Claus-Peter Bügler

Chong


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Kenntnis. Stattdessen fischte sie mit zittrigen Fingern das kleine, silbrige Telefon hervor und fühlte ihr Herz hämmern, als sie das Gespräch entgegennahm. >>Ja?<<

      >>Hallo Mina, Schätzchen<<, flüsterte eine raubtierhafte Männerstimme widerlich in ihr Ohr.

      Mina erstarrte, als ob man ihr einen Eimer mit Eiswasser ins Gesicht geschüttet hätte. >>Bertrand?<<

      >>Wir warten auf euch ... <<

      Dann wurde das Gespräch beendet.

      >>Jetzt wissen diese Typen, dass wir noch am Leben sind ... und ich fürchte, sie werden keine Ruhe geben ... <<

      Mina biss nervös auf die Unterlippe. >>Glaube ich auch<<, prognostizierte sie düster. >>Wir sitzen bis zum Hals in der Scheiße und haben uns verirrt … was machen wir jetzt?<<

      Chong überlegte angestrengt. >>Wir bräuchten irgendetwas zum Schreiben.<<

      >>Ich hab 'nen Lippenstift zu bieten ... hier ... falls du damit etwas anfangen kannst.<<

      >>Na, immerhin<<, flachste Chong. >>Könntest du dich mal umdrehen? Mit dem Rücken zu mir?<<

      >>Klar.<<

      Chong malte nun im Rückenbereich auf Minas Bluse ein kleines rotes Lippenstiftkreuz. >>Mal sehen ... hier ist die Avenue St. Etienne ... von wo aus wir unter die Erde gelangt sind ... <<

      >>Kannst du deine Karte nicht einfach irgendwo an die Wand malen, anstatt auf meine Bluse?, mokierte sich Mina.

      >>Kein Problem ... wenn du Hammer und Meißel bei dir hast, um die entsprechenden Steine frei zu klopfen ... <<, gab Chong lachend zur Antwort.

      >>Ich bin von einem gottverdammten Arschloch hier runter verschleppt worden<<, wechselte Mina frustriert das Thema.

      Chong dachte an den langhaarigen Kerl, der jetzt tot irgendwo in der Kanalisation lag, weit hinter ihnen.

      >>Und ich bin einem Arschloch gefolgt.<<

      >>Da haben wir vielleicht was gemeinsam<<, lächelte Mina mühsam.

      >>Übrigens ... du hättest das einfacher haben können: hier ... <<, fügte sie gelangweilt hinzu.

      Chong nahm irritiert das Handy entgegen. >>Und ... was soll ich damit?<<

      >>Internettaste drücken ... auf die entsprechende Seite gehen ... Namen der Stadt eingeben ... und schließlich Routefinder anklicken ... zum Beispiel<<, erwiderte Mina gleichgültig.

      Etwas anderes trat plötzlich in Chongs Bewusstsein und ängstigte ihn, etwas Unerklärliches, das im Zusammenhang stand mit seinem verlorenen Wohnungsschlüssel. >>Ich möchte kurz zu Hause anrufen, um meiner Tochter zu sagen, dass sie die Tür verriegeln und niemanden hereinlassen soll. Weißt du ... ich hab' nämlich meine Wohnungsschlüssel verloren, irgendwo am Seine-Ufer ... <<

      Chong wählte seine Nummer und horchte schließlich angespannt auf das dünne Piepen am anderen Ende der Leitung, doch es tat sich zunächst nichts. >>Nun geh' doch endlich ran. Geh' ran ... bitte<<, flehte er und spürte eine nie gekannte Angst sein Herz umklammern.

      Ein weiteres Piepen, mittlerweile schon das achte, erklang und Chong wollte gerade entmutigt die Verbindung beenden, als er bemerkte, dass am anderen Ende der Strippe endlich jemand den Hörer abgenommen hatte, denn er vernahm ein leises Atmen. >>Su-Lin? Schatz ... Liebling ... bist du's? Ich bin es, dein Knuddelpapi ... antworte doch endlich ... <<

      >>Dazu wird sie nicht in der Lage sein<<, entgegnete plötzlich eine kalte Männerstimme.

      Chong spürte, wie sich seine Wirbelsäule vom Hals abwärts in klirrendes Eis verwandelte. Es fiel ihm außerordentlich schwer, seine Stimme beherrscht und ruhig klingen zu lassen. >>Wo ist meine Tochter? Was ist mit meinem Kind? Wenn du ihr auch nur ein einziges Haar krümmst bringe ich dich eigenhändig um ... das verspreche ich dir ... <<

      >>Dazu musst du erst mal nach Hause kommen<<, unterbrach ihn der andere.

      Atemlose Stille.

      >>Ich warte auf dich<<, fügte die Stimme hinzu, dann wurde das Gespräch beendet.

      >>Verdammt<<, schrie Chong, als die Verbindung getrennt wurde und kickte in einem Anflug aus Wut und Verzweiflung einige umherliegende Knochen in hohem Bogen durch die Gegend, was ein gruseliges Knacken und Scheppern in der Dunkelheit zur Folge hatte. >>Verdammt ... verdammt ... verdammt ... <<

      Mina legte überraschend sanft ihre Hand auf Chongs Schulter. Er blickte auf, mitten in ihr hübsches Gesicht, doch gleichzeitig durch sie hindurch.

      >>Hey ... mach dich jetzt nicht verrückt ... es wird schon alles irgendwie gut gehen.<<

      >>Ja<<, erwiderte Chong ausdruckslos. >>Wahrscheinlich hast du recht.<<

      Er überlegte fieberhaft, wie er vorgehen sollte. Ihm war bewusst, dass er, falls er via Handy die Polizei hinzuzog, Gefahr lief seine Tarnexistenz zu verlieren. Die ganze Sache würde in den Medien erscheinen und früher oder später würden einige alte Bekannte wiedererkennen und Jagd auf ihn machen, doch dann wäre nicht nur sein eigenes Leben in Gefahr, sondern auch das seiner Familie. Andererseits ging es auch jetzt gerade um das Leben seiner Tochter.

      Schließlich fasste er einen Entschluss und begann auf dem Handy eine Nummer einzutippen.

      >>Was hast du vor?<< Mina starrte ihn mit ihren großen, dunklen Augen neugierig an.

      >>Ich werde jetzt die Polizei anrufen ... und ihnen sagen, dass sich bei mir zuhause ein gefährlicher Kerl aufhält ... und dass mein Kind in Gefahr ist ... <<

      >>Die Polizei?<<, warf Mina wenig erfreut ein.

      >>Ja, die Polizei ... ich weiß, dass du nicht unbedingt mit den Bullen befreundet bist, aber ich habe keine andere Wahl. Meine Tochter ist in Gefahr.<<

      >>Die Bullen. In deren Augen bin ich nichts. Eine wertlose dumme, kleine Schlampe ... sonst nichts<<, entgegnete Mina geringschätzig. >>Wahrscheinlich könnte ich auf offener Straße vergewaltigt werden und die ... <<

      >>So ein Mist<<, fluchte Chong dazwischen.

      >>Was ist passiert?<<

      >>Der Akku deines Handys ist leer. Heute geht aber auch alles schief ... << Chong reichte ihr das Telefon zurück. >>Und die Batterien der Taschenlampe werden auch nicht ewig halten. Wenn es uns nicht gelingt, einen Weg nach draußen zu finden, bevor die Maglite den Geist aufgibt, sind wir so gut wie tot ... <<

      Mina deutete im fahlen, staubigen Licht der Taschenlampe auf die unzähligen Seitengänge. >>Was nun ... wo lang ... irgendeine Idee?<<

      >>Wenn ich von der Skizze auf deinem Rücken ausgehe, dann müssen wir uns rechts halten, um zumindest in die Nähe einer U-Bahn-Station zu kommen ... <<

      >>Was nützt uns das?<<

      >>Ich bin mir nicht sicher ... wir könnten probieren, uns bis zu einer U-Bahn-Station durchzuschlagen ... vielleicht treffen wir unterwegs irgendwo auf eine Tür, ein Gitter oder etwas Ähnliches ... etwas, das wie ich hoffe die Katakomben mit den U-Bahnen verbindet ... <<

      >>Und der nächstgelegene, öffentliche Ausgang aus den Katakomben ... <<

      >> ... müsste nach meinen Berechnungen etwa drei bis vier Kilometer von unserem jetzigen Standpunkt entfernt in südöstlicher Richtung liegen ... wenig aussichtsreich, da wir nicht auf geradem Weg zum Ziel laufen können, sondern den Umweg über endlose Gänge nehmen müssen ... <<

      Schließlich entschieden sie sich für den zweiten Seitengang zu ihrer Rechten, der nach einigen Minuten flotten