Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit


Скачать книгу

Schuldigern zu vergeben!“ Es geht nicht mehr. Ich bringe keinen Hauch, keinen winzigen Laut mehr heraus. Fluchs wische ich mir eine weitere verlorene Träne von der Wange und sehe noch einmal auf das Grab. Ich sehe Bilder von meinem lachenden Vater, meiner fürsorglichen Mutter und dann… von Anna. Wie wir alle beisammen sitzen im Frühlingsgarten zu Ostern. Wie Anna und mein Vater über Fussball streiten oder meine Mutter ihr beibringt uns die geliebten Miesmuscheln „Rheinischer Art“ zuzubereiten. Meine Eltern liebten Anna wie mich ihren Sohn und manchmal sogar ein bisschen mehr. Doch war uns am Ende dann doch nur eine kurze Zeitspanne der Freude und Glückseligkeit vergönnt. Ich war gewiss nicht der Sohn, den ich meine Eltern hätte sein müssen, bei aller Mühe, die ich mir stets gegeben hatte. Meine Unangepasstheit, mein Streben nach Glück, meine Musik, meine Naivität all das waren schwere Klippen in unserer Beziehung, die wir immer wieder neu umschiffen mussten und nach der einen oder anderen Kollision nur mühsam hatten reparieren können. Ich war stets bemüht ihnen zu gefallen, aber ich war nie der, den sie sich gewünscht hatten. Ihrem Rat folgend hatte ich eine Ausbildung zum Bankkaufmann absolviert und wurde nicht Geowissenschaftler oder Archäologe, wie ich es eigentlich wollte. Es hat sehr lange gedauert, aber irgendwann musste etwas Aufbrechen und Transformieren in mir. Zu sehr war ich beseelt vom Wunsch nach Freiheit und der Streben danach nicht angepasst zu sein, nicht im Mainstream mitzuschwimmen, sondern das zu leben was mein Herz mir riet und nicht mein Versand oder meine Eltern. Dennoch liebten wir einander, ehrlich, aufrichtig und kompromisslos. So waren sie mir die Art Eltern, die sich jedes Kind wünschen sollte, trotz all ihrer Befangenheit und Begrenztheit. Selbst jetzt noch fühle ich ihre Wärme und Geborgenheit. Ein Friedhof hatte für mich früher immer etwas wie ein Menetekel. Man bekommt vor Augen geführt, wie endlich wir Menschen doch sind. Doch inzwischen ist ein Friedhof für mich eher wie ein Ort der Beseeltheit, ein Vorhof des Friedens und der Freiheit. Früher war ich nach einem Besuch von Grabstätten immer etwas traurig und apathisch. Heute ist mir ein Friedhofsbesuch eher wie der Besuch einer wohligen Heimstatt, hoffend, dass wir all die Menschen, die wir lieben und geliebt haben eines Tages wo auch immer wiedersehen. Auch wenn ich gottlos geworden bin nach all den Schicksalsschlägen, so suche ich doch Trost in dem Gedanken, dass wir irgendwann wieder mit denjenigen in Liebe vereint sein werden, die uns alles waren, mit Papa, mit Mutti und mit Anna. Doch Anna lebt ja hoffentlich noch, glücklich in einer besseren Welt als die, die ich ihr damals bereitet hatte. Wieder bebt mein Herz.

      Schweren Herzens und mit einer gehörigen Portion aufkeimenden Heimwehs nach Vergangenem breche ich mit wieder erwachten hämmernden Kopfschmerzen auf. Ich kann nicht bleiben. Ich darf nicht bleiben. Ich muss gen Süden, in die Heimat meines Herzens, in die Stadt meiner Sehnsucht.

      Ich verlasse den Friedhof mit einem letzten Blick auf den Strauss weisser Lilien und die helle Flamme der Kerze auf der Grabstätte meiner Eltern.

      Es ist mir schwer ums Herz und es fällt mir nicht leicht von hier wegzugehen, aber der weitaus schmerzlichere Teil meiner Reise steht mir erst noch bevor.

      Freundschaft

      Es gilt nichts zu beweisen

      Es gilt auch nichts zu zeigen

      Wahrhaftigkeit im Leisen

      Belastbarkeit im Schweigen

      Es gibt nichts zu begründen

      Es gibt auch nichts zu schämen

      trotz aller unsrer Sünden

      in festen Sockeln wähnend

      der echte Freund hält stille Wacht

      wenn es die Welt längst nicht mehr macht

      Das Lommerzheim in Köln Deutz ist wohl die ursprünglichste aller Kölschen Kneipen.

      Sowohl die Fassade, als auch das ganze Interieur haben für den Besucher scheinbar seit den Fünfzigern keine Veränderung erfahren. In dem nur gut fünfzig Quadratmeter grossen Schankraum scheint die Zeit stillzustehen und man fühlt sich zurückversetzt in eine andere Epoche. Es ist mal wieder übervoll und ich sehe Gerry, wie er sich durch den beengten Eingang quält. Wir lächeln uns an und er drückt mich fest, als er sich endlich zu mir durchgekämpft hat. „Schön dich zu sehen, Peter“, lächelt er mich an und ich nicke nur gerührt. Ich drücke ihm sein erstes Kölsch in seine warme Hand und hebe mein Glas: „Auf dich, Gerry. Danke, dass du Zeit hast!“.

      „Für dich doch immer, Peter“, antwortet er bevor wir beide einen kräftigen Schluck vom Obergärigen geniessen.

      „Du siehst beschissen aus, wenn ich das sagen darf“, flüstert mir Gerry zu.

      „Ich weiss. Du nicht!“, grinse ich zurück. „Alles gut zu Hause und im Geschäft?“

      „Ein ewiges auf und ab. Du kennst es ja“, antwortet er mit hochgezogenen Augenbrauen. Die laute Atmosphäre des Lokals, die sonst sicher aufregend uns spannend ist, stört uns heute ein wenig.

      Nachdem wir ein zweites und drittes Kölsch vernichtet haben, beschliessen wir, uns lieber bei einem Spaziergang an der Rheinpromenade der „Schäl Sick“ in einem ruhigeren Umfeld zu unterhalten. Vom „Lommi“ in der Siegesstrasse bis zur Rheinparkweg am Kennedyufer dauert es eine knappe halbe Stunde, vorbei an der Lanxess-Arena, dem Deutzer Bahnhof und dem eindrucksvollen Luxushotel Hyatt, bis dass man auf das immer wieder beeindruckende Panorama meiner zweiten gefühlten Heimatstadt blicken kann. Der illuminierte Dom hinter der Hohenzollernbrücke und die pittoresken Altstadthäuser mit Gross St. Martin sehen heute Abend besonders einladend aus und die Wehmut in mir wird nur gemildert durch die Anwesenheit des Freundes an meiner Seite.

      Gerry unterbricht meine stillen Gedanken beim Blick auf die vorbeifahrenden Schiffe auf dem still dahinfliessenden Rhein: „Du kommst nie drüber weg, oder?“ Ich schaue auf die vertraute Silhouette der Kölner Altstadt und senke meinen Blick auf das Funkeln von tausenden Lichtern im dahinplätschernden Strom.

      „Weiss nicht!“, antworte ich knapp. „Weisst du, Gerry. Du kanntest sie ja nicht, aber es ist nicht nur der unglaubliche Verlust, der mich quält. Es ist viel mehr als nur das.

      Wir haben uns geliebt, als wir uns trennten, verstehst Du. Es war die Angst um sie, es war die Ohnmacht, nicht kämpfen zu können weder für etwas noch gegen jemanden. Weisst du es gibt da einen Spruch: Das Paradies gibt sich erst dann zu erkennen, wenn man aus ihm vertrieben wurde. Das stimmt nicht. Ich liebte mein Paradies; ich wusste von Beginn an, wie gesegnet ich mit ihr war! Ich zermartere mir den Kopf bis heute auch nach all diesen Jahren, was ich hätte anders machen können oder gar müssen. Aber mir fällt nichts ein. Und bis heute ist es besser, dass ich nicht mehr in ihrem Leben bin. Sie hat mehr verdient als mich. Sie hat Glück verdient. Mein grösster Wunsch wäre es, wenn sie inzwischen ihr Leben befreit und glücklich leben kann. Das geht nur ohne mich. Auch wenn ich nicht weiss wo sie heute lebt, mit wem und wie. Sie ist in meinem Herzen und ich bekomme sie da einfach nicht raus. Vielleicht hast du Recht. Vielleicht komme ich nie darüber hinweg!“ Meine kalten Augen blicken auf die Züge, die die Hohenzollernbrücke überqueren, ankommen und abfahren.

      „Wo auch immer meine Reise hinführen wird, wo auch immer sie enden wird, Gerry.

      Du bist mir der einzige Mensch in den letzten drei Jahren, dem ich mich überhaupt öffnen konnte. Dafür danke ich dir von ganzem Herzen.“

      Er zog mich zu sich und schloss mich in die Arme. „Ich kann sie für dich finden!“, flüstert er mir ins Ohr. Er hatte das schon oft angeboten, aber ich hatte ihm verboten irgendwas in diese Richtung zu unternehmen. „Nein, Gerry! Immer noch nicht. Du weisst, dass das nicht geht! “, sagte ich ihm mit starrem Blick in seine Augen. „Nichts und niemand darf ihr Leben gefährden! Weder Du noch ich, niemand hörst du !“

      Gerry nickte: „Ich würde dir so gerne helfen, Peter. Aber du willst es nicht und ich weiss nicht, ob das überhaupt noch jemand kann. Eins sollst du aber auf jeden Fall wissen. Ich bin da, wenn du mich brauchst. Egal wann, egal wo, egal wie.“

      Ich entgegne ihm: „Danke, mein Freund. Das bedeutet mir sehr viel. Aber lass uns das Thema wechseln.“

      Wortlos gehen