Johannes Peter Zimmermann

Mund der Wahrheit


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auf, im Gegensatz zum versnobten Zürich. Ich freue mich eigentlich nicht auf meine Reise und doch wächst meine Aufregung immer mehr je näher ich dem Flughafen komme, während ich durch das St.-Johann- Quartier fahre. Nur noch ein kurzes Stück durch den Kreisverkehr am Kannenfeldpark, über die Flughafenstrasse am Grand Casino Basel vorbei und ich bin endlich da. Ich stelle meinen alten grobbereiften Gefährten ab und begebe mich über die Rolltreppe zum Check-in- Bereich im kleinen Terminal des Dreiländer-Airport.

      Ich atme durch. Die Unausweichlichkeit des Schicksals umarmt mich wieder.

      Es ist so weit.

      Ahnung

      Es modert, gärt unter der Rinde

      viel verdrängt und nebenher

      Borke brechend mit dem Winde

      fleht im Herz ein altes Kind

      und findet keine Heimat mehr.

      Muss raus, gibt unfein zu verstehen

      was die Seele noch nicht nennt

      bis sie sich ins Auge sehen

      zur wahren Wirklichkeit bekennt.

      Die wackere Maschine der SWISS setzt am frühen Vormittag holprig auf der regennassen Landebahn des Flughafens Köln-Bonn augflächen des Airbus A320-300 und neugierig blicke ich durch das kleine Bullauge des Fliegers. Neugierig betrachte ich die grossen und kleinen Maschinen aus aller Herren Länder, die an den Gates auf neue Passagiere warten. Fliegen macht mir nichts mehr aus, auch wenn ich nur noch selten in ein Flugzeug steige. Ich spüre keine Angst mehr, trotz allem was passiert ist. Unbewusst reibt meine linke Hand die Innenseite meines rechten Unterarms, wo sich unter meiner Kleidung mein altes Tattoo versteckt.

      41° 53’ 18’’ N 12° 28’ 53’’ O

      40° 42’ 42’’ N 74° 0’ 45’’ W

      Trotz all des Grauens und all des unermesslichen Abgrunds an menschlichem Wahnsinn bin ich inzwischen flugangstfrei. Nein- ich fürchte weder das Fliegen, noch das Landen; ich fürchte weder Tod noch Teufel, denn ich habe beide schon kennengelernt.

      Kaum hat das Flugzeug seine Parkposition eingenommen, lösen die wenigen Passagiere, vor allem Geschäftsleute hektisch ihre Sicherheitsgurte, quetschen sich aus ihren engen Sitzen und fokussieren sich wortlos darauf, wer nun als erstes sein Handgepäck aus den Ablagefächern hervorzerren darf, um so schnell wie möglich aus dem Flugzeug herauszukommen. Wie schon hundertmal vorher beobachte ich dieses hastige, eigenwillige Ritual und wundere mich immer neu über diese Spielart eines kollektiven Fluchtinstinkts. Endlich nehme auch ich mein übersichtliches Handgepäck auf und lasse mich nicht vom hektischen, irrationalen Herdentrieb um mich herum anstecken. Wie immer danke ich der Stewardess für ihren Service während des kurzen Fluges und steige vorsichtig die nasse Treppe der Gangway hinunter. Kalter köstlicher Regen prasselt mir erfrischend ins hagere Gesicht. Heimat. Endlich wieder Heimatluft. Gerührt und ein wenig feierlich setze ich meinen Fuss wieder auf rheinische Muttererde, beziehungsweise „Mutterasphalt“ , wenn auch nur für diese flüchtigen Stunden.

      Als ich damals als New York zurückkehrte war das dann doch noch etwas anderes gewesen. Wie ein Schiffbrüchiger, der den rettenden Strand erreicht, war ich damals niedergesunken und habe den heimatlichen Boden mit den Händen berührt, damals im September 2001. Ich nehme einen tiefen Luftzug rheinisch-regnerischer Luft. Es riecht nach Schmutz und Staub, nach Kerosin, Müll und Abgas und vielleicht sogar mit viel Phantasie nach einem Glas Kölsch. Sicherlich ist dieser Duft für die meisten eher unappetitlich im Vergleich zum Duft der Natur, den ich so gerne in meinen geliebten Schweizer Bergen einatmen darf. Und doch… Es ist ein vertrauter Geruch.

      An den Gepäckbändern und Flughafenshops vorbei bemühe ich mich, möglichst rasch zum Ausgang zu kommen und den Flughafen verlassen zu können. Das Terminal ist rappelvoll mit Menschen. Meine besondere Eile ist nicht unbegründet, denn es ist Beginn der Osterferien in Nordrhein-Westfalen und ich möchte tunlichst vermeiden, dass mich hier irgendjemand aus meinem früheren Leben per Zufall entdeckt. Ich habe keine Lust auf Kommunikation mit der Vergangenheit und kein Interesse am Aufreissen alter Wunden. Es hat unendlich lange gedauert, dass dünne Narben über die tiefen Wunden wuchern. Nichts und niemand soll diese zarte Heilung, diesen rissigen Schutzfilm wieder einreissen.

      Schnell tausche ich an einer Wechselstube ein paar Schweizer Franken in Euro. „Auch nicht mehr das, was es mal war“, kommentiere ich den Umrechnungszettel, den mir der Angestellte gemeinsam mit den bunten Geldnoten durch den Glasschlitz schiebt. Der Kurs des Euro ist eine Bankrotterklärung. Schon damals hatte ich mich gefragt, wie man Länder mit so unterschiedlichen Wirtschafts- und Sozialsystemen, diametral auseinander liegenden Mentalitäten in eine Währung zusammenpferchen kann, ohne dass irgendwer, irgendwann daran zu Grunde geht. Wie lange mag das wohl noch gut gehen?

      Aber Finanzwirtschaft ist nicht mehr meine Baustelle. Sollen sich doch die schlauen Leute in Brüssel und Frankfurt bei der Europäischen Zentralbank den Kopf über diesen Unsinn zerbrechen.

      Ich habe nicht viel Geld, lebe von den Hand in den Mund, darum macht mir das Fiasko um Griechenland, Italien, Spanien und demnächst wohl auch Frankreich keine Sorgen.

      Am Sixt-Schalter bedient mich ein junger Mann mit schwarzgefärbten Haaren und einem Stimmfall, der mir eindeutig bestätigt: „Ja, ich bin in Köln. Hauptstadt der Toleranz, Heimstatt unterschiedlichster Kulturen und das Woodstock homosexueller Orientierungen, wie im Fall des charmanten Sixt-Mitarbeiters. Ich miete mir einen Leihwagen der preisgünstigsten Kategorie und fahre bereits wenige Minuten später zu meiner grossen Überraschung mit einem flammneuen schwarzen Volvo XC 60 in Richtung nördliche Eifel. An so viel Komfort in einem Auto kann ich mich nur schwer gewöhnen, denn mein alter Land Rover Defender erinnert doch mehr an eine landwirtschaftliche Zugmaschine als an einen handelsüblichen Personenkraftwagen. Nach etwas Umgewöhnung auf den Linkslenker und einigen zähen Kilometern über die inzwischen weitgehend ausgebaute A4 mit ihrer Allee „Baum des Jahres“ passiere ich die Stadtgrenzen meiner eigentlichen Heimat im Dreiländereck Niederlande, Belgien, Deutschland. Ich bin wieder in Aachen.

      „Oche,“ dringt es mir in angestaubten Dialekt ehrerbietend über die Lippen, als ich im dunklen Mietwagen den großen Brunnen des Europaplatzes mit seiner haushohen Fontäne direkt zweimal umkreise.

      So beschaulich und dörflich wie ich das verträumte Städtchen in Erinnerung habe, ist es wohl auch nach einjähriger Abwesenheit geblieben. Selbst den zahlreichen Wochenendtouristen aus ganz Europa und der immens gestiegenen Zahl internationaler Studenten der Eliteuniversität RWTH gelingt es seit Jahrzehnten nichts und niemandem, die Ruhe und Eleganz aus dem mittelalterlichen Flair der pittoresken Altstadt zu vertreiben.

      Seit jeher zeichnet sich Aix-la-Chapelle, so der mir lieb gewordene französische Name Aachens, aufgrund seiner geographischen Lage und historischen Wurzeln bis zurück zum Kaiser Karl aus durch Weltoffenheit, Internationalität aber auch respektabler Provinzialität. Gerade so als wäre es dann doch eine Mischung aus Basel und Köln. Ich bin ein Fremder geworden für und in dieser Stadt. Niemand erwartet mich mit einem Orden „Wider den tierischen Ernst“, kein Komitee steht Spalier, um mir den „Karlspreis“ anzudienen und erst recht ist kein handverlesenes Gremium gekommen, um mir eine Schleife für einen Sieg beim CHIO ans Ohr zu Heften. Zum Glück. Meine Ankunft auch in der geliebten Heimat bleibt unbeachtet und unbemerkt. So wie mein ganzes Leben unbeachtet verläuft – zum Glück.

      In einer kreativen Gärtnerei in unmittelbarer Nähe zum Waldfriedhof bindet mir eine junge, adrette Floristin einen prachtvollen voluminösen Strauss weisser Lilien mit zwei roten Rosen, genauso wie auch Anna ihn immer liebte. Mit einem herzlichen Dankeschön und einem grosszügigen Trinkgeld für die attraktive Blumenfrau verlasse ich den schmucken Laden und haste ohne Eile zum Friedhofseingang. Der Aachner Waldfriedhof liegt im Süden des Stadtteils Burtscheid und ist um die dreissig Hektar gross. Seine Grösse geht zurück auf die im Raum Aachen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts grassierende Choleraepidemie, die hunderten Aachenern und Burtscheidern das Leben kostete. Zum Friedhof mit seinem alten Baumbestand gehört ein Ehrenfriedhof, auf dem unzählige