Claus-Peter Bügler

Chong


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Hochtouren arbeitete. Fieberhaft suchte er nach einem Plan oder wenigstens dem Anzeichen einer Idee und er spürte, wie ihm die Zeit wie feiner Sand aus den Händen glitt. Er fühlte sich hilflos und zugleich auch wütend, denn es wollte ihm einfach nichts in den Sinn kommen, jedenfalls nichts Verwertbares, um den verdammten Zug aufzuhalten und damit die Katastrophe zu verhindern ...

      Ein älterer, hochgewachsener Mann in dunkler Uniform rempelte ihn im Vorbeirennen versehentlich an. >>Verzeihung<<, lispelte der Mann mit hochgezogenen Schultern.

      >>Sie sollten machen, dass Sie schnellstmöglich von hier verschwinden ... wird gleich 'nen Riesenknall geben ... << Ehe der Schaffner wieder verschwinden konnte, hatte Jamal ihn hart am Arm gepackt und ihm seinen Dienstausweis unter die Nase gerieben. >>Sie werden sich jetzt augenblicklich mit dem zuständigen Fahrdienstleiter in Verbindung setzen und ihn dazu veranlassen, dass dieser Gott verfluchte, mit Kerosin beladene Güterzug dort vorne weggefahren wird, weil sich ansonsten einige Hundert Tonnen Blech in seinen dämlichen Arsch bohren werden ... haben Sie mich verstanden?<<

      Der Mann nickte ebenso hastig wie verblüfft.

      >>Und noch etwas ... << Jamal reichte ihm sein Handy. >>Sagen Sie ihm, er soll sich beeilen ... uns bleiben ungefähr noch 30 Sekunden ... <<

      ***

      Chong hatte unterdessen die Avenue St. Etienne erreicht und freute sich bereits auf ein Wiedersehen mit jenem langhaarigen Zotteltyp von zuvor, doch es sollte völlig anders kommen ...

      Die Avenue lag geradezu ausgestorben und menschenleer vor ihm, doch etwas erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit: Rasch zog er sich in eine dunkle Nische zurück und verfolgte gespannt, wie — keine 20 Meter vor ihm — drei Männer eine junge Frau aus einem schwarzen Wagen zerrten. Wenige Augenblicke später schienen die vier Personen geradezu geisterhaft von der Bildfläche verschwunden zu sein. Chong wartete noch ein paar Sekunden, horchte aufmerksam in die ihn Stille und trat schließlich aus seinem Versteck hervor. Langsam und vorsichtig kam er näher.

      Hinter dem dunklen Wagen entdeckte er einen großen Gullydeckel, dicht am Rande eines kreisrunden, schwarzen Loches, das in eine schier bodenlose, undurchdringliche Tiefe zu führen schien. An der Wand des Schachtes befanden sich rostige, alte Sprossen. Chong setzte vorsichtig einen Fuß auf die oberste und stellte erleichtert fest, dass sie seinem Gewicht standhielt. Als er hinter seinem Rücken ein leises, tückisches Klick hörte wurde ihm siedend heiß klar, dass er einen fatalen Fehler gemacht hatte ...

      >>Du hast dir den falschen Spielplatz ausgesucht, mon Ami. Weißt du, was mit Leuten geschieht, die zu neugierig sind? Die verschwinden einfach von der Bildfläche ... tauchen nie wieder auf<<, flüsterte der Mann hinter Chongs Rücken gefährlich ruhig. Offensichtlich hatte der Kerl einfach in dem Wagen gewartet und nun zielte er auf Chongs Hinterkopf.

      >>Das muss sich erst noch rausstellen<<, erwiderte Chong gelassen, dann ließ er los ... und fiel wie ein Stein in die unergründliche, schwarze Tiefe.

      Er landete mitten in einer hüfthohen, nach Moder stinkenden Brühe. Mit den Händen rudernd ertastete er schließlich den Rand des Kanals, als ihm eine vorbeihuschende Ratte in den Arm biss. Fluchend zog er sich erschöpft auf den trockenen Beton hinauf. Ganz offensichtlich befand er sich in einem der Kanäle des städtischen Abwassersystems, doch die Dunkelheit ließ zunächst keine weiteren Rückschlüsse zu. Worauf habe ich mich da bloß eingelassen ... Han-Yeun wird mir die Augen auskratzen, wenn sie erfährt, wo ich mich gerade rumtreibe. Hoffentlich hat sie noch nicht zu Hause angerufen ... großer Gott ...

      Ein unangenehmes, beängstigendes Gefühl beschlich ihn mit einem Mal, während er hastig seine klammen Hosentaschen durchwühlte. >>Die Schlüssel ... verflixter Mist<<, fluchte er leise. >>Was, wenn einer dieser Mistkerle die Schlüssel gefunden hat ... und ... << Chong wollte in seiner augenblicklichen Lage jenen Gedanken nicht zu Ende denken, dazu blieb ihm auch überhaupt keine Zeit, denn über seinem Kopf erklangen plötzlich gedämpfte Geräusche, die ihm von Mal zu Mal näher erschienen — einer der Ganoven kletterte gerade den Schacht hinunter ...

      >>Salut, Chinamann<<, zischte der Kerl verärgert, als er sich auf den Boden hinabließ, um mit der freien Hand seine Waffe zu ziehen.

      Katzengleich stieß Chong sich von der Wand ab und duckte sich gerade noch im richtigen Augenblick, als mit ohrenbetäubendem Grollen eine Kugel über seine Haarspitzen hinweg pfiff.

      >>Was ist da los? Ihr beiden seht nach!<<, hörte Chong nicht weit entfernt eine dunkle Männerstimme brüllen und schon hallten ihm hämmernde Schritte aus einem der umliegenden, finsteren Gänge entgegen.

      Er wäre froh gewesen, wenn der Kerl vor seiner Nase nicht zum Schuss gekommen wäre, aber das war nun mal nicht zu ändern. Er verpasste seinem Angreifer blitzschnell einen Faustschlag auf die Nasenwurzel und platzierte einen weiteren in die Leber seines Gegners. Der Schlag ließ den Kerl mit weit aufgerissenen Augen zusammensacken.

      Aus der entgegengesetzten Richtung fielen plötzlich Schüsse in der Dunkelheit, laut und ohrenbetäubend. Kaum hatte sich Chong geistesgegenwärtig zu Boden fallen lassen, als auch schon die ersten Kugeln über seinen Kopf hinweg knallten. Aus der anderen Richtung hörte Chong mehrere Männer konfus durcheinander schreien. Irgendwo glaubte er auch die Stimme einer Frau zu hören und da endlich begriff er, was gespielt wurde: er lag genau zwischen den Fronten, denn aus dem dunklen Gang zu Chongs linker Seite ballerte irgendein Unbekannter wie verrückt in seine Richtung, während sich von rechts ein paar Kerle näherten, die einige Zeit zuvor eine hübsche Thailänderin hier herunter verschleppt hatten und mit den Typen war nicht zu spaßen.

      Das mörderische Stakkato einer MP5 mähte todbringend über Chong hinweg und im gleichen Atemzug schrie in der Dunkelheit zu seiner linken jemand gellend auf. Es war ein kurzer, greller Schrei, dessen schauriges Echo tausendfach von den Wänden widerhallte. Gnadenlos zerfetzte die Maschinenpistole weiterhin die Luft und Chong wurde mit Lichtgeschwindigkeit klar, dass er etwas tun musste, wenn er nicht von den Kugeln der langsam näher rückenden Kerle durchsiebt werden wollte. Er verwarf den Gedanken, einfach aufzustehen und schnellstmöglich den Schacht hinauf ins Freie zu klettern rasch wieder, denn noch ehe er die Straße erreicht hätte, würde man ihn abknallen wie einen alten Straßenköter. Also holte er tief Luft, schloss die Augen und rollte sich in die widerliche Brühe zurück. Während seiner Militärzeit in der Volksbefreiungsarmee, die nun schon etliche Jahre zurücklag, hatte er sich an so viele unangenehme Dinge gewöhnen müssen, die vermutlich jedem Normalsterblichen den Magen umgedreht hätten, dass ihm das Tauchen in jener Kloake fast schon paradiesisch erschien.

      Chong wusste, dass er ein Mensch ohne Vergangenheit war, denn sein Lebenslauf war genauso gefälscht wie sein Personalausweis, Geburtsurkunde sowie seine sonstigen persönlichen Dokumente. Niemand schien es zu kümmern, dass einige Jahre zuvor ein gewisser Li Chong Hanzhiou quasi aus dem Nichts aufgetaucht war. Niemand, nicht einmal Chongs derzeitige Frau ahnte etwas von seiner Vergangenheit und das war auch gut so, denn immerhin galt er seit zwölf Jahren als tot ...

      Chong tauchte ein langes Stück in jene Richtung, aus der der Pistolenschütze geschossen hatte, und nachdem er überzeugt war, dass der Typ von den MP-Salven getroffen worden war, zog er sich vorsichtig auf den betonierten Steg. Seine Hände ertasteten warmen, blutdurchtränkten Stoff. — Dem armen Teufel war wohl nicht mehr zu helfen.

      >>Hey, bleib stehen du Mistkerl<<, brüllte irgendjemand aus der Dunkelheit hinter ihm, gerade als die Maschinenpistolen für einen winzigen Moment ihr Todeslied unterbrachen, so als wollten sie noch ein letztes Mal Atem schöpfen, bevor sie Chong endgültig das Licht ausbliesen.

      Der Lichtstrahl einer Taschenlampe zielte plötzlich auf seinen Kopf und blendete ihn einige Sekunden, während er hörte, wie seine Verfolger neue Magazine in ihre Waffen schoben. Ohne zu zögern sprang er auf und rannte los, tiefer in den Gang hinein. Etliche Male stolperte, rutschte und stürzte er ziemlich schmerzhaft, stöhnte und fluchte, kam wieder auf die Beine wie ein Betrunkener und torkelte weiter. Urplötzlich ertastete er in der Dunkelheit zu seiner linken einen Spalt und zwängte sich hinein, als seine Verfolger erneut das Feuer eröffneten.