der in gebückter Haltung die Arme weit ausstreckte. Wagner fiel auf, dass ein Eineuroladen eine Pelzboutique ersetzte und das Nachbargeschäft, dessen Auslage bislang hochfeine Schokoladen in eigener Manufakturherstellung anpries, eines Nachmieters bedurfte. Die Geschäftsaufgabe der Manufaktur für süße Augenblicke bedauerte Wagner, er verkehrte hier regelmäßig in kurzen Abständen. Nie verließ er das Geschäft ohne Biancoschokolade, in der

      Nuancen von Vanille und Honig den Duft frischer Milch anreicherten. Die Gaumenfreude streichelte Mon Lubanas Seele. Eine Tafelhälfte verschlang die junge Frau vor der beiderseitigen Willensbekundung, den Rest im Zuge innerer Nachbereitung.

      Kerngesunde Altbaumbestände von Eichen und Linden rahmten das Wendaler Preußenmuseum von drei Seiten. Der Backsteinbau mit Satteldach umfasste drei Etagen, vom Keller zweigte ein verschütteter Tunnel ins Unerforschte ab. Seitliche Ziergiebel, ein Turm mit einer Glocke und einer vergoldeten Wetterfahne sowie die Sandsteinfigur des Heiligen Mauritius am Nordgiebel reicherten die äußere Schlichtheit an. Die Eingangshalle bestach durch vier Kreuzrippengewölbe auf achteckigen Säulen, Fresken mit biblischen Themen erbaten eine aufwändige Restaurierung.

      Das Museum verkehrte in Augenhöhe mit den Schwestereinrichtungen in Potsdam und Köln, Wagners Veröffentlichungen in namhaften Publikationen mehrten den ausgezeichneten Ruf des Hauses unter Fachleuten. Die Besucherzahlen erlitten seit Jahren eine rückläufige Entwicklung, die als einzige Gegenmaßnahme mehrfach heraufgesetzten Eintrittspreise beschleunigten die Abwärtsspirale.

      Wagners Büro lag direkt über dem Schutzpatron, zählte mit seinen vier Fenstern zu den stattlichsten Räumen im Haus. Allein das Vorzimmer maß die Größe der zwei größten Mitarbeiterzimmer, die jeweils drei Schreibtische beherbergten. Nach dem Vorruhestand seiner Sekretärin Sieglinde Meyer standen Wagner seitdem Praktikantinnen mehr und weniger hilfreich zur Seite, ihre Eingewöhnungsphase durchlebte gerade Ariane Schönwald. Die Tochter des Geschäftsführers eines Großhandelsunternehmens glänzte mit einem Einskommanull-abitur, vor dem Studium der Politikwissenschaften und der Weltreligionen in München behagte ihr ein praktisches Jahr. Das Bewerbergespräch führte Wagner persönlich, Ariane überflügelte zwei auf dem Papier gleichwertige Mitbewerberinnen. Als Einzige mied sie einen kurzen Rock, ein munterer Schlagabtausch über die Politik der gegenwärtigen Bundesregierung überzeugte Wagner vollends. Nach Wagners Entscheidung bebte Ariane vor Begeisterung, sie lohnte ihm die Wahl mit einer stürmischen Umarmung und einem Wangenkuss. Ab dem ersten Arbeitstag glänzten ihr starrköpfiger Wahrheitsdrang und ihr findiger Recherchefleiß, Wagners Vorteilsnahme äußerte sich überdies in ihrer haushohen Überlegenheit im Gebrauch von Social Media. Tag für Tag behagte ihm zudem ihr abwechslungsreiches Outfit, schlichte Eleganz koppelte sie mit auffälligen Accessoires in Farbe und Form, die allesamt im Hochpreissegment siedelten. Ihren gruseligen Kaffee hakte er rasch als hinzunehmenden Übelstand ab, zuweilen dachte er frohgelaunt, sie kocht Kaffee in einer Art und Weise, dass mich jeder Schluck unweigerlich zu Mon führt.