Claus-Peter Bügler

Chong


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über ihre Köpfe hinweg. Chong stellte beruhigt fest, dass der vor ihnen liegende Gang sich nicht weiter zu verzweigen schien. Die Decke befand sich nur wenige Zentimeter über seinem Kopf und die Luft roch schlecht, stickig und seltsam modrig. Noch immer waren sie gezwungen auf ihrem Weg über zahllose Gerippe und Knochen, die lautlos und geradezu gespenstisch den Boden förmlich pflasterten, hinwegzusteigen.

      >>Der Typ am Telefon ... wer war das? Kennst du ihn? Und wie kommt er ausgerechnet in deine Wohnung?<<

      Chong erzählte in knappen Worten von seiner Auseinandersetzung mit den Typen am Ufer der Seine. >>Der Rest war für den Kerl nicht schwer ... schließlich hatte Su-Lin mit schwarzer Tinte irgendwann Familiennamen und Anschrift auf die Innenseite des ledernen Schlüsseletuis gekritzelt.<<

      Mina schwieg nachdenklich. Bestand denn die ganze Welt nur noch aus gewaltversessenen Verrückten?

      Der Gang schien geradezu endlos zu sein. Chong hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren. >>Und das ist noch nicht das Schlimmste ... meine Frau — sie ist Stewardess — ist wahrscheinlich längst mit ihrem Flieger gelandet. Hoffentlich ist sie nicht ... << Chong schwieg, er wollte und konnte den Gedanken, der ihn gerade peinigte, nicht zu Ende denken. Im Licht der Taschenlampe wirkte sein Gesicht bleich, fast gespenstisch, mit sorgenreichen Ringen unter den sonst so freundlich dreinschauenden Augen.

      >>Psst ... war da nicht was? ... es hat sich angehört wie Schritte ... <<

      Beide lauschten angestrengt in die sie umgebende Dunkelheit und so sehr Chong auch den Lichtkegel der Taschenlampe umherwandern ließ, es war unmöglich irgendetwas zu erkennen.

      >>Vermutlich nur eine Ratte.<<

      >>Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, da ist jemand ... hinter uns<<, erwiderte Mina, doch Chong schüttelte den Kopf.

      >>Selbst, wenn uns jemand gefolgt sein sollte, so wird es Zeit, von hier zu verschwinden. Hier können wir nicht bleiben. Wir müssen weiter. Falls tatsächlich einer von den Kerlen mit den Maschinenpistolen sich an unsere Fersen geheftet haben sollte, hat er gegen unsere Beretta eindeutig bessere Karten in der Hand ... komm ... <<

      Der Gang machte eine weitere sanfte Biegung und endete schließlich vor einer offenstehenden, massiven Stahltür. Chong stach mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe in die Dunkelheit dahinter und stellte fest, dass vor ihnen ein kreisrunder, staubig-grauer Raum lag, dessen Grundfläche gut und gerne 20 Meter maß.

      >>Sieh' dir das an ... weißt du, was das ist?<< Er ließ den Lichtkegel langsam an der spinnwebenbehangenen, abgerundeten Wand in die scheinbar endlose, dunkle Höhe wandern. >>Die Wand verläuft konisch nach oben. Das Ganze sieht aus wie ein riesiger Betonkegel, den man vor langer Zeit in den Boden eingelassen hat.<<

      Mina folgte Chong in den Raum hinter der Stahltür. >>Du meinst ... ein Bunker?<<

      Chong nickte. >>Dort drüber ... schräg gegenüber ... ist sogar noch die alte, verrostete Stahlleiter an der Wand zu erkennen ... die führt nach oben ... <<

      >>Ins Freie?<<

      >>Möglicherweise ... ich werde raufklettern und nachsehen, ob es einen Weg nach draußen gibt oder nicht ... <<

      >>Kommt nicht infrage. Und ich soll in der Zwischenzeit allein hier unten rumhängen, oder was?<<, protestierte Mina energisch, doch Chong lächelte gelassen.

      >>Okay, okay ... ich bleib' hier unten und du kletterst ... aber es kann durchaus sein, dass die alten Sprossen unter deinen Füßen durchbrechen und dein hübscher Körper aus etwa 20 Meter Höhe wie ein Stein in die Tiefe fällt.<<

      >>Na schön, aber was, wenn ... <<

      Chong schnitt ihr mit einer wegwerfenden Handbewegung plötzlich und unerwartet das Wort ab.

      >>Hier ... für den Fall der Fälle<<, fügte er hinzu, nachdem er ihr kurz und bündig Beretta und Taschenlampe in die Hand geklatscht hatte, denn er hatte für sein Empfinden bereits genug diskutiert. >>Es wäre nett, wenn du mir mit der Taschenlampe ein wenig Licht spenden würdest, während ich nach oben klettere.<<

      >>Geht in Ordnung<<

      Mina richtete unvermittelt den Strahl in Chongs Gesicht. Der wendete sich geblendet ab und begann nun vorsichtig seinen Aufstieg an der alten Leiter.

      >>Kannst du schon was erkennen?<<

      >>Nur eine dunkelhaarige Lady, die zu viele Fragen stellt<<, hallte es von oben herab.

      Mina sah angespannt, dass Chong nun fast drei Viertel der Strecke hinter sich gebracht hatte, als ein Geräusch sie plötzlich herumfahren ließ. Das Geräusch ... es hatte sich angehört wie ... Atmen ... oder besser leises Keuchen, nicht sehr weit weg, aber auch nicht ganz nah ... Sie zuckte zusammen. Instinktiv spürte sie, dass sich in dem Gang, durch den sie gemeinsam mit dem Chinesen gerade erst auf den Bunker gestoßen war, irgendetwas Bedrohliches, Gefährliches befand.

      >>Hey ... lässt du Männer eigentlich gerne im Dunkeln stehen?<<, rief Chong verdutzt in die Tiefe.

      Doch Mina reagierte nicht, denn eine Gestalt schälte sich gerade vor ihren Augen wie ein dunkler, unheimlicher Geist aus der düsteren Umgebung heraus und bewegte sich auf sie zu. Wie hypnotisiert verfolgte Mina die Bewegungen des lautlosen Schattens, der sich zielstrebig auf sie zubewegte, als plötzlich etwas ihren Arm traf. Sie schrie laut und lang gezogen auf, denn die unheimliche Gestalt hatte sich mit einem Mal auf sie geworfen und hart zu Boden gerissen. Die Taschenlampe war ihr ebenso aus den Händen geglitten wie die Beretta.

      >>Was zum Teufel ... mein Gott<<, flüsterte Chong, als er nach unten sah und erkannte, was sich da am Boden abspielte.

      Mina lag am Boden und wurde gerade von irgendeinem Kerl, der rittlings auf ihr saß, ziemlich übel gewürgt.

      >>Lass' sie in Ruhe, du Mistkerl. Runter von ihr. Wenn du sie anfasst, schlag ich dir den Schädel ein ... <<

      Die Gestalt blickte ungläubig nach oben. >>Ach ja?<<

      Der Kerl löste seine Finger vom Hals der benommen daliegenden jungen Frau, doch nur, um nach der in der Nähe liegenden Beretta zu grapschen und die Mündung auf Chong zu richten. Chong hing unterdessen fast fünfzehn Meter über dem Boden an der Leiter und starrte wie gebannt auf den Lauf der Beretta, während die Thailänderin bewusstlos oder gar tot am Boden lag.

      Der Kerl spuckte verächtlich. >>Fahr zur Hölle.<<

      Chong zählte innerlich bis fünf. Er hoffte nur, dass es schnell gehen, dass die Kugel in sein Herz oder Hirn einschlagen würde, wenn der Typ endlich zum Abdrücken bereit war. Er schloss die Augen und erwartete das Ende, während er fühlte, wie ihm das Herz sprichwörtlich im Halse hämmerte. Dann gab es endlich einen ohrenbetäubenden Knall, als sich aus der Beretta ein Schuss löste.

      ***

      Acht Stunden zuvor im Sheraton Hotel, Paris.

      Der Mann, der gerade kritisch den Sitz seines Anzuges im Garderobenspiegel betrachtete, hatte volles, dunkles Haar, welches mit seinen geheimnisvollen, schwarzen Augen harmonierte. Sein Spiegelbild schenkte ihm schließlich ein zufriedenstellendes, entspanntes Lächeln und so zupfte er noch ein letztes Mal an seiner Krawatte, setzte als Teil seiner Tarnung eine Brille auf, die aus Fensterglas bestand und schenkte sich schließlich einen Whisky ein. Ohne Zweifel war er ein Orientale, doch die Angaben in seinem gefälschten Pass wiesen ihn als britischen Staatsbürger aus. Karem-Abu Jossr hatte mit jener Rolle kein Problem, denn neben nahezu akzentfreiem Englisch beherrschte er nicht nur vier weitere Sprachen fast perfekt, sondern er verfügte über eine sehr hohe soziale Intelligenz, was es ihm leicht machte, im Rahmen seines Planes einen Ungläubigen zu imitieren, der offiziell als Geschäftsmann unterwegs war. Schließlich trat er ins Schlafzimmer, um einen kleinen Radiowecker — ein Mitbringsel — auf sieben Uhr einzustellen. Er hatte weder vor in jenes Hotel zurückzukehren, noch wollte