Elmar Zinke

Elbland


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Wagners Schreibtisch dampfte der Kaffeepott, Arianes Computerausdruck seiner Tagestermine gestattete ihm nirgendwo eine Rückzugszeit für seine Liebe zum schrankenlosen Denken. Laut Plan traf um zehn Uhr eine chinesische Delegation ein, der Museumsdirektor halste Wagner das einstündige Herumführen auf, die Gruppe von Politikern und Wirtschaftsbossen einer wohlhabenden südchinesischen Provinz lotete die Ansiedlung einer Großproduktion von Haushaltshilferobotern mit dem Gütesiegel made in Germany aus. Als Begrüßungsgeschenk für die weitgereisten Gäste wartete eine voll erschlossene Gewerbefläche in riesenhaften Ausmaßen zum Nulltarif, zu den Mittwettbewerbern im Auswahlverfahren zählten nur noch Stuttgart und Hamburg.

      In der Mittagszeit standen in der Druckerei letzte Absprachen für die Neuausgabe des Museumsflyers an, für dreizehn Uhr lag von Baron Werner Wismerk aus gegebenem Anlass eine Einladung zu einem Umtrunk in handverlesener Gesellschaft vor, die Rückübertragung des Anwesens Schloss

      Döbbelau an die angestammten Eigentümer jährte sich zum dreißigsten Mal. Die Wochenbesprechung mit Museumsdirektor Professor Doktor Klaus

      Richter montags um fünfzehn Uhr bürgerte sich als feststehendes Ritual seit Wagners Arbeitsbeginn vor zehn Jahren ein, die Zeit im Anschluss blockte Ariane für ein persönliches Anliegen, Doktor Lukas Falter erwartete seinen langjährigen Schulfreund zur halbjährlichen Zahnreinigung. Ariane notierte auch derlei Privattermine in den Terminkalender, das Zusammensein mit Mon verwaltete ausschließlich Wagners Kopf. Wagner süßte den inzwischen halbkalten Kaffee nach und dachte, was für ein guter Tag. Vorausgesetzt, Lukas raubt mir nicht die Lebensfreude.

      Statt der Ankündigung von zehn Chinesen rollte eine schwarze Nobelkarosse mit vier Fahrgästen auf den gesonderten Parkplatz des Museums. Zu dieser Stunde stand auf der Schotterfläche nur Professor Doktor Egon Richters Auto, ein Mittelklassewagen mit Elektroantrieb. Wagner wartete den Gästen vor dem Eingang entgegen, ihre minutengenaue Pünktlichkeit freute ihn, im Anblick der Garderobe der Männer durchdrang ihn Unwohlsein. Durchgängig trugen sie tiefblaue Dreiteiler, die in modischen Experimenten Zurückhaltung übten. Sein Aufzug, Bluejeans und ein Langarmpoloshirt, wenngleich nach Mons Fürsprache in einer Nobelboutique der Stadt erstanden, kratzte an seinem Selbstwertgefühl. Noch am Morgen fühlte er sich überaus angemessen angezogen, letzte Prüfblicke vor dem Garderobenspiegel stärkten diese Ansicht.

      Die rettende Idee entsprang ihm während des Begrüßungskaffees im Konferenzraum, den drei hohe Fenster üppig mit Tageslicht ausstatteten. Wagner raunte Ariane zu, die Gäste ordentlich mit Nachschub beim Baumkuchen und bei den warmen und kalten Getränken in Laune zu halten. Verstohlen zog er sich zurück, eilte die Treppen hinab in den Keller. Sein Einfall hing griffbereit im Nussbaumschrank. Der blaue Rock, die gelbe Weste und die gleichfarbige Hose kleideten Wagner wie Maß genommen, ebenso die Stiefel und der Dreispitz. Die Schärpe, das Portepee, der Ringkragen sowie die Straußenfeder an der Hutkrempe vervollständigten den Originalaufzug, der Wagner bereits mehrere Male schmückte. Im Ankleiden dachte er über die letztmalige Nutzung nach, wahrheitsgetreu fiel ihm Sieglindes Abschiedsfeier ein.

      Mit gezücktem Säbel trat Wagner seinen Gästen entgegen, rief den allgegenwärtigen Flüstertönen zu: „Meine Herren, vor Ihnen steht ein preußischer Infanteriegeneral, bereit zum Kampf für Freiheit und Vaterland“.

      Die Chinesen, alle um die Fünfzig, lächelten feinsinnig mit reichlich Kopfnicken, spendeten höflichen Beifall. Während des Rundganges erwiesen sie sich als wache und dankbare Zuhörer, Wagners lobenswertes Englisch tat sein Übriges für bleibende Eindrücke. Zur menschengroßen Bronzestatur, Wagners Lieblingsort in seiner Arbeitsstelle, stieß die Gruppe nach einer halben Stunde.

      Wagner legte den Säbel auf die Schulter der Figur, redete sich ins Leidenschaftliche: „Nach der Katastrophe von Achtzehnsechs, dem Triumph Frankreichs über Preußen,

      marschierten alsbald erste Truppenteile des Siegers durch unser Land und sorgten für Angst und Schrecken. Allerdings strahlte auch Licht in jener Zeit, denn das französische Recht beschnitt die angestammten Privilegien der Gutsherrschaft in drastischer Weise. Dennoch begingen die Menschen Frankreichs Niederlage im Russlandfeldzug mit einem Freudenfest. Sodann schlug hierzulande die Stunde Null der Gebote Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Baron stürzte im Alkoholrausch von der Freitreppe und brach sich das Genick. Am Tage seiner Bestattung in der Gruft der ewig Schlafenden packten Freiheitsgeister das Zepter und riefen die Republik Elbland aus. Das Volk jubelte dem Neuen zu und die bisherigen Machthaber leisteten keinen nennenswerten Widerstand. Die Traumrealität einer Volksgemeinschaft im löblichen Sinne währte drei Jahre. Zerstörung erfuhr diese Staatsform nicht von außen, den Einmarsch von Truppen aus Berlin, sondern durch höhere Umstände. Eine Missernte folgte der anderen, die Menschen litten unter Hunger und Mangel, Verteilungskämpfe brachen aus. Und von außerhalb ereilte keine Hilfe. Die Republik Elbland schwappte zurück in ein Land voller Unzulänglichkeiten, wenngleich auch zuvor nicht ausschließlich Harmonie und Eintracht, all die guten Tugenden göttlicher Schöpfung, herrschten. Hoffnungslos uneins waren sich die Akteure im Bleiberecht für Neuankömmlinge, die zunehmend scharenweise aus halb Europa eintrafen. Der eine, nun ja, rechte Parteiflügel stempelte sie als zusätzliche Mäuler ab, die sozusagen Parteilinken hießen sie indessen als Aufbauhelfer mit eigenen Ideen willkommen.“

      Wagner dankte ohne übertriebene Höflichkeit für das geduldige Zuhören, die Entgegnungen der Gäste aus Fernost fielen einheitlich aus. Jeder der Vier zollte Wagner ehrlichen Beifall, das Lächeln drang zunehmend aus lebendigen Gesichtern. Wagner entging die feine Veränderung der Chinesen, begleitete sie bis zum Wagen. Der Fahrer, ein Chinese, sprang heraus, riss sämtliche Türen auf. Ein tiefes Verbeugen paarte ein jedes Hinsetzen auf die cremefarbenen Lederbezüge, Wagners Winken erwies den Gästen das letzte Geleit.

      Im Vorgefühl einer kleinen Schwäche wählte Wagner für seine Verschnaufpause die Treppenstufen des Museumseinganges, rauchte mit langen Zügen eine filterlose Zigarette. Eine Schulklasse der benachbarten Gesamtschule schlenderte vorüber, einige Mädchen schnitten Grimmassen.

      Die Lehrerin in Wagners Alter rief ihm fröhlich entgegen: „Das ist der Lauf der Menschheit, Herr Doktor. Zuerst erschuf der Mensch seine Kleidung und seitdem erschafft die Kleidung den Menschen.“

      Wagner lüftete vor Anerkennung seinen Hut, umgehend reichte er ihn samt Säbel und Portepee der Frau hinter der Kassenscheibe zur Aufbewahrung. Fast pünktlich eilte er zur Druckerei, die Robert Müller als beruflicher Quereinsteiger führte. Über Wasser hielt er seine Firma mit der Methode, Schwarzgeschäfte in Eigenkapitalspritzen zu wandeln. Wagner wünschte die neue Museumsbroschüre quadratisch, geheftet und mit Reliefdruck, beide Seiten erlangten rasch Handelseinigkeit, für das Museum als Großkunde forderte Wagner keine ruinösen Sonderpreise ein.

      Ein mausgrauer Elbsegler aus Schurwolle und Kaschmir staffierte den Chauffeur des Barons als ständiges Erkennungsmerkmal aus, an der Vorderseite der Mütze prangte in Zweieurogröße das Wismerksche Familienwappen. Erwin Feldmann wohnte in Wagners Straße, erwartete seinen Fahrgast vor dem Museum. Feldmann arbeitete einst als Traktorist in der landwirtschaftlichen Produk-tionsgenossenschaft, im Dienst seines heutigen Arbeitgebers verzehrte er sich seit der Jahrhundertwende. Die Folgen eines unverschuldeten Verkehrsunfalls banden seine Frau Rosemarie an den Rollstuhl, mühsam blendete er diese Schicksalstragödie aus. In Wagners Sichtnähe fing Feldmann mit dem Herbeiwinken an.

      „Der Rest der Uniform liegt schon im Auto“, rief er dem Fahrgast zu. „Ihre Kollegin war so freundlich.“

      Wagner pflanzte sich auf den Beifahrersitz, Feldmann lenkte das Auto bedächtig durch Straßen im Zustand von Flickschusterei.

      „Wie geht es Ihrer Frau?“, fragte Wagner zwischendurch.

      „Danke der Nachfrage. Ehrlich gesagt, sie verlässt kaum noch die Wohnung und leider schmerzen ihr die Augen beim Lesen immer mehr. All diese Einschränkungen fördern nicht gerade ihren Lebensmut.“

      Im Zustand von Bedrücktheit sagte Wagner: „Wissen Sie was? Ab morgen besucht Ariane, meine Praktikantin, jeden Tag Ihre Gattin. Liest ihr die Zeitung vor oder ein Buch und fährt sie ein wenig durch die frische Luft. Ariane verfügt über diesen Freiraum, weil ihr die Arbeit leicht von der Hand geht. Ich nenne zudem eine